Sie ist Expertin für tschechische und slowakische Zeitgeschichte, Kennerin der Historie Russlands im 18. Jahrhundert und erforscht einen relativ neuen Zweig der Geschichtswissenschaft: Kindheitsgeschichte. Martina Winkler, Professorin für die Geschichte Osteuropas an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, spricht mit Markus Nowak über Kindheit und deren Verklärung.
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Martina Winkler | Foto: © Fabian Winkler Fotografie, Berlin

Martina Winkler studierte von 1989 bis 1994 Geschichte, Literaturwissenschaft und Teilgebiete des Rechts an der Freien Universität Berlin. Sie wurde 1999 an der Universität Leipzig promoviert und war dort bis 2003 wissenschaftliche Mitarbeiterin. Es folgten Stipendien und Auslandsaufenthalte unter anderem an der Stanford University in den USA oder dem Deutschen Historischen Institut in Moskau. 2017 nahm sie den Ruf an die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel als Professorin für die Geschichte Osteuropas an. Im Gespräch mit Markus Nowak spricht Winkler über Kindheit und deren Verklärung.

Frau Prof. Winkler, Sie nähern sich dem Thema »Kindheit« als Historikerin an. Was heißt das?

Ich selbst beschäftige mich seit sieben Jahren damit. Obwohl es die Kindheitsgeschichte schon seit den 1960ern gibt, setzt sie sich als akademische Disziplin erst seit Kurzem wirklich durch. Und noch immer muss man das Thema rechtfertigen.
Viele gehen einfach davon aus, dass Kindheit ein »biologisches Faktum« sei. Aber das stimmt nicht, sie ist etwas historisch Wandelbares und damit ein Gegenstand der Geschichtswissenschaft.

Dabei kann man sowohl Kinder als Gesellschaftsgruppe und Akteure betrachten als auch »Kindheit« als Konzept. Das sind zwei verschiedene Aspekte, die man gemeinsam betrachten kann, aber analytisch sollte man sie voneinander trennen: Geht es um Kinder an sich, also wie sie leben, arbeiten, lernen? Oder geht es mir um die Kindheit: Wie stellen wir uns Kindheit vor, wie konstruieren wir sie, welche Bilder und Emotionen knüpfen wir daran?
Kinder sind in allen Gesellschaften relevant; das Konzept der Kindheit wird vor allem in modernen Gesellschaften wichtig – interessanterweise umso wichtiger, je weniger Kinder es rein quantitativ in diesen Gesellschaften gibt. Wenn man sich »Kinder und Kindheit« anschaut, lernt man sehr viel über die Geschichte von Gesellschaften.

Gutes Stichwort. Was genau?

Fangen wir mit dem ersten Vorurteil an, das ich genannt hatte: »Kindheit ist doch etwas Biologisches.« Natürlich sind Kinder vor allem zu Beginn ihres Lebens zunächst einmal klein und abhängig, was biologisch gegeben ist; aber das Interessante für Historiker und Historikerinnen ist die Frage, was die Gesellschaft daraus macht. Wie gehen Gesellschaften mit Kindheit um? Wie sehr definieren sie Kindheit als etwas Besonderes? Wie stark unterscheiden sie zwischen Erwachsenen und Kindern? Welche unterschiedlichen Rechte und Pflichten vergeben sie?

Besonders interessiert mich das Konzept der Kindheit. In modernen Gesellschaften ist die Kindheit sehr stark emotionalisiert und ideologisch aufgeladen, dies gilt vor allem für das 20. Jahrhundert. Das heißt unter anderem, dass wir Kinder als »emotional« und »spontan« beschreiben. Dies kann positiv und negativ belegt sein – Kinder gelten dann als besonders ehrlich und »herzig«, es kann aber auch in die andere Richtung gehen: Kinder seien wild, müssten erst erzogen, »zivilisiert« werden. Indem wir diese Vorstellungen auf Kinder projizieren, definieren wir zugleich auch eine Norm, wie der Erwachsene (der »fertige Mensch«) zu sein hat: rational und vernünftig. Mich interessiert unter anderem, wie diese Konstrukte aufgebaut werden und wann welche Bilder – also das süße Bullerbü-Kind oder der gefährliche Rabauke oder gar das »böse Kind« – ihre Konjunkturen haben.

Wie steht es um die Quellen, wenn man Kindheit historisch erforscht?

Es ist ein Grundproblem der Kindheitsgeschichte, an Quellen zu kommen, die von Kindern selbst stammen. Solche Quellen wurden halt einfach nur selten in Archiven gesammelt. Meist finden wir nur Quellen, die beschreiben, wie Erwachsene Kinder behandelt oder über sie gedacht und geschrieben haben – letztlich ist das dann doch nur eine Geschichte der Erwachsenen. Typisch sind hier Lehrpläne, Erziehungsratgeber und Kinderliteratur, die ja auch von Erwachsenen verfasst sind.

