Lojze Wieser, Jahrgang 1954, schloss eine Buch- und Handelslehre ab, gründete seine eigene Druckerei in Wien und 1987 einen nach ihm benannten Verlag. Eines der Verlagsziele ist es, unbekannte Literatur aus den Ländern des östlichen Europa in deutscher Übersetzung herauszugeben, wofür Wieser 1990 den ersten Österreichischen Staatspreis für Verleger erhielt. Seit September 2013 hat Wieser, der anerkannter Gastrosoph ist, eigene Kochsendungen im österreichischen Fernsehen und ist (Mit-)Autor mehrerer Kochbücher mit Rezepten aus ganz Europa. Sein Begleitband zur ORF-Reihe Der Geschmack Europas wurde 2018 als »Bestes Kochbuch Europas« ausgezeichnet.
Herr Wieser, gibt es so etwas wie »die« Küche des östlichen Europa?
Es ist schwer, von »der« Küche einer Gesamt- oder einer Großregion zu sprechen. Die Menschen mussten schon immer mit den wenigen Zutaten, die sie hatten, »zaubern«, und sie haben aus dem Wenigen dann immer wieder auch große Kompositionen angefertigt. Damit die Familie einerseits satt wurde, andererseits nicht in Rebellion getreten ist.
Alle Regionen sind über die Jahrtausende in Bewegung gewesen. Menschen sind gekommen, Menschen sind gegangen. Die Kriege sind gekommen, der Mangel ist geblieben. Nachdem dieser zu groß geworden war, ist man auf die Wiese gegangen und hat vielleicht eine Zichorie gesucht, aus der man dann über die Zeit so wie in Montenegro über 150 Rezepte erfunden hat. Also es gibt kein Tal, das gleiche Rezepturen wie das nebenan hat, obwohl sie ähnliche Ausgangssituationen haben, und daher ist ja die Vielfalt des Essens und des Geschmackes so faszinierend: weil sie unendlich ist.
Wie entsteht der »Geschmack« einer Region?
Zu Geschmäckern kommt es von Generation zu Generation von der frühesten Kindheit an, was zum Beispiel die Mutter oder die Großmutter den Kindern vorgesetzt hat. Wie sie im eigenen Haus geräuchert haben, wie sie das Fleisch konserviert haben, wie sie es eingesalzt haben. Jede Familie hatte ihre eigenen Rezepturen, die das Besondere ausgemacht haben.
Und dann gibt es klimatische Bedingungen, die Voraussetzung dafür sind, wie etwa das Fleisch konserviert wird. Wo zu viel Feuchtigkeit ist, da muss geräuchert werden, und es gibt Regionen, in denen luftgetrocknet wird. Es gibt so Grunddeterminationen, die natürlich auf das Gesamte einer bestimmten Region Einfluss nehmen.
Sie erklären die Kultur durch die Kochtöpfe. Wie geht das?
Ich denke, dass Kochen an sich eine der größten intellektuellen Leistungen insbesondere der Frauen war und ist, weil sie ausgehend vom Mangel Wege finden mussten, wie gute, nachhaltige und zuverlässige Nährstoffe dem Körper und der Familie zugeführt werden.
Das Kochen ist eine der elementaren kulturellen Leistungen, die der Mensch zustande gebracht hat, um überhaupt überleben zu können. Und dort, wo diese Grundelemente des Überlebens nicht existiert haben, ist es zu kriegerischen oder zu chauvinistischen Auseinandersetzungen gekommen. Daher sind das Denken, das Reden und das Schreiben über das Kochen auch ein Beitrag dazu, ein soziokulturelles Verständnis einer Region oder einer bestimmten Epoche zu bekommen.
Aber auch die klimatischen Bedingungen spielen eine Rolle …
Ohne dass wir uns Gedanken machen über die Ackerbaukunst und über die Tiefe der Furchen, können wir keine Antwort darauf geben, warum es in bestimmten Regionen eine Prosperität gegeben hat und in anderen Regionen, wo es nur Steine gegeben hat, diese Prosperität nicht hat geben können.
Essen ist also mehr als Nahrungsaufnahme …
Essen ist Kultur. Und ohne, dass wir eine kulturelle Beziehung hätten, wüssten wir auch nicht, was zum Beispiel die traditionelle chinesische Medizin weiß: dass durch die Aufnahme der Nahrung auch der Heilungsprozess im Körper unterstützt wird. Ich weiß von meiner Großmutter: Wenn der Großvater verkühlt war, hat sie einen Haferschleim gekocht mit viel Thymian und einem eingerührten Ei. Wenn er das gegessen hat, dann war er am nächsten Tag gesund: Haferschleim beruhigt den Magen, Thymian hat ätherische Öle, die auf die Atemwege wirken und das Ei stärkt.
Ein großer Teil des deutschsprachigen Raumes im östlichen Europa ist spätestens mit den Vertreibungen untergegangen. Sind diese Rezepte verloren?
Bei Dreharbeiten in Schlesien war ich in einem Dorf, in dem der Regisseur erzählte, dass hier irgendwo seine Großmutter geboren sei. Sie ist 1948 vertrieben worden, und wir fragten vor Ort nach alten Rezepten. Es war für mich eine neue Erkenntnis, dass die Erinnerung der Menschen 1948 aufgehört hat. In die Orte, in denen früher deutschsprachige Menschen gelebt haben, sind jetzt Menschen aus der Bukowina oder aus anderen Teilen Europas angesiedelt worden, die zwar die gleichen örtlichen Zutaten verwenden, aber natürlich nicht die Tradition der dortigen Küche kannten. Jene, die ausgesiedelt wurden, konnten diese Erfahrungen nicht mehr weitergeben.
Natürlich geht hier Wissen verloren. Deswegen wäre es ja so wichtig, eine Schule des Essens und des Geschmackes zu machen, um unabhängig von allen politischen Divergenzen, die in der Vergangenheit und bis heute zum Teil noch nicht richtig aufgearbeitet worden sind, die Erinnerung an die menschliche Leistung, die geschaffen worden ist, zu archivieren, aufzuarbeiten und sie für die zukünftigen Generationen wiederum nutzbar zu machen.
Aber manches Gericht »aus dem Osten« hat die westliche Küche auch befruchtet!
Das ist vollkommen richtig. Etwa die böhmische Küche in Wien. Im Bregenzer Wald, wo kroatisch-bosnische Arbeiter um 1900 die Bregenzer Bahn gebaut haben, gibt es bis heute eine »Bosnische Torte«, die von allen Bregenzern bejubelt und besungen wird, weil sie so gut ist. Deswegen habe ich auch immer gesagt, dass selbst die aktuelle Flüchtlingsbewegung, die wir in den letzten Jahren erleben, im Grunde genommen die Rezeptur unserer Ernährung und unseres Überlebens in den nächsten Jahrzehnten in sich trägt. Weil diese Menschen, die in diesem Elend durch die Gegend laufen, aus Nichts etwas zaubern mussten. Hier entsteht ein vollkommen neues Bewusstsein dessen, was Nahrung und Ernährung bedeuten kann, und so wird viel Neues geboren.