Frau Janowitz, als Ethnologin beschäftigen Sie sich mit den Ritualen und Bräuchen der Menschen. Ist das denn das Gleiche, nur anders ausgedrückt?
Ich würde die beiden Begriffe nicht als Synonyme bezeichnen. Rituale können sehr individuelle Handlungen sein, zur Ausübung von Bräuchen bedarf es dagegen einer Gruppe von Menschen, die gemeinschaftlich stark ritualisierte Handlungen begehen. Rituale sind also Teile von Bräuchen. Im Zuge eines Vortrags habe ich mich unter anderem damit beschäftigt, wie die Corona-Pandemie sich auf Rituale wie zum Beispiel das Händeschütteln auswirkt und was passiert, wenn das entfällt. Es verunsichert uns. Gerade am Anfang der Pandemie hat man nach Ersatzhandlungen gesucht, man denke an den Ellenbogengruß. Händeschütteln würde ich nicht als Brauch bezeichnen, es ist eine Handlung, ein Ritual. Die Handlungspraxis einer festgelegten Ordnung.
Brauchtum wäre nach dieser Vorstellung …?
Sagen wir: das Zusammengefügte. Es gibt verschiedenste Definitionen, aber ein Brauch ist immer etwas Wiederkehrendes, das sozial, regional verankert ist und einer Gesellschaft und einer Gemeinschaft Struktur gibt. Durch ritualhafte Handlungen wird eine Gemeinschaft und im weiteren Sinne die Gesellschaft geprägt und das ist, was ich als einen Brauch verstehen würde.
Wie entstehen Rituale und Brauchtum eigentlich?
Aus gelebtem Alltag beziehungsweise gelebten Alltagspraktiken. In der früheren Volkskunde – beson-ders in der Zeit der Romantik, aber auch im Nationalsozialismus – hat man oft versucht, an die Germanen anzudocken und bei ihnen den Ursprung von Brauchtum zu finden. Man suchte eine Kontinuität. Nach 1945 gab es einen Paradigmenwechsel, da wurde deutlich hinterfragt: Wer sind eigentlich die Trägerinnen und Träger eines Brauches und wie ist die regionale Verortung, was bedeutet dieser Brauch für die Gemeinschaft? Die Forschung ist dazu übergegangen, nicht mehr nach der Herkunft von Ritualen zu suchen. Denn es ist schwierig, diese zu belegen, es sei denn, ein Ritual ist erst in den letzten Jahrzehnten neu aufgekommen. Es gibt neue Bräuche …
… wie Halloween …
… ja, und auch alle Arten von Junggesellenabschieden. Da kann man genauer sagen, in welcher Zeit sie konkret entstanden sind und welche Personengruppen sie initiiert haben. Viele Rituale sind christlich geprägt, zumindest hier in Europa. Wenn man auf andere Weltregionen schaut, ist das anders. Christliche Feste bringen viele Brauchhandlungen mit sich, sei es Jahresfeste wie Ostern und Weihnachten oder aber auch sogenannte Lebensbräuche wie Taufen oder Hochzeiten.
Während Händeschütteln noch alltäglich ist, sind es Taufen und Hochzeiten ja nicht mehr.
Bräuche strukturieren nicht nur das Jahr, sondern auch das Leben von Menschen. Gerade in unsicheren Phasen geben sie eine gewisse Orientierung. Deshalb werden Umbruchphasen gerne von Bräuchen begleitet. Beispielsweise bei der Einschulung: In Hamburg etwa bekommen alle Schulkinder neben der Tüte auch eine Sonnenblume. Das macht sie stolz und ist eine Orientierungsstütze. So ein Brauch kann helfen, dann freut man sich auch auf diese ungewohnte Situation.
Wie steht es um die Quellen, wenn man sich dem Thema historisch nähern will?
Rituale sind Alltagsgeschichte und das kann die Quellensuche problematisch machen. Oft sind die Quellen keine auffälligen Gegenstände. Im Mittelpunkt steht, was im Alltag benutzt wurde und kaputt oder verloren gehen kann. Anders ist es bei besonderen Lebensfesten wie Hochzeiten, da wird gerne das Kleid aufgehoben. Auch gibt es Chroniken und Gerichtsakten, aus denen etwa Details zu Taufen und Eheschließungen hervorgehen. Bei unserer Ausstellung zu Bräuchen in Ostpreußen war die Suche schwierig. Ich habe versucht, Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zu finden, habe Gespräche geführt und hatte zusätzlich Glück: Das Institut für Volkskunde der Deutschen des östlichen Europa in Freiburg im Breisgau hatte bereits kurz nach Flucht und Vertreibung viele Tonaufnahmen gemacht. Da haben wir sehr viel Audiomaterial auch aus Ostpreußen gefunden. Ansonsten benutzen wir noch sekundäre Quellen, etwa Bücher zur Brauchtumsforschung, die bereits in den 1920er Jahren in Ostpreußen betrieben wurde.
