Herr Schmeier, wo lernt ein deutscher Priester besser Polnisch, in der Bibliothek oder im Beichtstuhl?
(lacht) Beides würde ich sagen. Vor allem aber im Pfarrhaus. Ich kam 1996 als Seminarist für ein halbes Jahr ins polnische Priesterseminar nach Allenstein, um Sprache und Leute kennenzulernen. Eigentlich sollte mir jemand systematisch Polnisch beibringen, es fand sich aber niemand. Also habe ich Polnisch vom Hörensagen gelernt. Mir wurde gesagt, das ist der kubek, der Becher, und so weiter. Die Messe konnte ich ablesen und anfangs habe ich mich auf deutsche Gottesdienste konzentriert. Aber dann, irgendwann um die Weihnachtszeit, ging es los mit der Kolende …
… ein in Polen verbreiteter Brauch, dass der Priester in die Häuser und Wohnungen seiner Gemeindemitglieder geht …
Gedächtnis. Ich hielt mich dagegen an den geschriebenen Text. Gerade in den Anfangsjahren sprach ich in einem gebrochenen Polnisch, die pubertierenden Jugendlichen fingen während des Gebetes an zu lachen. Ich bin ruhig geblieben und sagte mir: André, da musst du durch. So lernt man Demut. Aber es gibt auch schöne Erinnerungen an die ersten Jahre. Ich war zur Kolende bei unserem jetzigen Küster und wir sprachen darüber, wie schwer es sei, Polnisch zu lernen. Er sagte, auch Deutsch sei eine schwere Sprache. Ich antwortete im Spaß: Das kann gar nicht sein, Deutsch kann nicht schwer sein, weil bei uns schon so kleine Kinder Deutsch sprechen. Das zitiert unser Küster bis heute. Aber in der Tat ist die polnische Sprache für mich Grundlage meiner Arbeit, die mittlerweile zweisprachig ist. Das knüpft an die Traditionen hier im Ermland an, gerade hier im südlichen Teil waren früher viele Ermländer zweisprachig.
Was war Ihre Motivation, als Seminarist nach Polen zu gehen?
Ich habe 1989 mein Abitur gemacht und stand dann vor der Frage, was ich machen sollte. Für mich war schnell klar, dass ich ins Priesterseminar gehen wollte. Als Hildesheimer Seminaristen hatten wir die Auswahl zwischen der Hochschule St. Georgen in Frankfurt a. M. und dem Theologiestudium in Münster/W. Ich habe Münster gewählt, noch nicht wissend, dass dort das Ermlandhaus ist, die Zentrale der Ermländer-Seelsorge in der Bundesrepublik. Beim lieben Gott gibt es ja keine Zufälle. Tatsächlich kommt ein Teil meiner Familie aus dem Ermland. Mein Opa ist 1920 in Heilsberg/Lidzbark Warmiński geboren. Ich bin bei meinen Großeltern aufgewachsen, da war das Thema Ermland, Ostpreußen, Heilsberg immer lebendig und gegenwärtig. Das fing schon bei den Bildern an, die zu Hause im Wohn-zimmer hingen. Aber er war kein Vertriebenen-Aktivist und ging auch nicht zu den Ostpreußentreffen. Während des Studiums habe ich das Ermlandhaus besucht. Nach der Wen-de habe ich mir 1992 gesagt: Nun möchte ich auch das Ermland sehen.
Als Heimattourist in der dritten Generation.
Ja, ich war der erste aus unserer Familie, der wieder in »unserem« Haus in Heilsberg war. Mein Opa besorgte sich ein Jahr später ADAC-Landkarten und ist mit 73 Jahren noch ein-mal ins Ermland gefahren. Ich verbrachte meine Sommer mit meinem VW-Käfer hier, fuhr auch mal nach Königsberg und habe dieses Land lieben gelernt. Nach der Wende konnten sich die hier gebliebenen Deutschen wieder zu ihrer Abstammung bekennen und organisieren. Auch gab es Anfang der 1990er Jahre einen Papstbesuch in Allenstein, in dessen Zuge konnte der erste offizielle deutschsprachige Gottesdienst nach dem Krieg stattfinden. Daraufhin wurde vom Bischof für jeden zweiten Sonntag im Monat eine deutsche Liturgie genehmigt. Das waren die Anfänge der deutschsprachigen Seelsorge hier. Gegen Ende meines Studiums stand die Frage im Raum, ob ich mir vorstellen könnte, ins Ermland zu gehen und für die deutsche Bevölkerung dort tätig zu sein. Ich dachte mir: Gerne, für zwei, drei Jahre schaue ich mir das an. Diesen April habe ich meinen 27. Weihetag hier feiern dürfen.
Das Ermland spielte historisch eine Sonderrolle: Es kam 1466 an Königlich Preußen, wurde der Krone Polens unterstellt und blieb nach der Reformation katholisch. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg hielt sich diese Sonderrolle.
