Mathias Beer, seit 2007 Geschäftsführer und stellvertretender Leiter des Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde in Tübingen, ist Lehrbeauftragter der Eberhard-Karls-Universität Tübingen und Gastprofessor an der Lucian-Blaga-Universität in Hermannstadt/Sibiu. Beer, Jahrgang 1957, wurde 1989 an der Universität Stuttgart promoviert und 2018 an der Babeş-Bolyai-Universität Klausenburg/Cluj mit dem Thema »Migration, Minderheit, Memoria. Zugänge zur Geschichte der deutschen Minderheiten in und aus Südosteuropa« habilitiert. 2017 wurde er mit dem Ludwig-Uhland-Preis für seine Arbeit auf dem Gebiet der Migrationsforschung ausgezeichnet.
Einer Ihrer Forschungsschwerpunkte ist die Erinnerungsforschung. Wie würden Sie den oft zitierten Satz »Der Zeitzeuge ist der natürliche Feind des Historikers« einordnen?
Beer: Den Satz hat der Münchner Historiker Hans Günter Hockerts in einem Aufsatz von 2001 geprägt. Darin thematisiert er unterschiedliche Zugänge zur Vergangenheit – Primärerfahrung, Erinnerungskultur und Geschichtswissenschaft. Für Zeitzeugen ist die Vergangenheit immer die eigene, selbst erlebte Geschichte. Diese vermittelt aber nur einen persönlichen Einblick, also einen kleinen Ausschnitt der Vergangenheit. Dennoch erheben Zeitzeugen den Anspruch, dass ihre Geschichte die Geschichte schlechthin sei. Demgegenüber ist die Geschichtswissenschaft einem kritischen, regelbasierten Zugang zur Vergangenheit verpflichtet. Sie hat die ganze Geschichte im Blick und bezieht möglichst viele Quellen in die Erforschung der Vergangenheit ein. Dazu gehören neben Akten, Presseerzeugnissen usw. auch Zeitzeugenberichte. Insofern stellen diese eine wichtige Quelle dar, aber nur eine unter vielen.
Welche Rolle spielen Zeitzeugen in der Erinnerungsforschung?
Beer: In der Erinnerungsforschung wird zwischen drei Ebenen der Erinnerung unterschieden. Erstens, der persönlichen Erinnerung der Zeitzeugen, für die diese ein Vetorecht besitzen. Was sie erlebt haben, woran sie sich erinnern, dafür sind sie die Experten. Zweitens, dem kommunikativen Gedächtnis, also die Erinnerungen einer Gruppe an gemeinsam Erlebtes und Erfahrenes. Dabei kann es sich, um nur zwei Beispiele herauszugreifen, um Gruppen handeln, die bei regelmäßigen Treffen ihre gemeinsame Lager- oder Treckerfahrung erinnern. Oder um Heimatortsgemeinschaften, also um Angehörige einer Gemeinde, die als Folge von Migrationsprozessen ihren Heimatort verlassen haben oder verlassen mussten. Sie vergewissern sich bei jährlichen Treffen, beim Erstellen eines Heimatbriefes oder eines Heimatbuches ihrer gemeinsamen Vergangenheit. Und schließlich drittens, dem kulturellen Gedächtnis, das, anders als die persönliche Erinnerung und das kommunikative Gedächtnis, einem zeitlichen Wandel unterworfen ist. Dabei geht es darum, woran und wie sich eine Nation ihrer Vergangenheit erinnert. Ausdruck dessen sind Denkmäler, Museen oder staatliche Feiertage.
Wie verändert sich die Erinnerungskultur, wenn keine Zeitzeugen mehr leben werden?
Beer: Diese Frage wird seit geraumer Zeit in der Geschichtswissenschaft, aber auch im Bereich der Geschichtsvermittlung intensiv diskutiert. Zeitzeugen mit ihren Erfahrungen, mit ihren Erinnerungen und persönlichen Deutungen sind ein wichtiger Teil der Erinnerungskultur. Aber nur ein Teil. Über Jahrhunderte wurde Geschichte erforscht, geschrieben und vermittelt, ohne dass auf Zeitzeugeninterviews zurückgegriffen werden konnte. Vor dem Hintergrund, dass heute die Möglichkeit gegeben ist, Interviews mit Zeitzeugen durchzuführen, sollte dies unbedingt genutzt werden, solange diese noch zur Verfügung stehen.
Wie kann aber Erinnerung gesichert werden?
Beer: Eine Möglichkeit ist das Anlegen von Sammlungen und Datenbanken mit Zeitzeugeninterviews. Eine andere bieten Museen. Seit den 1950er Jahren wurde eine Reihe von Einrichtungen errichtet, die die Geschichte der ost- und südostdeutschen Siedlungsgebiete thematisieren. Deren gesellschaftspolitischer Stellenwert hat sich in den 1970er und 1980er Jahren verringert. Das hat sich seit den Neunzigerjahren erfreulicherweise wieder geändert. Daran lässt sich auch ablesen, dass Erinnerungskultur nicht statisch, sondern einem gesellschaftlichen Wandel unterworfen ist. Weitere Beispiele ließen sich anführen.
Welche Rolle spielen die 1400 »Vertriebenendenkmäler« in Deutschland?
Beer: Das sind historische Wegmarken, die an die Herkunftsgebiete der Flüchtlinge und Vertriebenen, an deren Umsiedlung, Flucht und Vertreibung am Ende des Zweiten Weltkriegs und an deren Eingliederung als Neubürger in die beiden deutschen Nachkriegsstaaten erinnern. Sie sind sowohl in Deutschland zu finden als auch seit 1990 in den Herkunftsgebieten der Flüchtlinge und Vertriebenen. Die heutigen Gesellschaften in den Herkunftsgebieten nehmen sich in zunehmendem Maße des deutschen Kulturerbes in den Regionen Ostmitteleuropas an. Häufig erfolgt das in Zusammenarbeit mit den Organisationen der ausgewiesenen Deutschen, wie jüngst auch eine von mir mitgestaltete Tagung zum kulturellen Erbe der Deutschen in und aus Rumänien in Hermannstadt gezeigt hat.
2019 jährt sich zum 70. Mal die Gründung des »Bundesvertriebenenministeriums« (1949-1969). Sie führen dazu gerade ein Drittmittelprojekt in Tübingen durch. Gibt es schon erste Zwischenergebnisse?
Beer: Dieses in der Geschichte Deutschlands bisher einzige Bundesintegrationsministerium hat wesentlich mitgeholfen, dass die Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen, deren Anteil 1961 bei rund 21,5 Prozent lag, auf lange Sicht erfolgreich verlaufen ist. Dabei wurde, wie in den Jugendjahren der Bundesrepublik
üblich, auf Personal und Sachverstand aus der Zeit der Weimarer Republik und auch der NS-Zeit zurückgegriffen. Mit dem Ministerium, das Ergebnis einer politischen Entscheidung ist, wurde eine oberste Behörde geschaffen, die zwar die Belange der Flüchtlinge und Vertriebenen vertreten hat, aber auch zur Pazifizierung der bundesdeutschen Gesellschaft geführt hat.