Sie sprechen nicht von ostpreußischem Brauchtum, sondern Bräuchen in Ostpreußen.
Es gibt zwar Bräuche, die insbesondere in Ostpreußen begangen wurden. Der Schimmelreiterumzug ist so ein Beispiel. Er findet in den sogenannten Raunächten zwischen Heiligabend und dem Dreikönigstag statt. Diese sagenhaften Nächte drehten sich in der frühen Neuzeit ganz um den Aberglauben, um die Austreibung und Beschwörung von Geistern. In dieser Zeit hat dann auch der Schimmelreiterumzug stattgefunden. Er war sehr beliebt in Ostpreußen, aber auch etwa in Pommern. Vielmehr kommt eine individuelle Perspektive ins Spiel: Viele Bräuche sind sehr individuell und familiär geprägt. Man kann oft eher Gemeinsamkeiten von Familie zu Familie sehen als in jeweils abgegrenzten Regionen.
Aber Weihnachten ist doch ein Fest, das regional unterschiedlich gefeiert wird, oder?
Ja, aber auch da tue ich mich schwer, ein regionales Label draufzupacken. Bräuche und Rituale unterscheiden sich manchmal nur in Nuancen. In der volkskundlichen Literatur wird oft davon gesprochen, wie Rituale sich mitunter von Dorf zu Dorf ein wenig unterscheiden. Bei einem Schimmelreiterumzug lief ein Gendarm mit, bei einem anderen hatte der Führer des Schimmels die Rolle des Gendarmen.
Aber konfessionell gibt es doch Unterschiede bei Ritualen und Bräuchen?
Durchaus. Im katholischen Ermland war vieles anders gelagert als im restlichen protestantischen Ost-preußen. Was bei Bräuchen immer ein großes Thema ist: das Essen. Auch das hat mitunter konfessionelle Grenzen. Und es gibt auch definitiv sprachliche Unterschiede.
Und wie steht es um die Tradierung von Ritualen, gerade im Zuge von Flucht und Vertreibung?
Rituale und Bräuche sind identitätsstiftend, das haben die Landsmannschaften erkannt und nach dem Zweiten Weltkrieg sehr schnell versucht, Unterstützung zu leisten. Es wurden kulturelle Arbeitshefte herausgegeben, kleine Ratgeber für die vorweihnachtliche Zeit etwa. Das waren Ideensammlungen, wie man in der neuen Heimat seinen Weihnachtsbrauch weiterleben konnte. Die Landsmannschaften haben sich sehr stark engagiert, um diese Bräuche zu erhalten. Aber man stand vor dem Problem, dass Bräuche sehr von der Familie und auch von der kleinen dörflichen Struktur geprägt waren. Die war nach Flucht und Vertreibung zerstört. Das hat Bräuche stark verändert, denn einige von ihnen waren in der neuen Heimat überhaupt nicht bekannt, etwa der Schimmelreiterumzug oder das Schmackostern. Und die Zugezogenen lebten nicht mehr mit Menschen zusammen, mit denen sie diese Bräuche gemeinsam hätten begehen können.
Wie steht es um die Zukunft von Bräuchen in der digitalen Welt?
Rituale und Bräuche entwickeln sich immer weiter, denn auch unsere Gesellschaft entwickelt sich immer weiter. Es wäre doch total aus der Zeit gefallen, wenn ein Brauch immer so bliebe, wie er war. Aber es wird sie immer geben, sie geben dem Leben Orientierung. Und das ist auch das Spannende.
Haben Sie einen Lieblingsbrauch?
Ja, die Wässerung des Stinthengstes etwa. Der Fabel nach soll der Stinthengst der König der Fische sein und in den Masurischen Seen um Nikolaiken/Mikołajki für Fischreichtum sorgen. Jährlich wird dabei ein Holzfisch mit Goldkrone ins Wasser gelassen. Das ist eigentlich ein lokaler Brauch in Nikolaiken, aber weil Remscheid der Partnerkreis ist, wird auch dort so ein Stinthengst zu Wasser gelassen. Den zeigen wir übrigens auch in unserer Ausstellung.