Die Literaturwissenschaftlerin und Kulturmanagerin Oxana Matiychuk aus Czernowitz/Tscherniwzi spricht mit KK-Redakteurin Renate Zöller über den Krieg in der Ukraine und welchen Einfluss er auf die kulturelle Identität der Ukrainer hat.
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© Maxym Kosmenko

Man hört und liest viel in den vergangenen Wochen von Oxana Matiychuk. Seit Kriegsbeginn gibt sie unermüdlich Interviews und schreibt an ihrem »Ukrainischen Tagebuch«, das in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht wird. Matiychuk ist Dozentin an der Nationalen Jurij-Fedkowytsch-Universität Czernowitz/Tscherniwzi und Mitarbeiterin des kulturellen Zentrums Gedankendach, das derzeit vor allem bei der Weiterverteilung von Hilfsgütern (Spenden an die Bukowinahilfe des IKGS) tätig ist – siehe dazu auch den Artikel »Kultur hilft«. Matiychuk  erhielt mehrere Stipendien vom DAAD, der Bosch-Stiftung und Erasmus-Mundus. Die plurikulturelle Gesellschaft ihrer Heimat war auch vor dem Krieg ihr Thema. 2021 erschien im Verlag danube books die Graphic Novel Rose Ausländers Leben im Wort, die sie zusammen mit den Künstlern Olena Staranchuk und Oleg Gryshchenko herausgab. Mit Renate Zöller sprach sie über ihr Land und dessen Bewohner und darüber, was der Krieg mit den Menschen und mit der ukrainischen Identität macht.

Frau Matiychuk, Sie sind nicht nur Literaturwissenschaftlerin, sondern auch Kulturmanagerin beim Zentrum Gedankendach. Was wollen Sie mit Ihren Veranstaltungen bewirken?

Zum einen versuchen wir, durch die Projekte etwas nach Czernowitz zu bringen, das vor Ort fehlt – beispielsweise neue und aktuelle Kunst. Zum anderen ist es immer mein persönliches Anliegen, dass ein internationaler Austausch zwischen jungen Erwachsenen stattfindet. Ich finde, dass unmittelbare Kontakte und der Umgang mit künstlerischen Ideen von jungen Leuten uns das Gefühl geben, dass wir alle Europäer und alle auf einer Ebene sind. Wir alle haben uns etwas zu sagen.

Sie haben viel Kontakt nach Westeuropa. Wie funktioniert der Austausch innerhalb der Ukraine?

Rein infrastrukturell gesehen ist die Ukraine kein Land, in dem man innerhalb von zwei Stunden von A bis B kommt. Es sind immer lange Reisen, teilweise sehr umständlich. Aber dadurch, dass wir zum Netzwerk des Goethe-Instituts gehören, haben wir unterschiedliche Kontakte, auch etwa zu Partnern in Charkiw und Odessa. Es gab also einen regen Austausch. Und diese Kontakte gehen weiter und multiplizieren sich. Ich denke, dass es in Zukunft durch den Krieg und diese große Migrationswelle gravierende Veränderungen geben wird.

Glauben Sie, dass die Ost- und die Westukrai­ne enger zusammenwachsen werden?

Ich finde, dass diese jahrelang propagierte Spaltung – der Osten will nach Russland und der Westen will nach Westen – ein künstlich geschaffenes Narrativ ist, das sehr gefährlich ist. Es ärgert mich, wenn Leute wie der Schriftsteller Jurij Andruchowytsch öffentlich sagen, der Donbas gehöre nicht zur Ukraine. Es ist wichtig, das hervorzuheben, was uns verbindet und nicht das, was uns trennt. Ich würde sagen, dass diese sehr große ethnische und kulturelle Vielfalt in der Ukraine unser Reichtum ist. Es kommt nicht auf die Sprache an – sondern auf die innere Einstellung der Menschen. Stellen Sie sich mal vor, Putin würde nach Deutschland einmarschieren, glauben Sie nicht, es gäbe auch dort Menschen, die ihn freudig begrüßen würden?! Klar gibt es auch Ukrainer, die der Sowjetunion immer noch nachtrauern oder aus anderen Gründen glauben, dass dieser Mann ein großer Führer ist. Aber das ist ein wirklich kleiner Anteil. Die Menschenströme gehen nach Westen, beinahe niemand flüchtet freiwillig nach Russland. Wir haben jetzt auch in Czernowitz viele russischsprachige Menschen und es werden immer mehr. Das merken wir vor allem daran, dass in der Öffentlichkeit viel mehr Russisch gesprochen wird. Und auch in der Universität, da die Menschen in den Studentenwohnheimen einquartiert werden.

Wie sieht das Leben an der Universität derzeit aus? Sie beschreiben in Ihrem »Ukrainischen Tagebuch«, dass die Vorlesungen wieder angefangen haben…

Ja, das Bildungsministerium hat für die Hochschulen in relativ sicheren Gebieten angeordnet, wieder zu unterrichten. Wir bieten also wieder Online-Unterricht an, auch für die Geflüchteten aus anderen Gegenden. Meine Studierenden wollen sich ebenso wieder austauschen. Tatsächlich nehmen etwa sechzig Prozent an den Vorlesungen teil – und das ist erfahrungsgemäß ein guter Prozentsatz. Die Kurse sind einfach eine Stütze, um den Alltag zu strukturieren und uns abzulenken. Die Studierenden sind sehr engagiert und interessiert. Man hat kurzfristig das Gefühl, dass man wieder in der Realität angekommen ist. Vielleicht ist das tatsächlich wichtig – für sie, aber wahrscheinlich auch für mich, weil auch ich gemerkt habe, dass ich manchmal während der Vorlesungen zwischendurch kurz abschalten konnte und vergessen habe, was drumherum passiert. Das klappt allerdings nicht immer: Viermal mussten wir bereits nach wenigen Minuten die Vorlesung aufgrund eines Luftalarms abbrechen.

