In Mittelosteuropa finden wir in zahlreichen Gebieten Zeugnisse deutscher Kultur und Geschichte. Die dort lebenden Deutschen prägten vielfach jahrhundertelang die kulturelle Entwicklung dieser Räume, beispielhaft dafür steht Polen. Der polnische Literaturwissenschaftler Zybura, heute Lehrstuhlinhaber für deutsche Literatur und Kulturgeschichte an der Universität Breslau/Wrocław, beschäftigt sich intensiv mit dem deutschen Kulturerbe in Polen, und zwar seit den Anfängen polnischer Staatlichkeit im Mittelalter. Sein Buch ist das Ergebnis langjähriger Forschungen zu diesem Thema, davon zeugen zahlreiche Publikationen in Polen. Seine Zielgruppe sind also die eigenen Landsleute und, mit gewichtigen Gründen, deutsche Leser. Nach wie vor liegt bei vielen Deutschen ein Nebel von Unkenntnis oder Halbwissen über den östlichen Nachbarn. Das kann dann zu Stereotypen oder Vorurteilen führen wie z.B. die »Polnische Wirtschaft«. Zyburas Streifzug durch die polnische Geschichte zeigt, wie eng die Verflechtungen zwischen Deutschen und Polen waren, beispielsweise in den Zentren Krakau und Schlesien.
Am Anfang dieser Verbindungen standen Könige und Adel sowie Kaufleute und Handwerker und in den Jahrhunderten bis zu den Teilungen gezielte Ansiedlungen von Bauern. Es überrascht die Fülle an gegenseitigen Kontakten. Zeugnisse des Prozesses einer wechselseitigen Angleichung sind unter anderem die zahlreichen Lehnswörter im Deutschen und im Polnischen. Vom Mittelalter bis in die Gegenwart gab es allerdings auch ernste Kontroversen und Kriege zwischen Deutschen und Polen, beispielsweise die Schlacht bei Tannenberg 1410 zwischen dem Deutschen Orden und dem polnisch-litauischen Königreich oder der Streit um die nationale Zugehörigkeit von Kopernikus und Veit Stoß. Auch die Marienburg und der Deutsche Orden werden unterschiedlich gesehen; Ostsiedlung oder Kolonisation sind ein weiterer Dissens. Einen absoluten Tiefpunkt und Zivilisationsbruch stellten die NS-Besatzungspraxis und der Holocaust dar. Hier ist die Beurteilung einhellig. Das gilt aber nicht für die ehemals deutschen Ostgebiete und den Begriff Vertreibung.
Diese Beispiele prägen bis heute das eigene Geschichtsbewusstsein. Hier wie dort gibt es Hardliner, die an den alten Deutungen festhalten. Das große Verdienst von Marek Zybura ist, dass er in seinem Buch viele dieser Kontroversen auf der Basis der neuesten Forschungen, an denen er selbst beteiligt ist, aus einer gemeinsamen und von beiden Seiten getragenen Perspektive heraus erläutert. Das Bemühen um Ausgewogenheit macht das Buch für Polen und Deutsche zu einem wichtigen Baustein in der Gestaltung ihrer nachbarschaftlichen Beziehungen. Kritisch vermerkt werden muss, dass der Text nicht durch Karten und Fotos verständlicher gemacht wird, gerade für deutsche Leser wäre das wichtig.
Zybura, Marek: Im gemeinsamen Haus. Zur Geschichte der Deutschen in Polen
Deutsch-Polnische Gesellschaft Bundesverband, Berlin 2019, 152 S.,
10,40 Euro | ISBN 978-3-00-061746-1
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