Es gibt Lieder, die veralten nie. Und gleich eine ganze Reihe solcher Lieder hat Werner Richard Hey-mann geschaffen. »Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Beste, was es gibt auf der Welt …«, schmet-tern die Comedian Harmonists noch heute aus vielen Lautsprechern oder: »Irgendwo auf der Welt gibt’s ein kleines bisschen Glück – und ich träum davon in jedem Augenblick.« Der Name des 1896 geborenen Komponisten und vor allem seine Herkunft aus einer jüdischen Familie in Königsberg sind dagegen weniger bekannt. Ein Essay von Elisabeth Trautwein-Heymann.
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»Königsberg hatte damals vielleicht 200 000 Einwohner. Offenbar hat mein Vater von ihnen ungefähr 160 000 persönlich gekannt. Jedenfalls kam es mir so vor, wenn ich mit ihm durch die Stadt ging und ununterbrochen einen Gruß erwidern musste. […] In unser Haus kamen viele berühmte Schauspieler und Virtuosen. Bei großen Gesellschaften kam es häufig vor, dass der Rabbiner, der Bischof und der Probst zusammen eingeladen wurden«, erinnert sich mein Vater in seiner Autobiografie Liebling, mein Herz läßt dich grüßen. Der erfolgreichste Komponist der Ufa-Zeit erinnert sich, erschienen im Jahr 2011.

Mein Großvater Richard Heymann war ein angesehener Getreidegroßhändler mit zwei Speichern im Königsberger Hafen. Er hatte den Krieg gegen Frankreich 1870/1871 als jüdischer Oberleutnant mitgemacht und war durch und durch deutschnational. Er war ein frommer Jude, aber nicht orthodox und ging nur zu den höchsten Feiertagen in die Königsberger Synagoge. Deren Bau hatte er finanziell unterstützt und darin den festen Platz Nr. 66 inne. Er sang auch im Synagogenchor mit. Umfassend gebildet und Autor mehrerer autobiografischer Bücher, zum Beispiel seiner Reiseerinnerung Von Kö-nigsberg nach Kairo, hatte er im gesellschaftlichen Leben der Stadt einen hohen Stellenwert. Seine Frau, eine ausgebildete Pianistin, entstammte der Familie Sommerfeld, die mit den großen Geschäfts-häusern der Stadt verbunden war.

Werner Richard Heymann war das jüngste von insgesamt sieben Kindern. Zwei Geschwister, Felix und Pauline, starben früh. Die anderen vier älteren Brüder taten sich auf ganz unterschiedlichen Fel-dern hervor. Der älteste, Paul, war Geiger. Walther, geboren 1882, war seit seinem der ostpreußischen Landschaft gewidmeten Gedichtband Nehrungsbilder von 1909 ein in der jungen Literatur des Expres-sionismus hochgeschätzter Dichter. Mit dem Maler Max Pechstein eng befreundet, schrieb er dessen erste Monografie. Im Ersten Weltkrieg fiel er 1915 bei Soissons in Nordfrankreich.

Der 1885 geborene Bruder Hans entwickelte mit der von ihm gegründeten Hausleben-Versicherung das Geschäftsmodell der Hausratversicherung. Der Sitz seiner Firma in einem Neubau des Architekten Erich Mendelsohn in der Berliner Dorotheenstraße gab in der Filmoperette Die Drei von der Tankstelle den Firmensitz der KUTAG ab. Die Familie von Hans emigrierte während des Natio-nalsozialismus in die USA. Ihre Pechstein-Sammlung ist bis heute verschollen.

Auch der acht Jahre ältere Bruder Kurt – Werner Richard kam 1896 als Nachzügler zur Welt – entkam der Verfolgung. Als im Exilland Chile seine Approbation als Dermatologe nicht anerkannt wurde, wechselte er in die Kosmetikbranche, produzierte und vertrieb Hautcremes.
Werner Richard Heymann, dessen einziges Kind aus vier Ehen ich bin, galt als musikalisches Wun-derkind. Er erzählte in seiner Autobiografie: »Am Sonntag wurde bei uns immer Klavier gespielt. Die Eltern spielten beide Klavier, und zwar vierhändig. Das hat mir einen tiefen Eindruck gemacht. Und infolgedessen saß ich auch schon mit drei Jahren am Klavier und habe wie alle kleinen Kinder erst so drauf rumgepatscht und dann angefangen, selbst alles nachzuspielen, was ich hörte – und zwar richtig. Man beschloss, mir Musikunterricht zu geben. Ich habe dann also von meinem sechsten Lebensjahr ab Geigen-Stunden gehabt, schon mit zwölf Jahren im Sinfonieorchester gespielt, bei den Königsberger Philharmonikern. Und als ich 16 Jahre alt war, schrieb ich mein erstes Orchesterwerk.«

KK 1440 4 7 Trautwein Heymann in Koenigsberg Heymann 969x1200© Archiv Elisabeth Trautwein-HeymannEin Freund, ein guter Freund, Liebling mein Herz läßt dich grüßen, Das gibt’s nur einmal, Das ist die Liebe der Matrosen oder Irgendwo auf der Welt: Diese Lieder, die Heymann gemeinsam mit seinem kongenia-len Textdichter Robert Gilbert schrieb, sind heute noch bekannt. Doch sein kompositorisches Werk hat ein breiteres Spektrum – von Kunstliedern, Kabarettchansons, Schlagern bis hin zu Orchestralem: sym-phonische Musik, Stummfilmpartituren, amerikanische Film-Scores, französische Operetten, Bühnen-musik und musikalische Lustspiele.

