Der Diskurs über den Rausch habe immer einen globalen und zyklischen Charakter, ein Auf und Ab, das nicht unbedingt etwas mit dem realen Konsum zu tun habe, sagt Hasso Spode. »Thematisierungskonjunkturen« nennt der Berliner Professor für Historische Soziologie das. In der Moderne sei die Berauschung dabei vom Laster zur Suchtkrankheit uminterpretiert worden, heißt es in seinem Standardwerk Die Macht der Trunkenheit. Mit Renate Zöller sprach er über das Changieren zwischen zügellosem Trinken, Mäßigungsbestrebungen und der For-derung nach absoluter Abstinenz.
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Hasso Spode © Renate Zöller

Herr Spode, seit wann ist das Verhältnis zum Alkohol eigentlich so ambivalent?

In Stammesgesellschaften gab es diese Ambivalenz nicht; die Teilnahme am Trinkgelage war Pflicht, jedenfalls für die Männer. Tacitus schrieb spöttisch über die Germanen: »Im Trinken kennen sie keine Selbstbeherrschung.« Denn im Römerreich, wie in der gesamten Antike, wurde das Rauschtrinken zwar viel praktiziert, aber auch kritisiert. Den Begriff Alkohol kannte man nicht und schätzte die Wirkungen von Bier und Wein sehr unterschiedlich ein. Grundsätzlich aber war deren Konsum in das Prinzip »usus und abusus« eingebettet, also den vernünftigen Gebrauch und den Missbrauch. Aristoteles sprach in der Nikomachischen Ethik in diesem Sinne von der »Mesotes«, dem goldenen Mittelweg. Aber wie dieser konkret aussehen sollte, darüber stritten sich die Geister.

Martin Luther sprach vom deutschen »Saufteufel«, der erste Alkohol-Diskurs?

Diskurs ist viel zu harmlos. Das war die erste richtige Kampagne gegen das Saufen. Nicht gegen den Alkohol an sich, Luther war ja zeitweise Bierbrauer. Aber er bekämpfte das »Zutrinken und Bescheidtun«, das altgermanische Ritual, gegenseitig auf die Gesundheit anzustoßen, bis alle völlig betrunken unter dem Tisch lagen. Luther fürchtete, Gott würde die Menschen dafür grausam strafen. Es war der Beginn der Neuzeit, durch den Buchdruck konnten Luthers Thesen schnell verbreitet werden. Plötzlich wurde das exzessive Trinken zu einem gesellschaftlichen Thema. Luther selbst erkannte nach einer Weile, dass all das Wettern und Predigen nicht half, die Deutschen soffen weiter. Nach rund vierzig Jahren ebbte die Kampagne ab und die Leute kehrten zu den alten Trinksitten zurück.

Derweil brauten die katholischen Klöster Bier und der Messwein gehört zur Eucharistie …

Ja, Wein und Christentum gehören traditionell zusammen. Aber das hatte weniger mit Berauschung zu tun. Bier und Wein waren Nahrungsmittel. Das war auch vernünftig, denn das Trinkwasser war oft mit Keimen belastet. Und mit dem Alkohol bekam man die Keimzahl deutlich runter. Das war ein sicheres Getränk, die Leute haben es schon zum Frühstück getrunken.

Und wie sieht das mit Schnaps aus?

Um 1150 gelang es in Italien, Alkohol aus Wein zu destillieren. Zunächst wurde der »gebrannte Wein« für medizinische Zwecke gebraucht, er galt als »Aqua vitae«, als Lebenswasser. Man glaubte sogar, er sei ein Jungbrunnen. Dann drang er langsam in Europa vor. Neben den Weingegenden im Süden und den Biergegenden im Norden entwickelte sich eine dritte Trinkkultur, vor allem im östlichen Europa und in Skandinavien. Hier wurde der Schnaps zu einem gewöhnlichen »Getränk«, wie man andernorts befremdet feststellte. Zudem war er in der Schifffahrt und im Bergbau verbreitet.

Der »Grubenschnaps« wurde bis ins 20. Jahrhundert als Teil des Lohns ausgezahlt …

Ja, die Konnotation des Medizinischen hat sich nie ganz verloren. Bis heute wird Melissengeist von älteren Damen geschätzt, die irgendwie ein bisschen nervös sind. Ich vermute, dass die Bergleute weniger aus medizinischen Gründen mit Branntwein versorgt wurden, als deswegen, weil es eine sehr schwere Arbeit war, die man sonst nicht aushalten konnte. Sie müssen sich mal vorstellen, wie die Bergleute gearbeitet haben, in gebückter Haltung, kaum Licht …

Wann setzte sich die Erkenntnis durch, dass das Trinken zum Problem werden kann?

Die zweite Thematisierungskonjunktur nach der Reformation setzte um 1830 ein. Das war die sogenannte erste Mäßigkeitsbewegung. Da ging es nicht gegen Wein oder Bier. Man wollte die Bierproduktion sogar fördern, damit die Arbeiter weniger Schnaps trinken. Denn überall auf dem Land – besonders in Ostelbien – waren Brennereien für Kartoffelschnaps entstanden. Der billige Fusel wurde zu einem echten Problem, denn der konzentrierte Alkohol steigt ja schnell in den Kopf. So entstand eine Massenbewegung, angeführt von Kirchenleuten. In Mäßigkeitsvereinen schwor man feierlich, nie wieder dieses »teuflische Gift« anzurühren.

