Thomas Perle. Foto: © Volker SchmidtMehrsprachigkeit wurde Thomas Perle in die Wiege gelegt. 1987 in Oberwischau/Vișeu de Sus in Rumänien geboren, wuchs er dreisprachig deutsch-rumänisch-ungarisch in Deutschland auf. Er studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien und war neben dem Studium an mehreren Theaterhäusern engagiert. 2013 erhielt er den exil-Literaturpreis und weitere Auszeichnungen für seine Prosa und Dramatik. Mit seinem Stück karpatenflecken, das 2021 am Deutschen Theater Berlin uraufgeführt wurde und seit 2023 am Wiener Burgtheater gespielt wird, gewann er den Retzhofer Dramapreis. Seit Mai 2023 ist Perle Stadtschreiber des Deutschen Kulturforums östliches Europa in Temeswar/Timișoara. Im Gespräch mit Markus Nowak geht es um mehr als seine Eindrücke von der Kulturhauptstadt 2023.
Als Rumäniendeutscher sind Sie nun Stadtschreiber in Temeswar, ist das ein Heimspiel?
Ich komme aus den Waldkarpaten, aus der Maramuresch. Und jetzt hier im Banat zu sein, ist etwas anderes: Ich kannte Rumänien als bergiges, waldiges Gebiet. Hier ist es flach. Weite Felder überall. In den fünf Monaten als Stadtschreiber in der Banater Hauptstadt konnte ich eine neue Facette Rumäniens entdecken. Eine ganz andere als an meinem Herkunftsort im Norden Rumäniens.
Aus diesem sind Sie als Kind nach Deutschland übergesiedelt und leben jetzt in Österreich. Wie war es vor dem Hintergrund Ihrer Familiengeschichte, nun länger wieder »zurück« zu sein?
In meinem Blogeintrag mutterland habe ich versucht, meine Gefühle der ersten Wochen zu beschreiben, weil ich gemerkt habe, dass viel auch mit meiner Familiengeschichte verknüpft ist. Wir haben jeden Sommerurlaub in Rumänien verbracht, aber ich spürte gleich nach meiner Ankunft ein seltsames Gefühl, das ich nicht wirklich benennen konnte. Ein kleines Weh, mehr als Heimweh. Meine Eltern haben das Land, in dem ich jetzt bin, verlassen für eine bessere Zukunft für meine Schwester und für mich. Dadurch hatten wir mehr Chancen und ich konnte mir eine Karriere im Westen aufbauen. Meine Eltern haben ihr ganzes vertrautes Leben hinter sich gelassen und mussten sich ein neues aufbauen. Davon bin ich gebrandmarkt: eine Sehnsucht und Wehmut. Ich selbst bewege mich im Heute zwischen diesen beiden Welten, für mich ist das ganz normal. In der Generation meiner Eltern waren die Grenzen noch viel starrer.
Es war nicht Ihr erster Aufenthalt im Banat …
Ich war 2017 das erste Mal bewusst in Temeswar, da hatte ich ein Reisestipendium und war auf den Spuren von Herta Müller unterwegs. Ich war in Nitzkydorf/Nițchidorf, wo sie herstammt, und habe mich dort ein bisschen umgeschaut. Ich habe Temeswar als sehr, sehr heiß in Erinnerung. Im August waren es 46 Grad und keinerlei Schatten, das war mein erstes Bild von der Stadt. Aber auch schon da erlebte ich sie als sehr moderne Stadt, als eine Stadt im Wandel.
Wie erlebten Sie Temeswar heute?
Die Stadt ist sehr geschichtsträchtig. Man läuft jeden Tag »auf Geschichte«. Und sei es auch die Geschichte einer Stadt, die nicht mehr existiert, etwa durch Eroberung Temeswars 1716 durch Prinz Eugen von Savoyen. Die ganze osmanische Geschichte wurde mehr oder weniger weggewischt. Die Moscheen, die es gab, die organisch gewachsenen Straßen, alles verschwunden. Ganze Straßen wie ein schwäbisches Dorf nach einem Raster geplant und gebaut. Mauerreste von Basteien und der alten Stadtmauer, die geschleift wurden. Die wunderschönen Palais im Stil der Secession gebaut. Dazwischen hin und wieder ein kommunistischer Block. Egal, wo man ist, jedes Gebäude trägt so seine Geschichte.
Ist doch gut für die Inspiration des Dramatikers?
Ja. Ich mache Schreibworkshops, unter anderem auch mit Jugendlichen der Lenau-Schule. Dazu bringe ich immer eine Übung mit: Die Aufgabe besteht darin, alles aufzuschreiben, was man sieht. Neulich habe ich das mit den Jugendlichen auf dem Domplatz gemacht. In meinen Schreibworkshops versuche ich, einen Raum zum Denken und zum kreativen Schreiben zu schaffen. Anders als im regulären Unterricht, wo es eher um Auswendiglernen anstatt um freies Denken geht. Und so gehen wir an einen öffentlichen Platz und beobachten, lauschen. Welche Sprachen da gesprochen werden, welche Szenen beobachtet werden. Inspiration ist garantiert.