Ja, Maximilian Kaller, bis zum Krieg der deutsche Bischof des Ermlands …
… dessen Portrait groß hier in Ihrem Büro hängt …
… kehrte 1945 nochmal ins Ermland zurück, doch der polnische Primas Kardinal August Hlond teilte ihm mit, der Papst habe ihm die Jurisdiktion entzogen. 1946 wurde Kaller daraufhin von Papst Pius XII. zum Päpstlichen Sonderbeauftragten für die Heimatvertriebenen berufen. Nach seinem Tod 1947 wählten die ermländischen Domkapitulare in den westlichen Besatzungszonen Arthur Kather zum Kapitularvikar Ermlands, wie es das Kirchenrecht vorsieht, wenn kein Bischof ernannt wird. Kather und sein Nachfolger vertraten das Ermland bei der Fuldaer Bischofskonferenz bis 1972 …
… dem Jahr der Zuordnung der diecezja warmińska, des Bistums Ermland, zu Polen.
In dem Jahr beendete Papst Paul VI. die Sedisvakanz im Ermland und ernannte wieder ei-nen Bischof. Dabei wurden die Grenzen des Bistums Ermland neu gezogen. Das zum Oblast Kaliningrad gehörende Gebiet gehörte nicht weiter dazu. Seit dem Krieg waren die einst deutschen Bistümer »nur« Administraturen, also vorläufige Kirchenprovinzen. Der Papst wollte bis zu der völkerrechtlichen Anerkennung der Grenzen keine kirchlichen Fakten schaffen. Der Vatikan führte nach dem Krieg bis zu den Warschauer Verträgen 1970 im päpstlichen Jahrbuch die Diözese Ermland, aber auch Breslau/Wrocław, als deutsche Diözesen. Erst seit 1972 konnte sich der Bischof als biskup warmiński bezeichnen, zuvor war er »nur« biskup w Olsztynie, also der Bischof in Allenstein. Seit 1992 ist das Ermland sogar eine Erzdiözese.
Was geschah derweil mit der Seelsorge der Ermländer in Deutschland?
Als es ab 1972 wieder einen neuen Bischof von Ermland gab, erlosch das Amt des Kapitularvikars in Deutschland. Es musste eine neue Bezeichnung gefunden werden. Prälat Hoppe, der bis dahin das Amt innehatte, wurde zum »Apostolischen Visitator für Klerus und Gläubige aus der Diözese Ermland in der Bundesrepublik Deutschland« ernannt. Er hatte die Jurisdiktion über die ermländischen Priester in Deutschland. Ähnliche Visitatoren gab es für Breslau und für Schneidemühl/Piła. Sie wurden von Rom ernannt und hatten anfangs noch Stimmrecht in der Deutschen Bischofskonferenz, das wurde im Laufe der Zeit beschnitten und mehr und mehr heruntergestuft. Man ließ 2016 die Ämter der Visitatoren auslaufen. Die Bischofskonferenz hat darauf gedrungen, die Vertriebenenseelsorge umzuwandeln, und es sollten sich kirchliche Vereine gründen. Das war ein Schritt, der nicht allen leichtgefallen ist, viele Heimatvertriebene haben sich von der eigenen Kirche verraten gefühlt.
Aber da waren Sie ja schon in Allenstein für die verbliebenen deutschen Ermländer da. Wie sieht das Gemeindeleben aus?
Es schrumpft, eine Entwicklung, vor der man die Augen nicht verschließen darf. Das betrifft auch die Ermländer in der Bundesrepublik. Ich empfinde das nicht als frustrierend. Ich nehme es mit den Worten des Papstes Benedikt XVI.: Wenn die Herde kleiner wird, bleibt eine kleine Gemeinschaft übrig, die wiederum das Salz für etwas Neues sein kann. Und solange es Menschen gibt, die gerne kommen und sich engagieren, mache ich weiter. Vereinzelt kommen auch neue dazu. Wir sind keine reine Minderheitengemeinde, sondern sind im Sommer auch für die zahlreichen deutschen Touristen da.
Was bedeutet Minderheitenseelsorge?
Das umfasst mehr als nur die wöchentlichen Gottesdienste, die wir an drei unterschiedlichen Orten haben. Es geht auch um die Gemeinschaft und die Pflege der kulturellen Identität. Ein Beispiel dafür ist ein Zitat von Alfons Nossol, dem Alt-Erzbischof von Oppeln/Opole. Er betont, wie wichtig die Sprache des Herzens sei und die Gottesdienste in dieser. An unserer Tür steht zwar noch »Seelsorge der deutschen Minderheit«, aber ich fasse das weiter und sage, wir sind die deutschsprachige Gemeinde im Bistum.
Klingt, als ob Sie für immer im Ermland bleiben, ist hier Ihre neue Heimat?
Obwohl ich nicht hier geboren und aufgewachsen bin, ist mein Lebensschwerpunkt ganz eindeutig im Ermland. Ich freue mich immer, wenn ich nach Deutschland fahre, bin aber auch froh, wenn es wieder nach Hause nach Allenstein geht, denn hier wurde ich geweiht. Ich gehöre nun ins polnische Ermland und der Erzbischof ist mein direkter Vorgesetzter. Einmal wurde ich gefragt, wo ich hingehöre, und da konnte ich keine eindeutige Antwort geben, aber die Frage beschäftigte mich. Und so kaufte ich mir in Bertung/Bartąg ein zwei Quadratmeter großes Grundstück. Auf dem Friedhof. Auch wenn ich zwischendurch wieder in Deutschland eingesetzt werden sollte, ist damit die Frage nach einer Rückkehr ins Ermland nun hundertprozentig beantwortet.