Die Mäßigkeitsbewegung endete abrupt 1848 in der Zeit der Revolution. Plötzlich hatten die Leute andere Probleme. Das war so eine typische Thematisierungskonjunktur, als man glaubte, das größte Problem ist der Branntwein. Und plötzlich sah man: Oh, es gibt ja noch ganz andere Probleme! Da bröselten die Vereine in Nullkommanichts weg. Die Leute schlichen wieder zurück zum Schnaps und der Verbrauch stieg auf neue Höhen, ohne dass darüber noch großartig geredet wurde.

Wann entstand die Idee, dass man besser überhaupt keinen Alkohol trinken sollte?

In den 1880er Jahren keimte die zweite Mäßigkeitsbewegung auf. Bald spaltete sie sich in »Mäßige« und »Abstinente«. Letztere waren überzeugt: Der Zerstörer der Welt ist der Alkohol, egal in welcher Form und Menge. Er verursache zahllose wirtschaftliche und gesundheitliche Schäden, darunter die Trunksucht. Das ultimative Argument der Prohibitionisten aber war die Degenerationstheorie: Wer Alkohol trinkt, zeugt Alkoholiker. Der Untergang der »Rasse« war damit vorprogrammiert. Dieser Teufelskreis musste im Sinne der Eugenik bzw. Rassenhygiene gestoppt werden, indem man den Alkohol »ausrottet« und die bereits Erbgeschädigten an der Fortpflanzung hindert, also einsperrt oder zwangssterilisiert.

Das klingt ja furchtbar, fast schon nach den NS-Rassegesetzen …

Nein, die richteten sich gegen Juden. Hitler verabscheute zwar den Alkohol und es gab ein Erbgesundheitsgesetz, aber die Eugenik war zunächst eine fortschrittliche Idee, ein linkes gesellschaftssanitäres Programm, heute würde man sagen: Public Health. Das erste rassenhygienische Forschungsinstitut saß im schwedischen Uppsala, gegründet von der sozialdemokratischen Regierung. Der führende Abstinenzkämpfer war der Schweizer Guttempler und Psychiater Auguste Forel. Der war Sozialist, Pazifist und Frauenrechtler. Zugleich setzte er sich für die Sterilisation von »Minderwertigen« ein, und damit waren besonders Trunksüchtige gemeint, die er als »Pestbeule am gesellschaftlichen Körper« titulierte.

Wurden seine Thesen im Sozialismus berücksichtigt, etwa in Russland oder der Sowjetunion?

Ja. Schon Kaiser Nikolaus II. hatte 1914 ein Alkoholverbot erlassen. Das hing mit der Mobilmachung im Ersten Weltkrieg zusammen, man hatte Sorge, dass die Kampfbereitschaft durch Alkohol beeinträchtigt würde. Lenin setzte dann das Verbot fort, diesmal um die Revolution nicht zu gefährden. Gehalten hat sich daran aber kaum jemand. Dazu kam, dass dem Staat jede Menge Steuern entgingen und viele Menschen ihre Jobs verloren hatten – in den Brennereien, im Verkauf und in den Lokalen. 1925 hob Lenin das Verbot auf. Erst 1985 kam es unter Michail Gorbatschow zu einer neuen Kampagne gegen den Alkohol.

Wie standen die anderen Länder im östlichen Europa zu diesen Ideen?

Interessant ist beispielsweise, dass Polen hier ambivalent ist. Einerseits war die Politik dort recht lax und es wurde traditionell viel getrunken. Andererseits gab es auch eine starke Mäßigkeitsbewegung, die auf die katholische Kirche zurückzuführen ist. In Schlesien – damals Teil des Deutschen Reiches – kam es 1844 zum Aufstand der durch die Textilfabriken verarmten Handweber. Doch für Schnaps reichte das Geld. Die katholische Kirche in Schlesien und in der Provinz Posen warb deshalb massiv darum, in Mäßigkeitsvereine einzutreten. Das begründete in der Region eine Antialkoholbewegung, die immer noch aktuell ist.

Auch in Deutschland wird derzeit empfohlen, gar keinen Alkohol zu trinken …

Wir erleben gerade wieder einmal eine Thematisierungskonjunktur. Wir hören in den Medien, dass jeder Tropfen einer zu viel sei, ganz so wie die Prohibitionisten behauptet hatten. In den 1960/70er Jahren hatten wir eine feuchtfröhliche Phase mit »Sex, Drugs and Rock’n’Roll«. Jetzt haben wir eine Phase der Selbstoptimierung, die von den Kindern und Enkeln der sinnenfrohen 68er-Generation getragen wird. Aber auch das wird irgendwann kippen. Denn beide Werthaltungen, ich nenne sie mal Hedonismus und Asketismus, haben ihre Berechtigung – sofern sie nicht übertrieben werden. Und damit haben wir den Bogen zu Aristoteles geschlagen. Ich denke, der beste Weg ist ein Mittelweg, die Mesotes.