Wenn man über Migration rede, müsse man jede gesellschaftliche Dimension in den Blick nehmen, ob Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur oder Politik, sagt Prof. Dr. Jochen Oltmer. Seit 1995 ist der 57-Jährige Mitglied des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück. Sein Interesse gilt dem Wandel der deutschen, europäischen und globalen Migration insbesondere vom späten 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Mit KK- Redakteurin Renate Zöller sprach er über die Massenauswanderung Deutscher auch aus dem östlichen Europa im 19. Jahrhundert nach Übersee.
November 2022 – Kulturkorrespondenz östliches Europa № 1432
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© Michael Gründel/NOZ

Was waren das für Leute, die einst aufgebrochen und ausgewandert sind, etwa nach Übersee?

Über lange Zeit hinweg ging die Vorstellung um, Ausgewanderte aus Europa seien abenteuerlustige Menschen gewesen – aber von solchen Perspektiven ist die Forschung heute weg. Man muss sich vor allem mit der Frage beschäftigen, warum diese Menschen Europa überhaupt verließen. Die Antwort: Weil sie die Vorstellung hatten, andernorts bessere Chancen zu haben. Das konnten Erwerbschancen, Arbeitsmarktchancen, Heiratschancen oder Chancen auf einen besseren Lebensstil sein. Ob allerdings diese Vorstellungen am Ende auch umgesetzt werden konnten, ist eine ganz andere Frage. Klar ist: Migration ist ein Normalfall seit Beginn der menschlichen Existenz. Egal, wohin wir schauen, in welche Zeit und welchen Raum, immer findet Migration statt. Mal sind es größere Distanzen, mal eher kürzere, manchmal sind es besonders umfangreiche Bewegungen, über die intensiv diskutiert wurde, manchmal beobachten wir, dass aus einem Herkunftsland ein Ankunftsland wird.

Die Emigration zu Schiff auf einen anderen Kontinent – das war doch eine ungeheuer große Entscheidung …

Die Vorstellung, dass die Auswandernden im 19. Jahrhundert mehrheitlich in eine ganz unbekannte Fremde gingen, ist nicht richtig. Der überwiegende Teil der Migrierenden, die Europa im späten 18., im 19. und im frühen 20. Jahrhundert verließen, war nicht ganz arm, aber auch nicht im Entferntesten wohlhabend genug, um ohne Unterstützung auszuwandern. Auch deshalb gingen Menschen in der Regel dorthin, wo bereits Verwandte oder Bekannte lebten, die diese Unterstützung leisten konnten. Wenn man genau hinschaut, sieht man also Migrierende, die zwar Tausende von Kilometern absolvieren, sich aber dennoch innerhalb ihrer verwandtschaftlich-bekanntschaftlichen Netzwerke bewegen: Gehen sie an den Missouri, kennen sie die Leute dort, kommen aus derselben engeren Region, haben dieselbe Konfession. So lebten etwa die Mennoniten aus den Gebieten nördlich des Schwarzen Meeres auch in den USA in ihren Gemeinschaften weiter.

Gab es dann überhaupt ein Zusammengehörigkeitsgefühl der deutschsprachigen Menschen in Amerika?

Bei dem größten Teil der Menschen, die aus Deutschland in die USA kamen, gab es bis zur Reichsgründung keine Vorstellung, Deutsche zu sein. Wesentlich wichtiger war die lokale Bindung. Auch eine regionale Identität konnte eine gewisse, wenn auch nachrangige Rolle spielen – dass man sich als Westfale oder Schlesier verstand. Bei der Ankunft in Amerika musste man angeben, ob man aus Preußen, Russland oder Baden kam. Aber das waren rein administrative Kategorien. Erst im späten 19. Jahrhundert gewann das Bewusstsein an Bedeutung, Deutsch-Amerikaner zu sein, eine Zugehörigkeit zum Bindestrich, wenn man so will. Mit dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg allerdings wurde der Druck sehr groß, der Bindestrich und die Berufung auf das Deutsche mussten verschwinden. Die Deutschen sprachen zwar zu Hause häufig noch lange ihre Muttersprache, diese aber war seither nicht mehr in der Öffentlichkeit präsent.

Wie kamen Menschen überhaupt auf die Idee, sich auf die große Reise zu machen?

Besonders wichtig sind die sogenannten »Auswandererbriefe«. Man muss sich diese Briefe vorstellen als Instrument zur Vermittlung von Chancen und Risiken der Migration, verbunden mit konkreten Handlungsanweisungen. Wahrscheinlich sind während des 19. Jahrhunderts hundert Millio­nen Auswandererbriefe aus den USA nach Deutschland und etwa eine Milliarde nach Europa geschickt worden. Sie bieten neben Klatsch und Tratsch – wer hat geheiratet, wer ist gestorben, wer ist gerade angekommen – ganz wesentliche Informationen über Chancen in den Zielgebieten. Berichtet wird über Schweinepreise oder was ein junger Tagelöhner aus Russland, der eine gute Konstitution hat, in den USA verdienen kann. Dann gibt es ein drittes Element: die Navigationsfunktion. Da steht zum Beispiel: »Fahre besser über Hamburg. Wir haben diesen Weg gewählt und es hat alles funktioniert. Dahin fährt dieser und jener Zug und am besten wendest du dich an den Agenten der Hapag …«

Welche Rolle spielten diese Agenten, etwa der Hamburg-Amerika-Schiffslinie Hapag, die ja zu dieser Zeit, 1847, gegründet wurde?