Czernowitz versucht also, so weit wie möglich einen Alltag zu erhalten?

Ja, so gut das eben geht und möglich ist – und solange wir noch in Sicherheit sind.

Wie sieht es aus mit der Kultur- und Kunstszene?

Wenn man als Künstler oder als Kulturschaffender in Charkiw oder Kiew lebt, dann hat man es sicher sehr schwer. In Czernowitz aber versucht man, auch diesen Teil des öffentlichen Lebens zu erhalten und ich finde das sehr gut. Am 31. März fand im größten Schutzbunker der Stadt ein »Konzert für die Welt« statt, das online übertragen wurde – mit Musikern aus Czernowitz und aus anderen Städten. Vor allem für Kinder gibt es viele Angebote. Offiziell befinden sich über 12 000 Kinder unter den geflüchteten Familien. Das Theater und auch das Puppentheater von Czernowitz machen kostenlose Veranstaltungen für sie. Es gibt eine Galerie, wo normalerweise Künstler ausstellen, und die haben Workshops für die Kleinen. Gerade für diese sehr verwundbaren Zielgruppen ist es wichtig, dass sie wenigstens ein bisschen abgelenkt werden. Jeder versucht einfach, sich so gut es geht einzubringen und eben auch mithilfe künstlerischer Fähigkeiten. Auf der Hauptstraße in Czernowitz steht beispielsweise ein Klavier, auf dem regelmäßig gespielt und dazu auch die Hymne gesungen wird.

Es wird befürchtet, dass das russische Militär bewusst Kulturgüter zerstört…

Ja, das machen sie doch schon. Laut offizieller Statistiken sind allein im März 44 Kirchen, Tempel und Gebetshäuser komplett zerstört worden. Im Gebiet Donezk gibt es ein sehr berühmtes, großes Kloster mit dem Namen Swjatohirska Lawra – und selbst das wurde bewusst angegriffen, obwohl es zum Moskauer Patriarchat gehört.

Was wird in Czernowitz getan, um die Kulturgüter, die Museen und Galerien zu schützen?

Inzwischen wurde in unserer Stadt ein aus der österreichischen Zeit erhaltenes Denkmal mit Sandsäcken verhüllt: Die Charitengruppe von 1910, die vor dem Fischerischen Kinderspital steht. Bei den Museen ist es komplizierter. Der Leiter des privaten Jüdischen Museums, das schon vorher finanziell zu kämpfen hatte, sagte mir, dass er keine Gegenstände in Sicherheit bringen kann, weil er keine Kapazitäten dafür hat. Das Kunstmuseum in Czernowitz wiederum klagte, dass es ein sehr bürokratischer Vorgang ist, wenn man die Exponate irgendwo anders in Sicherheit bringen möchte. Niemand war darauf vorbereitet, und es gibt auch keine leerstehenden Räumlichkeiten. Aber sie haben zumindest die Ausstellungsstücke, die nah an den Fenstern hingen oder standen, weggeräumt. Diese und besonders wertvolle Exponate wurden in einem Lagerraum im Keller untergebracht. Man kann jetzt nicht auf Unterstützung vonseiten der Verwaltungen zählen – das obliegt gerade der Eigeninitiative der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Was denken Sie, bezweckt die russische Armee mit diesen Angriffen?

Ich glaube, es geht den Russen – und ich sage bewusst den Russen und nicht nur Putin – darum, die Ukraine als Land und die Ukrainer als Volk auszulöschen. Das hängt sicher mit Putins Fantasien und Wahnvorstellungen zusammen, aber ich glaube beides, die Fantasien und die Wahnvorstellungen wurden auch in der russischen Gesellschaft gehegt. Das hat viele historische Gründe und Hintergründe, und sie sind zu komplex, als dass man sie in solch einem Gespräch erklären kann. Die Ukrainer wurden immer als Fußvolk betrachtet, und das von allen russischen Zaren und Präsidenten. Diese Wut hat sich jetzt in diesem Ausmaß entladen, so wie man sie früher noch nicht kannte. Es geht darum, alles zu vernichten, was Teil der Identität der Ukraine, der politischen Nation ist.

Aber kann man auf diese Weise überhaupt Identität zerstören? Mein Eindruck ist:  Je mehr kaputtgeht, desto stärker wird den Ukrainern bewusst, was sie haben…

Ja, absolut. Ich glaube, die Russen erreichen genau das Gegenteil von dem, was sie sich erhofft haben. Die Ukraine kann in Schutt und Asche gelegt werden, aber wenn Russland glaubt, dass es dieses Land unter Kontrolle bringen kann, dann ist das ein großer Irrtum. Sicher würde es einen kleinen Teil Menschen geben, die sich damit abfinden – das ist normal, die Geschichte kennt viele Kriege, es war nie anders –, aber der Rest wird näher zusammenrücken. Die Ukraine wird eine Ruine sein und Russland wird diese nicht aufbauen können. Ein Sieg der Russen wäre ein Tod für den ukrainischen, aber auch für den russischen Staat – früher oder später.