von Larissa Mass
1975 wurden Theaterpädagogen nach Kasachstan geschickt, um nach talentierten, deutschstämmigen Jugendlichen zu suchen. Die hohen Gremien der Sowjetunion hatten beschlossen, dass jede Minderheit im Land ihr eigenes Theater bekommen sollte, so auch die deutsche Minderheit, die nach Kasachstan deportiert worden war.
Die vier Protagonistinnen und Protagonisten werden als junge Schauspieltalente teilweise von ihren Bauernhöfen weggeholt. Sie können ihr Glück kaum fassen. Sie wagen sich nach Moskau an die renommierteste Schauspielschule des Landes und werden dort ausgebildet. Sie selbst sprechen kaum noch Deutsch, auch das müssen sie erst noch lernen.
Doch statt in der begehrten großen Metropole wird das Theater in Temirtau, einer Industriestadt im Nirgendwo, eröffnet, wo es eigentlich kaum ein deutschsprachiges Publikum gibt. »Stattdessen erwarteten uns Stahl, Rost, Kalk, Asbest, Zement und qualmende Schornsteine an der Seite von Hochöfen«, stellen die Jungschauspielerinnen und -schauspieler enttäuscht fest.
Eleonora Hummel wurde 1970 in Kasachstan geboren. Zehn Jahre später zog die Familie in den Nordkaukasus und siedelte danach nach Dresden um. Für ihren ersten Roman Die Fische von Berlin erhielt sie 2006 den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis. Darin thematisiert sie biografisch inspiriert die Umsiedlung einer russlanddeutschen Familie nach Deutschland in den 1980er Jahren. Auch in ihrem vierten Roman, dessen Auszüge ebenfalls preisgekrönt wurden, spielt die Aussiedlung nach Deutschland eine Rolle, jedoch erst zum Ende hin.
Vierzig Jahre umfasst die Handlung um die Theaterschauspieler, der Hauptteil spielt in Kasachstan und Moskau. Vor den Augen der Leser entstehen weite Steppen, die strengen Gesetze des Kommunismus, fordernde Moskauer Dozenten und graue Industriefassaden.
Eleonora Hummel erzählt diese Geschichte aus einer Vielzahl von Perspektiven. Hauptsächlich wechseln sich die vier Schauspielerinnen und Schauspieler ab. Sie erleben allerlei menschliche Dramen wie eine ungewollte Schwangerschaft, Militär und Eifersucht. Die etwas mehr als 450 Seiten sind dicht und stimmungsvoll geschrieben.
Viele Episoden wirken so absurd, dass man kaum glauben kann, dass sie auf wahren Begebenheiten basieren. Doch tatsächlich wurde 1980 in der Industriestadt Temirtau ein deutsches Theater eröffnet, das später in das heutige Almaty verlegt wurde. Dafür wurden junge deutschstämmige Russinnen und Russen rekrutiert – in erster Linie zählte der deutsche Hintergrund.
Die Charaktere des Romans sind fiktiv, basieren aber auf wahren Geschichten. Hummel hat Interviews mit früheren Schauspielerinnen und Schauspielern des deutschen Theaters geführt, hat persönliche Geschichten gesammelt und sie literarisch umgewandelt. Der Autorin ist es gelungen, einen Teil der Sowjet-Geschichte spannend umzusetzen und eine mitreißende Geschichte rund um die Russlanddeutschen, die »Wandelbaren«, zu erzählen.
Hummel, Eleonora: Die Wandelbaren
Müry Salzmann Verlag, Salzburg 2019, 464 Seiten
24,– EUR | ISBN 978-3-99014-196-0
»Bindeglied zwischen Deutschland und Russland«
Eleonora Hummel im Gespräch
Kulturkorrespondenz östliches Europa, № 1408 | Oktober 2019
Wie Goethe nach Almaty kam
Die wechselvolle Geschichte des Deutschen Theaters in Kasachstan
Kulturkorrespondenz östliches Europa № 1421 | Januar/Februar 2021