Die ersten fünf Lebensjahre verbrachte Bernd von Sydow, geboren 1939, auf einem landwirt-schaftlichen Besitz in Kalzig/Kalsk in der Neumark. Nach der Flucht fand die Familie eine neue Heimat in Gartow, Ostniedersachsen. Dem Studium der Landwirtschaft in Berlin und Bonn folgte die Promotion über Warenströme von landwirtschaftlichen Erzeugnissen und eine Stelle bei der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen in Rom. Daran schloss sich die Beamtenlaufbahn im Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft an, unterbrochen von insgesamt zwanzig Jahren als Agrarreferent an den Deutschen Botschaften Neu-Delhi, Peking, Warschau und Kiew. Seit seiner Pensionierung engagiert er sich unter anderem als Bundessprecher in der Landsmannschaft Ostbrandenburg/Neumark. Die Fragen stellte Markus Nowak.
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© Markus Nowak

Herr von Sydow, andere fahren an die Nordsee oder nach Norwegen, Sie zum Urlaub in die Neumark. Was treibt Sie dorthin?

Die Landschaft, die Luft, das Wasser, die Ruhe und die ganze Atmosphäre, die die Heimat ausstrahlt. Es ist keine Reise in ein fremdes Land, sondern eine Reise in die Vergangenheit. Wenn man dort geblieben wäre, hätte man auch nichts anderes gemacht. Man wäre spazieren gegangen, an hübschen Stellen verweilt, hätte Sehenswürdigkeiten in der weiteren Umgebung aufgesucht und alles auf sich wirken lassen. Das versuche ich nach wie vor zu pflegen. Zudem habe ich einen Freund in Polen, der mich stets aufnimmt. Er stammt aus dem Ort, aus dem auch ich komme, Kalzig/Kalsk im Süden von Ostbrandenburg/Neumark. Mittlerweile lebt da jetzt auch schon die dritte Nachkriegsgeneration, die haben ihre eigenen Traditionen. Aber sie sind sehr interessiert und ich werde oft nach Fotos und Beschreibungen von früher gefragt. Da tauschen wir uns aus.

Die meisten Deutschen aus der Neumark sind nach dem Krieg direkt über die Oder geflohen und dann in der SBZ, später DDR, geblieben. Sie aber nicht …

Ja, das ist leider die große Tragik. Die Menschen sahen und erlebten die Flüchtlingsströme und sagten sich: »Da möchte ich nicht dabei sein!« Dadurch blieben viele dort und haben fast ohne Ausnahmen Schreckliches durchmachen müssen. Dies ist auch der Grund, warum bei Kriegsende gerade im ostbrandenburgischen Gebiet im Verhältnis zur Bevölkerung so besonders viele Menschen umgekommen sind. Noch im Krieg hatte die Nazi-Regierung in Neuruppin und Rheinsberg Flüchtlinge aus meinem Heimatkreis eingewiesen.

Meine Familie ist zunächst nach Mecklenburg geflohen – und bald danach zu Verwandten in den Westen gezogen, nach Gartow an der Elbe in den Kreis Lüchow-Dannenberg, im Osten von Niedersachsen. Dort wurden wir als Flüchtlinge angesehen und behandelt. Da war die Erinnerung an die alte Heimat identitätsstiftend. Und es kam noch hinzu, dass zwei Bewohner aus unserem Heimatort mit uns gekommen waren und in unserem Haushalt lebten. Dadurch hatten wir so einen Mikrokosmos, der mit der Heimat verbunden war.

Wie sahen die Erinnerungen in diesem Mikrokosmos aus?

Ich kann mich natürlich an vieles nicht erinnern, ich war fünf Jahre alt, als wir auf die Flucht gingen. Wobei ich das Glück hatte, dass meine Mutter schon seit 1934 Schmalfilme gedreht hatte, die wir oft angesehen haben. Da vermischen sich meine Erinnerungen und die Inhalte der Filme. Aber dadurch habe ich doch eine Bindung mit dem früheren Zuhause. Mein Vater hat zum Glück den Krieg überlebt, im Gegensatz zu seinen beiden Brüdern. Er lebte sehr in der Erinnerung an unser früheres Zuhause und eigentlich fiel jeden Tag ein Wort über unseren Besitz und irgendwelche Dinge, die dort für ihn das Leben bedeutet hatten. Deswegen waren wir als seine Kinder sehr, sehr verbunden mit der alten Heimat. Mich hat es natürlich gereizt, sie mit meinen eigenen Augen zu sehen.

Sie wollten hinfahren?

Ich war schon sehr früh in der alten Heimat. Auch in einer Zeit, als das Reisen in den Ostblock eigentlich noch nicht möglich war. In den 1960er Jahren. Ich arbeitete bei den Vereinten Nationen und hatte einen UN-Pass, der mich berechtigte, auch den Osten zu bereisen. Ich machte eine Rundreise durch die Neumark bis nach Danzig und durch Pommern. Das war für mich ein großes Erlebnis. Es war noch sehr viel mehr Bausubstanz aus deutscher Zeit erhalten, als das heute der Fall ist. Unsere ehemaligen Wohn-, Stall- und Speichergebäude standen noch. So habe ich eine genaue Vorstellung davon bekommen, wie meine Großeltern und Eltern gelebt haben.

Wollten Sie selbst auch mal dort leben?

