Prof. Dr. Matthias Hardt. Foto: © Ines Rößler
Prof. Dr. Matthias Hardt, Jahrgang 1960, studierte Geschichte, Germanistik sowie Vor- und Frühgeschichte an der Universität Marburg/Lahn, von 1988 bis 1993 war er dort wissenschaftlicher Mitarbeiter, 1993 bis 1997 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin. 1999 wurde er zum Thema »Gestalt und Funktion frühmittelalterlicher Königsschätze« promoviert. Seit 1997 arbeitet Hardt am heutigen Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO) in Leipzig, zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Projektgruppe »Germania Slavica«. Seit 2000 ist er Fachkoordinator für mittelalterliche Geschichte und Archäologie, 2017 übernahm er die Abteilung »Mensch und Umwelt«. Hardt lehrt als Honorarprofessor für frühe Geschichte und Archäologie Mitteleuropas am Historischen Seminar der Universität Leipzig.
Herr Professor Hardt, vor einiger Zeit warb die Bahn mit dem Spruch: »Alle reden vom Wetter, wir nicht.« Sie sind Historiker und beschäftigen sich auch mit Wetterphänomenen. Kann es sein, dass der Bahn-Spruch auch für die Geschichtswissenschaft gilt?
Das kommt immer darauf an, ob Sie das in einem globalgeschichtlichen Maßstab sehen oder regional eingeengt, auf Mitteleuropa beispielsweise. Der Winter, so wie wir ihn uns vorstellen, mit Kälte und früher auch Schnee, ist eine Angelegenheit, die sich auf bestimmte privilegierte klimatische Regionen der nördlichen Halbkugel oder Südamerikas reduziert. Anderswo, beispielsweise in Afrika oder Südasien, gibt es nur Regen- und Trockenzeiten – und keine ausgeprägte Form des Winters.
Hier in Mitteleuropa geben die Jahreszeiten in ihrem Ablauf für die Landwirtschaft, und damit auch für die Ernährung der Menschen, ganz klare Vorgaben und Ansagen, wie man sich bei der Aussaat und der Ernte verhalten muss. Und natürlich beeinflusst das die Geschichte, indem es eben fruchtbarere und weniger fruchtbare Regionen gibt. Man versucht – im Mittelalter beispielsweise durch Erweiterungen des Siedlungslandes, durch Rodungen, durch Anlage neuer Dörfer – die Situation zu verbessern.
Sie sprechen von »privilegierter klimatischer Lage«, aber der Winter gilt nicht gerade als menschenfreundliche Jahreszeit. Kälte, Frieren, Kriege wurden oft im Winter entschieden …
Es kommt darauf an, wie Gesellschaften in der Lage sind, mit Wetter bzw. kleinklimatischen Ereignissen umzugehen. Wenn Sie zum Beispiel auf kriegerische Erlebnisse eingehen, fällt mir die Belagerung und Eroberung der Brandenburg an der Havel ein – im Winter 928 bis 929. Da haben sich die sächsischen Eroberer der slawischen Burg inmitten der Havel eines Fakts bedient, den sich die Gegenseite eigentlich als Schutz erdacht hatte – nämlich der Lage im Wasser. Wenn die Havel zufriert, kann man ganz einfach darüber hinwegreiten. Das haben die Krieger 929 auch kurzerhand gemacht und die Burg Brandenburg erobert.
Mit welchen historischen Quellen arbeiten Sie, um Wetterphänomene zu untersuchen?
Wenn die Ernten schlecht sind, steigen die Preise, weil weniger Lebensmittel zur Verfügung stehen. Dazu gibt es Quellen ab dem Spätmittelalter. Preislisten sind hilfreich, ebenso Chroniken, in denen über Nahrungsmittelverknappung als Ursache für Hungersnöte oder über Naturkatastrophen wie Trockenzeiten berichtet wird. Ähnliche Belege finden Sie in mittelalterlichen Städten anhand der Hochwassermarken. Man erkennt vergangene Wetter- und Klimaveränderungen aber auch daran, dass es, beispielsweise an der Nordsee, Regressions- und Transgressionsphasen gibt, dass also der Wasserspiegel dauerhaft sinkt oder steigt. Den steigenden Wasserstand erkennen Sie daran, dass die Bewohner der Marsch im frühen Mittelalter begannen, riesige Maulwurfshügel aufzuwerfen, sogenannte Wurten. Das sind Hügel, die immer Schicht für Schicht erhöht wurden und auf denen man wohnte. Die letzten Überbleibsel solcher Verhältnisse sind die Warften auf den Halligen in Nordfriesland. Wenn das Wasser dort steigt, ragen die Siedlungen und Häuser aus dem Wattenmeer heraus, im Sommer und bei gutem Wetter ist vom Wasser jedoch weit und breit nichts zu sehen. So etwas hat es auch schon in der Frühzeit gegeben.
Winter und allgemein Jahreszeiten stehen jedoch nicht so sehr im Mittelpunkt der Geschichtswissenschaften. Wie kommt das?
Wir achten schon darauf, welche Bedeutung bestimmten Wetterereignissen zugeschrieben wird, etwa starkem Regen, Überschwemmungen oder Überflutung. So etwas taucht auch in den Chroniken auf. Harte Winter werden immer wieder erwähnt oder dass die Ernte beeinträchtigt wurde, weil sie nicht früh genug eingebracht werden konnte. Immer noch ist die Geschichtswissenschaft weitestgehend auf das Handeln von Personen und Personengruppen ausgerichtet. Jedoch wird auch Klimageschichte mittlerweile stärker in den Fokus gerückt.