Apropos Sprachen, wie hilfreich sind Ihnen Rumänisch, Deutsch und auch das Ungarische in Temeswar?
Das sind alles drei Sprachen, die man tatsächlich auf der Straße hört. Und auch das Schöne, an das ich anknüpfen kann. Ich kann meine Muttersprache Rumänisch verbessern und vielleicht meinen deutschen Akzent darin verlieren. Und Ungarisch kann hier auch ganz nützlich sein. Neulich habe ich mit Mitgliedern der jüdischen Gemeinde auf Ungarisch gesprochen. Ganz toll war das Erleben meines mehrsprachigen Stücks karpatenflecken, als es auf Gastspiel hier in Temeswar war. Es ist quasi für diese Stadt geschrieben. Ich habe das noch nirgends so erlebt. Das ganze Publikum hatte diesen mehrsprachigen Background, den ich auch habe. Das war einzigartig. Nicht nur die Sprachen, sondern auch das Wissen um die ganze Geschichte, die im Stück verhandelt wird. Weil darin ein Teil ihrer eigenen Familiengeschichte verarbeitet ist.
Erkennen Sie nach einem halben Jahr in der Stadt eine spezifische Identität der Menschen?
Nein, dafür ist diese Stadt zu vielfältig, sie zieht so viele unterschiedliche Menschen an.
Spielt für die Menschen das deutsche Kulturerbe und die deutsche Geschichte eine Rolle?
Das Kulturerbe setzt sich fort und ist in der Moderne angekommen. Auch dadurch, dass hier viele deutsche Firmen angesiedelt sind. Die Stadt hat einen deutschen Bürgermeister. Viele Menschen schicken ihre Kinder auf die deutschsprachige Lenau-Schule. Die deutsche Sprache hat sowieso einen hohen Stellenwert, weil die Menschen darin Chancen für ihre Kinder sehen. Es gibt das Deutsche Staatstheater Temeswar, das durchaus zeitgenössisch ist. Hier werden nicht nur Schiller und Goethe gespielt, sondern auch Stückaufträge vergeben. Ich habe den Auftrag erhalten, ein Stück über die bukowinisch-jüdische Sängerin Sidy Thal zu schreiben beziehungsweise über das Attentat, das in der Stadt im November 1938 von der rechtsextremen nationalistischen Bewegung der Legionäre bei einem ihrer Auftritte in Temeswar verübt wurde. Ein historischer Stoff, den ich ins Heute hole. Einen Moment Stadtgeschichte. Inwiefern das auch deutsche Geschichte ist, habe ich mit dem Regisseur Clemens Bechtel näher erforscht. Auch gab es in der Stadt die Heimattage der Banater Deutschen, für die das deutsche Kulturerbe eine sehr große Rolle spielt. Worauf ich als Stadtschreiber hinterfragend geblickt habe. Denn meine Aufgabe als Stadtschreiber ist es ja auch, das gemeinsame kulturelle Erbe der Deutschen und ihrer Nachbarn in den Regionen Mittel- und Osteuropas bekannt zu machen und den kulturellen Dialog wie auch das gegenseitige Verständnis zu fördern.
Welchen Widerhall hat das Kulturhauptstadtprogramm?
Was ich erlebe, ist eine große Offenheit. Ich sehe viele Touristinnen und Touristen, viele touristische Gruppen und keinen Argwohn gegenüber diesen. Ich war auch oft im Theater und sehr erstaunt, dass so viele Menschen dorthin gehen. Das zeugt ja auch von Offenheit. Es ist ja nicht selbstverständlich, dass ein deutsches oder ein ungarisches Theater in einer mehrheitlich rumänisch sprechenden Stadt gut gefüllt ist. Das Kulturhauptstadtprogramm ist facettenreich. Es finden so viele Veranstaltungen statt. Man verliert beinah den Überblick. In der Stadt stehen zum Glück Aufsteller mit dem monatlichen Programm. Ich denke, das Kulturhauptstadtjahr ist eine große Chance für die Stadt. Hermannstadt/Sibiu hätte sich bestimmt nicht so entwickelt, wenn es 2007 nicht Kulturhauptstadt gewesen wäre. Und auch in Temeswar wird sich noch viel tun. Auch die beiden Extrajahre …
… wegen der Pandemie wurde das Kulturhauptstadtjahr von 2021 auf 2023 verlegt …
… hat man gut in die Vorbereitung gesteckt. Es hat sich sehr viel getan in den zwei Jahren. So eine Kulturhauptstadt, da geht ja auch viel Geld in Renovierungen. Vor allem in der Infrastruktur gab es Verbesserungen. Und die Verlegung des Hauptstadtjahres war auch mein persönliches Glück. Dadurch erst konnte ich zum Stadtschreiber ernannt werden und hier einen Teil meines Lebens verbringen. Eine Zeit, die ich sicher nicht vergessen werde und für die ich dankbar bin.