Von Ariane Afsari
Vier Frauen begeben sich innerhalb klassischer universitärer Lehrgebiete – Philosophie, Philologie und Naturwissenschaften – auf die Suche nach deutschen Einflüssen an der polnischen Universität Wilna Anfang des 19. Jahrhunderts und fördern bei aller Wissenschaftlichkeit viel Handfestes zutage. 1578 wurde die Akademie durch Stephan Báthory, zunächst Fürst von Siebenbürgen, ab 1576 gewähltes Staatsoberhaupt von Polen-Litauen, ins Leben gerufen. Nach den Teilungen Polens wurde sie 1803 von Zar Alexander I., in dessen Herrschaftsgebiet sie nun lag, neu gegründet. Als Kaiserliche Universität Wilna avancierte sie zur größten im Russischen Reich. Vor dem Novemberaufstand 1830/31 kam es hier zu einer Blüte deutscher Literatur, deren Träger hauptsächlich die Gesellschaft der Philomaten (Towarzystwo filomatów) war.
Getreu ihrer Eigenbezeichnung als »lovers of learning« hatten sich die Philomaten hehre Ziele gesetzt: Sie wollten alte und neue Sprachen lernen, ausländische Literaturen studieren, sich über das aktuelle kulturelle, gesellschaftliche und politische Leben in Westeuropa auf dem Laufenden halten. Ihren berühmtesten Vertreter, Adam Mickiewicz, können wir dank der Forschungen von Marta Kopij-Weiß dabei erleben:
»Fast immer stehe ich um vier Uhr auf – […] und bei Gott manchmal vor vier, und Kaffee trinke ich gleich nach fünf. Morgens bin ich damit beschäftigt, Manuskripte zu schreiben, mich in der deutschen Sprache […] zu üben, manchmal mit Balladen.«
Laut Kopij-Weiß, auf deren Beitrag über die deutsche Literatur in Wilna sich die Rezensentin konzentriert, gab es hauptsächlich drei Wege der Vermittlung deutscher Kultur: entweder direkt aus Deutschland, vermittelt durch deutsche Professoren an der Universität Wilna wie den herausragenden Altphilologen Gottfried Ernst Groddek (1762–1824). Oder durch die französische Presse, was bei der Dominanz der Sprache in Europa in dieser Zeit als natürlicher Weg galt. Aber auch über die russische Kultur, die über Wirtschaft und Wissenschaft eng mit der deutschen verflochten war und den modernen Literaturkanon durch zahlreiche Übersetzungen in die russische Sprache zugänglich hielt.
Interessant ist die Dichotomie innerhalb der Universität selbst. War der Gründervater, Fürst Adam Jerzy Czartoryski (1770–1861), ein enger Freund von Alexander I., überzeugt, zur Weiterentwicklung und Hebung des Niveaus der Bildung sei es unerlässlich, deutsche Professoren zur berufen, so strebte Rektor Jan Sniadecki (1756–1830) den Einsatz lokaler polnischer Gelehrter an, um den polnischen Nationalgedanken zu stärken.
Die vielen Zitate aus Briefen und Tagebüchern machen auch mit tröstenden Behelfslösungen bekannt, etwa dass gerade im Bereich der Philosophie oft auf erklärende und zusammenfassende Sekundärliteratur zurückgegriffen wurde. Oder sie geben Denkanstöße: Sollte Mickiewicz nicht eher als polnischer Schiller denn als Goethe gelten? Ein äußerst anregendes Buch, auch im Hinblick darauf, was an Lektüre zur Verfügung stand, wie sie beschafft, übersetzt, in Umlauf gebracht werden konnte, und wie weltoffen dieser Austausch am Vorabend zunehmend nationaler Bestrebungen vor sich ging.
Bednarczuk, Monika (Hrsg.): Kulturtransfer in der Provinz: Wilna als Ort deutscher Kultur und Wissenschaft (1803–1832). Mit Beiträgen von Monika Bednarczuk, Katarzyna Filutowska, Marta Kopij-Weiß und Mirja Lecke. Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2020, 251 Seiten
68,00 €, ISBN 978-3-447-11403-5