Stichwort Klimawandel. Gibt es einen historischen Blick darauf?
Wir arbeiten gerade daran und müssen durch die Abschätzung der Informationen, die wir zur Verfügung haben, erstmal sehen, wie sie zusammenpassen. Wir bemühen uns derzeit, die Angaben aus schriftlichen Überlieferungen, Jahrbüchern, Chroniken oder historiografischen Texten mit naturwissenschaftlichen Ergebnissen übereinzubringen. Etwa mit Pollen-Diagrammen aus Moor-Gebieten, wo es eine besonders gute Erhaltung gegeben hat. Dabei gab es glückliche Treffer. Andererseits konnte Thomas Labbé allein durch die Analyse schriftlicher Aufzeichnungen beweisen, dass in Burgund immer früher mit der Weinernte begonnen wurde. Das bedeutet, dass die Sommer in den letzten Jahrzehnten immer trockener und heißer geworden sind – was gleichsam auf einen Klimawandel hindeutet.
Konkret heißt es, die Winter werden milder, Schnee immer seltener. Das war ja früher durchaus anders. Verändert sich das Narrativ vom Winter?
Ich warne immer davor, die letzten Jahre auf eine lange Dauer hochzurechnen. Sie können theore-tisch schon in den nächsten Monaten eines Besseren belehrt werden. Aber ich glaube auch, dass wir im Moment eine Warmzeit erleben, in der die Winter sehr mild sind – was alle möglichen Folgen mit sich bringt. Ein Beispiel: Einige Insekten überleben und werden immer mehr, während andere stark reduziert werden. Das ist ein Wechselspiel, das ineinandergreift. Es gab in der Geschichte kleinere Eiszeiten und längere Kälteperioden, etwa im 14. und 15. Jahrhundert, die Einfluss hatten auf die Ernte, Getreide- und Brotpreise und Ähnliches. Wenn Sie das auf die ganz lange Dauer sehen und naturwissenschaftliche und archäologische Daten mit hinzuziehen, dann sehen Sie, dass es einen – nicht regelmäßigen – Wechsel von Kalt- und Warmzeiten gibt, der die europäische Geschichte beeinflusst. Einen so schnellen und folgenreichen Klimawandel wie in der Gegenwart mit seinem Baumsterben in den Mittelgebirgen und tiefgreifenden Veränderungen in der Biodiversität hat es allerdings in der Geschichte noch nicht gegeben.
Aber die Wetterabhängigkeit ist heute weniger stark ausgeprägt als einst. Neue Techniken, Heizungen und mehr haben die Jahreszeiten nivelliert.
Ja, die Baubranche beispielsweise ist heute bemerkenswert resilient gegen alles. Die haben selbst in Corona-Zeiten weitergemacht, als wäre nichts gewesen. Auf dem Bau können sie, wenn sie Licht haben, auch im Dunkeln weiterarbeiten. Und manchmal ist es besser, im Winter auf dem Gerüst zu sein als im Sommer bei hohen Temperaturen.
Andererseits, wenn es regnet oder schneit ist das natürlich auch keine angenehme Tätigkeit. Was die Wärmegewinnung angeht: In wenig isolierten Häusern zu heizen ist mit einem großen Aufwand an Brennholzbeschaffung verbunden. Das ist ein frühneuzeitliches Problem, so dass die Abholzung der Wälder immer weiter fortgeschritten ist. Es gab harte Interessenskonflikte mit dem Adel, der die Wälder erhalten wollte, um sie als Bauholz zu verkaufen oder als Jagdreviere zu nut-zen, während die arme Bevölkerung Gelegenheiten suchte, Brennholz zu schlagen.
Ab wann lässt sich diese Nivellierung der Jahreszeiten beobachten?
Das ist eine Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Industrialisierung, die uns in die Lage versetzte, mit anderen Energieträgern umzugehen, mit Braun- und Steinkohle, mit Gas, Erdöl usw. Ich würde sagen, vor dem 19. Jahrhundert blieb weniger die Geschichte, aber doch der Ablauf der Produktion stark abhängig von den Jahreszeiten.
Die Kälte des Winters haben wir vorhin angesprochen. Aber es gibt auch eine romantische Komponente der kalten Jahreszeit. Wie wichtig waren unseren Vorfahren Gemütlichkeit, Beheimatung und Weihnachts- bzw. Winter-Traditionen?
Ja, es gibt da eine Dualität. Aber man war doch im Winter sehr eingeschränkt. Denken Sie an das ländliche Leben in der Vormoderne, das auch von den Tagesabläufen abhing. Im Winter haben Sie viel weniger Zeit zur Verfügung als in den anderen Jahreszeiten. Es wird erst um 9 Uhr morgens hell und nachmittags um 16 Uhr schon wieder dunkel. Da gehen Sie einfach mit den Hühnern ins Bett und stehen mit den Hühnern wieder auf.
Oder man verlegte das Arbeiten in die Wohnstube …
Das ist richtig, da entstanden besondere Formen des Handwerks. Zum Beispiel Kleinkunstschnitzereien im Erzgebirge – das ist tatsächlich ein Relikt dieser Zeit. Man produzierte Schwibbögen, Räuchermännchen und Ähnliches. Das sind ganz besondere Wirtschaftsformen, die der Winter quasi anordnete. Überhaupt war und ist der Winter eine Zeit der Reparaturen und Renovierungen.
www.leibniz-gwzo.de
Weitere Informationen über Professor Hardt und sein Forschungsgebiet auf den Internetseiten des GWZO