Während des 19. Jahrhunderts wurde das Auswandern immer stärker zu einem Geschäft. Allein im 19. Jahrhundert haben über sechzig Millionen Europäerinnen und Europäer den Kontinent verlassen, das bedeutet gleichsam einen riesigen potenziellen Kundenstamm. Hinzu kam eine immense Konkurrenz zwischen den verschiedenen Schifffahrtsgesellschaften, diese Menschen an Bord zu holen. Britische, französische, deutsche und norwegische Agenten der Reedereien arbeiteten gewissermaßen wie Reisebüros. Deutsche Schifffahrtsgesellschaften waren besonders erfolgreich. Sie boten für relativ wenig Geld und gute Konditionen eine Möglichkeit, über den Atlantik zu kommen. Deshalb fuhren Menschen aus Südost- und Osteuropa mehrheitlich über Hamburg oder Bremerhaven nach New York.

Wurde auch in Osteuropa angeworben?

In Russland war Auswanderwerbung verboten. Die Schifffahrtsgesellschaften konnten also nicht so offen agieren wie beispielsweise in Österreich-Ungarn.

Wie lief das Anwerben dann dort, waren Verwandte dort noch wichtiger?

Immer, auch anderswo! Es gab im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert eine breite Diskussion über das sogenannte »Agentenunwesen«; die »Auswanderungslust« werde erst durch Agenten geschürt. Dabei kamen Informationen über die Situation in Kanada, Argentinien, den USA oder anderswo vor allem durch Bekannte, Familienangehörige oder Freunde nach Europa. In der Regel waren es also nicht die Agenten, die Auswanderung motivierten, sondern die für vertrauenswürdig gehaltenen Informationen von Verwandten und Bekannten, die schon ausgewandert waren.

Wieso gab es diese Diskussionen? Haben die Auswanderungen aus Europa und Russland die dortige Wirtschaft geschädigt?

Das wurde unterschiedlich gewertet. Im 19. Jahrhundert verdreifachte sich die europäische Bevölkerung – und die Möglichkeiten, Erwerb zu finden, wuchsen nicht in im gleichen Maße. Das starke Bevölkerungswachstum bedeutete vielfach Unterbeschäftigung und Massenarmut. In dem Kontext wurde die Auswanderung von den Obrigkeiten als ein Beitrag verstanden, die soziale Frage nicht zu einer Revolution eskalieren zu lassen. In Westeuropa herrschte lange die Vorstellung, die Auswanderung sei ein Ventil für einen sozialen Dampfkessel unter hohem Druck. Auch in Russland war das Bevölkerungswachstum groß und die soziale Frage massiv, jedoch blieb dort die Idee, dünn besiedelte Gebiete aufzusiedeln, um expandieren zu können, wesentlich länger als in Westeuropa in den Köpfen der Obrigkeiten verankert. Das »leere Land« müsse gefüllt werden, deshalb sei Auswanderung schädlich. Es ging darum, mit Menschen die kolonialistische Expansion in Richtung Kaukasus, Zentralasien oder Sibirien weitertreiben zu können.

Besiedlung und Kolonialisierung liegen offenbar nah beieinander …

Die Migration von sechzig Millionen Europäerinnen und Europäern lässt sich nicht verstehen, ohne die kolonialistische Expansion Europas. Die Kehrseite der europäischen Migration ist, dass in den Zielgebieten die dort lebende Bevölkerung marginalisiert und umgebracht wurde. In Argentinien etwa wurde die einheimische Bevölkerung immer weiter in Richtung Feuerland, also gen Süden vertrieben. In den Zielgebieten war die Vorstellung weit verbreitet, die »weiße Einwanderung« müsse gefördert werden. Um Einwanderer gewinnen zu können, wurden beispielsweise günstige Reisekosten und gute Ansiedlungsbedingungen geboten. Der Boden, der den Immigranten so günstig zur Verfügung gestellt wurde, war zuvor den Einheimischen abgenommen worden. Die Vorstellung, die Siedler würden »leeres Land« aufsiedeln, war eine Fiktion. Die Ankunftsregionen waren nie leer – weder nördlich des Schwarzen Meeres noch in den Gebieten, die Österreich im Krieg gegen das Osmanische Reich erobert hatte, noch in Nord- oder Südamerika.

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Titelblatt: KK – Kulturkorrespondenz östliches Europa | Ausgabe: Nr. 1432: November 2022Der Artikel erschien im Magazin
KK – Kulturkorrespondenz östliches Europa
Ausgabe Nr. 1432 | November 2022

mit dem Schwerpunktthema:
Auswanderung: neues Leben in Übersee