Das sind alles interessante Quellen, aber sie sagen uns nur bedingt etwas über die historischen Kinder selbst. Inzwischen hat die Geschichtswissenschaft aber verschiedene Strategien entwickelt, um näher an die Realitäten und die Gedanken von Kindern zu kommen. Mediävisten arbeiten z. B. intensiv mit Unterlagen von Leichenbeschauern, weil daraus Erkenntnisse darüber gezogen werden können, wie Kinder gestorben sind – und daraus lernt man dann umgekehrt, wie Kinder gelebt haben. Wenn es beispielsweise Unfälle von Kindern mit Werkzeugen gab, dann ist klar, dass die Kinder gearbeitet haben. Hier sehen wir auch einen Gender-Aspekt, z. B. wenn Mädchen sich eher bei Küchen- oder Hausarbeiten verletzt haben und Jungen bei handwerklichen Arbeiten, oder wenn Jungen sich weiter weg vom Elternhaus bewegt haben. Das klingt zwar zynisch, ist aber eine wertvolle Quelle. Wichtig sind natürlich auch (für spätere Epochen) Tagebücher, Hausaufgaben, Briefe, Schülerzeitungen, Kinderzeichnungen und so weiter.

Und Zeitzeugen?

Diese sind sehr beliebt, aber ich habe meine Probleme damit. Zwischen dem Berichteten und dem Bericht liegt nicht nur viel Zeit, sondern auch der Wechsel vom Kindesalter zum Erwachsensein. Da-mit schwingen bei der Erinnerung an die Kindheit fast immer nostal­gische Elemente mit. Aber natürlich können Zeitzeugenberichte gerade deshalb auch sehr interessant sein: wenn wir genau diese Kindheitsnostalgie in verschiedenen Gesellschaften erforschen wollen. Gegenüber Zeitzeugenberich-ten als Quellen für vergangene Ereignisse oder gar Gefühle bin ich aber sehr skeptisch.

… eine Verklärung der Kindheit?

Die gibt es auf jeden Fall. Ich habe mich beispielsweise damit beschäftigt, wie aktuell in Tschechien und der Slowakei die Kindheit in der sozialistischen Tschechoslowakei dargestellt wird. Da gibt es bei Facebook Retro-Nostal­gie-Gruppen, die die Kindheit wirklich extrem verklären und das dann auch direkt politisch aufladen. Dann ist man schnell bei einer nostal­gischen Erinnerung an den Sozialis-mus. Hier kommen verschiedene emotionalisierte Ebenen zusammen, die sich daraus ergebenden Konflikte können sehr scharf werden.

Für mich ist gerade diese Emotionalisierung der Kindheit besonders interessant. Denn nicht nur meine historischen Akteure verklären die Kindheit – wir tun das ja auch. Wer sich mit Kindheitsge-schichte befasst, muss sich also auch mit seinen eigenen Bullerbü-Fantasien auseinandersetzen. Ich finde das sehr spannend und herausfordernd.

Haben Sie eine Erklärung für diese Verklärung?

Es sind psychologische, aber auch generations­soziologische Elemente, die dabei eine Rolle spielen. Psychologisch kann ich natürlich nicht sagen, warum Menschen nostalgisch sind und weshalb Kind-heit dabei so wichtig ist. Historisch ist zu bedenken: Seit der Aufklärung gibt es ein sehr starkes nor-matives Kindheitskonzept. Kinder sollten lernen, sich zu freien, vernünftigen und zugleich disziplinier-ten Menschen zu entwickeln (das ist in sich natürlich nicht ohne Widersprüche). Ab dem späten 18. Jahrhundert wurden Kinder dann zu wichtigen Trägern des romantischen Denkens. Sie stehen wie die »edlen Wilden« für die Emotion, für das Ursprüngliche, ein nicht durch die Zivilisation korrum-piertes Denken: Früher war eben alles besser. Und dieses Bild der Romantik kennen wir bis heute. Und genau das spielt bei dieser Nostalgie so eine große Rolle.

Eine Idealisierung der Kindheit kann bei der Erlebnisgeneration etwa von Flucht und Vertreibung doch eigentlich nicht stattfinden …

Doch, mein Eindruck ist, die Kindheit wird auch dort idealisiert – wenn auch vielleicht nicht die eigene. Man hört ja immer: »Die haben mir die Kindheit genommen.« Das heißt, dass das, was Menschen da erlebt haben, nicht dem Idealbild von Kindheit, von »glücklich Ball spielen, frei und beschützt sein« entspricht. Diese Lebensphase wird dann nicht als eine »echte« Kindheit anerkannt, sie fällt aus dem normalen Kindheitsbild heraus.

Es gibt Generationsbegriffe wie »Boomer« für die Jahrgänge 1946 bis 1964, »Millenials« für 1981 bis 1996 Geborene. Wird Corona für die heutige »Generation Alpha« prägend sein?

Das ist eine spannende Frage, über die man nur spekulieren kann.  Sicher wird Corona für uns alle, nicht nur für Kinder prägend sein. Für die Definition von »Generati-onen« ist normalerweise eigentlich die Zeit des Erwachsenwerdens entscheidend. Damit wäre die »Generation Corona« die der um 2004 geborenen, die jetzt die Schule beenden und während ihrer Schulzeit auf so viel verzichten mussten.  Aber davon abgesehen prägt Corona natürlich auch die aktuellen Kindheiten. Wenn man bedenkt, dass wir über einen Zeitraum von fast zwei Jahren immer wieder von Lockdown und Quarantäne sprechen, spielt das für ein Kindergartenkind, das vielleicht fünf Jahre alt ist, eine große Rolle. Viele Erlebnisse fallen weg, wie beispielsweise Kindergeburtstage und andere wichtige Rituale. Für viele entstehen auch große Bildungsnachteile. Ob und wie das nachzuholen sein wird, ist die eine Frage. Eine andere ist, wie sehr Corona Kindheitserinnerungen prägen wird. Das ist dann eine Aufgabe für Historiker und Historikerinnen in, sagen wir, dreißig Jahren.