Ja, und ich hatte auch mal ein Haus dort, in Schönborn/Kępsko, dem Nachbarort von Kalzig. Das habe ich 1997 gekauft. Ich hatte ein kurzes Eheerlebnis mit einer Polin und über dieses familiäre Verhältnis konnte ich dort Immobilien erwerben. Die Absicht war ursprünglich, dass ich eine Wohnung in Berlin habe und ein Sommerhaus in der alten Heimat. Mein Ziel war es, dort wieder Fuß zu fassen – jedoch ist mir das nicht gelungen. Ich kann ein bisschen Polnisch, aber nicht sehr gut. Und dann ist das Kontaktknüpfen in diesem Umfeld sehr schwierig. Da muss man der Realität ins Auge sehen.

Abgesehen vom Immobilienerwerb in der Neumark widmen Sie sich ihrer Heimat auch institutionell …

Ja, über den Heimatkreis und die Landsmannschaft. Wir haben noch einen funktionierenden Heimatkreis Züllichau-Schwiebus. Sehr bald nach Flucht und Vertreibung hatten sich frühere Bewohner aus dem Landkreis zusammengeschlossen, um verstreute Familien zusammenzuführen, Freunde wiederzufinden und um regelmäßige Zusammenkünfte zu organisieren. Seitdem ist der Heimatkreis ein lockerer Zusammenschluss, das heißt eine lose, immer wieder zufällige Versammlung von Menschen, die früher dort gewohnt haben. Wir nennen sie »Landsleute«. Dort habe ich mich engagiert und in einem kleinen Leitungsgremium mitgemacht.

Unser Heimatkreis und 15 andere brandenburgische Heimatkreise aus dem Gebiet östlich von Oder und Neiße bildeten die Landsmannschaft Ostbrandenburg/Neumark. Unser sichtbares Zeichen ist die Stiftung Brandenburg in Fürstenwalde/Spree, die sich gänzlich auf die Region Ostbrandenburg/Neumark konzentriert. Das ist ein größeres Gebäude mit einem Museumsraum, einer umfangreichen Dokumentation und einem Vortragsraum, in dem Veranstaltungen stattfinden.
Mich treibt seit der Kindheit die Bindung an die Neumark, die Heimat, an. Und auch das Gefühl, dass man diesen wichtigen Teil unserer Geschichte nicht vergessen sollte. Gerade Ostbrandenburg droht bei den Landsmannschaften hinten runterzufallen. Jeder spricht von Schlesien, Pommern und Ostpreußen. Aber Ostbrandenburg und die mehr oder weniger deckungsgleiche Neumark kommen vergleichsweise weniger häufig vor. Daher finde ich es wichtig, dass wir uns engagieren.

Woran liegt es, dass die Neumark – wie Sie sagen – »hinten herunterfällt«?

Viele der Neumärker blieben, wie gesagt, in der DDR. Da wurde Flucht und Vertreibung ziemlich totgeschwiegen. Nach der Wiedervereinigung haben die Heimatkreise eine große Renaissance erlebt. Wir hatten über 3 500 Teilnehmer bei den Jahrestreffen des Heimatkreises Züllichau-Schwiebus, veranstaltet in Neuruppin im Norden von Berlin. Das hat demografisch über die Jahre abgenommen. Vor der Pandemie waren wir noch etwa 180, die sich jährlich getroffen haben. Aber jetzt ist der Kreis auf unter 100 zusammengeschrumpft. Außerdem haben die ehemaligen Neumärker verpasst, eine institu­tionelle Förderung zu bekommen. Die Schlesier, die Pommern und die Ostpreußen haben neben den Museen, Gebäuden und Seminarmöglichkeiten fest angestellte Mitarbeiter. Sie verfügen über Kapital und können dadurch sehr viel aktiver wirken. Das alles haben wir nicht. Das ist sehr bedauerlich und wir versuchen, da ein bisschen gegenzusteuern.

Gibt es Nachwuchs in der Landsmannschaft?

Das ist ein großes Problem. Wir haben leider keinen Jugendkreis. Da suchen wir noch nach Lösungen. Wir haben eine Gruppe auf Facebook gegründet – das ist ein Teil der Nachwuchsarbeit. Es wäre schön, wenn wir auf diese Weise an Interessenten herankämen. Die Stiftung Brandenburg und das Internet spielen bei der Erinnerung an die Heimat eine große Rolle. Aber lieber wäre mir eine persönliche Kommunikation mit den Menschen, als sich nur über Kommentare unter den Social-Media-Posts auszutauschen.

Wie steht es dann um die Zukunft der Landsmannschaft Ostbrandenburg/Neumark?

Es gibt einfach zu wenige, die sich da einsetzen und einbringen. Wir versuchen zwar, unsere Zeitschrift, den Ostbrandenburg-Neumark-Kurier, weiter herauszugeben. Der geht aber nur noch an 300 Adressaten. Viel größer sind die Auflagen der noch bestehenden Heimatkreise. Das sind oft auch die Nachkommen, die diese Heimatblätter lesen. Aber wir stehen kurz vor der Insolvenz und Aufgabe. Das ist bedingt durch den zeitlichen Abstand vom Zweiten Weltkrieg. Nur noch wenige haben Erinnerungen an die Heimat. Es gab schon immer Stimmen, die gesagt haben, man soll lieber aus einer gesunden Struktur heraus aufhören, als langsam wegzusterben. Wir haben regelmäßige Zusammentreffen im Bund der Vertriebenen. Da tauscht man sich aus und lotet aus, was möglich ist. Eine Idee ist zum Beispiel, uns an die Landsmannschaft Schlesien anzubinden. Im Moment versuchen wir, unsere Arbeit weiter aufrechtzuerhalten. Die Auflösung wäre sehr bedauerlich.