Begonnen hatte mein Vater als ernster Komponist. Seine Rhapsodische Sinfonie wurde 1918 von den Wiener Philharmonikern unter Felix von Weingartner uraufgeführt und viel beachtet. Der Broterwerb brachte ihn nach dem Ersten Weltkrieg zum Kabarett. Als musikalischer Leiter von Max Reinhardts Schall und Rauch und Trude Hesterbergs Wilder Bühne schrieb er die Musik zu Texten von Walter Mehring, Klabund und Kurt Tucholsky. Damit wurde er zum Mitbegründer des literarischen Chansons.

Sein Weg führte weiter zum Film, wo er in der Stummfilm-Ära zum Generalmusikdirektor der Ufa avancierte und unter anderem die Musik für Murnaus Faust und Fritz Langs Spione schrieb. Mit Beginn des Tonfilms 1929 begründete er in zwölf Werken ein neues Genre: die Tonfilmoperette. Seine Lieder sangen in Filmen wie Die Drei von der Tankstelle, Ein blonder Traum oder Der Kongreß tanzt Hans Albers, Willy Fritsch, Lilian Harvey, Trude Hesterberg, Paul Hörbiger, Heinz Rühmann, die Comedian Harmonists und viele andere.

In den frühen 1930er Jahren war mein Vater mit seinen Filmschlagern der meistgespielte deutsche Komponist. Als die Ufa nach Hitlers Machtergreifung alle jüdischen Mitarbeiter entließ, glaubte man daher, auf ihn nicht verzichten zu können, wollte eine Ausnahme machen und bot ihm an zu bleiben. Aber er lehnte ab – und musste dann doch umgehend, mit nur zwei Koffern und 600 Mark, flüchten.

Seiner Produktivität tat das keinen Abbruch: Auf seiner ersten Exilstation in Paris schrieb er zwei Operetten und die Musik zu vier Filmen. Von dort aus pendelte er nach London und in die USA, bis er sich 1937 in Hollywood niederließ. Nach sehr schwierigen Anfangsjahren komponierte er dort die Mu-sik zu über fünfzig Filmen, unter anderem für Klassiker wie Ernst Lubitschs Sein oder Nichtsein und Ninotschka mit Greta Garbo. Er erhielt vier Oscar-Nominierungen.

1951 zog es ihn in seine kulturelle Heimat zurück, aber Deutschland hatte sich grundlegend verändert. In einem Radio-Interview klagte er: »Es ist eine merkwürdige Sache. Man kann sich zehntausendmal innerlich sagen: Sie haben es ja so gewollt, sie haben den Krieg angefangen, sie haben sechs Millionen Juden vergast – es hilft alles nichts: Wenn man die ersten zerschossenen Stadtteile sieht, überfällt einen der Gedanke, was es für ein Wahnsinn ist, dass Menschen sich so etwas antun können, und ich habe wieder einmal heulen müssen. Nicht nur aus Mitleid, sondern aus Verzweiflung, dass 2 000 Jahre nach der Bergpredigt so etwas immer noch möglich ist.«

In München lernte er die Schauspielerin Elisabeth Millberg kennen, die die Hauptrolle in einem ge-planten Film übernehmen sollte. Aus dem Film wurde nichts, aber sie bekam die Hauptrolle in Hey-manns Leben und wurde 1952 meine Mutter. Ich habe meinen Vater als sein einziges Kind in meinen ersten acht Lebensjahren bis zu seinem Tod 1961 intensiv erlebt, denn er komponierte und probte ja zuhause, und jeder Tag war voller Musik.

Zeitlebens hatte er über seinem Schreibtisch eine Stadtansicht des alten Königsberg hängen. Seit meine Familie 1912 von dort weggezogen war, war kein Heymann mehr in Königsberg gewesen. Auch mein Vater hatte nach seiner Rückkehr nach Europa nicht mehr den Mut gefunden, sich mit den Resten der zerstörten Stadt zu konfrontieren. Zu seinem 120. Geburtstag besuchte ich im Jahr 2016 seine geliebte Geburtsstadt. Dabei folgte ich der Einladung des damaligen Konsuls Michael Banzhaf, der ein ausverkauftes Heymann-Konzert mit den Kaliningrader Philharmonikern unter Arkadij Feldman im Neuen Schauspielhaus sowie eine Ausstellung über meinen Vater auf den Weg gebracht hatte.

Meine Reise dorthin war abenteuerlich lang: per Zug, Flug und Auto dauerte sie von Salzburg 16 Stunden. Trotzdem war ich hellwach und sog diese besondere Landschaft zwischen Danzig/Gdańsk und Königsberg/Kaliningrad auf. Ich versuchte, sie mit den Augen meines Vaters zu sehen, diese Weite, die immer auch ein wenig traurig macht. Die Erinnerungen, die mein Vater in seiner Autobiografie aufgeschrieben hatte, reisten mit: an seine Eltern und Brüder, an die Hauskonzerte und großen Gesellschaften im Hause Heymann, an die kalte Ostsee, in die er als Kind im Sommerurlaub immer erst baden ging, nachdem man einen Eimer heißes Wasser hineingeschüttet hatte. Oder an die Demoiselle, die als Haushaltshilfe gekommen war und nach zehn Jahren eine perfekt Französisch sprechende Familie zurückließ. Deren Mitglieder waren bei meiner Reise überall dabei. Besonders nachts, wenn ich keinen Schlaf fand oder im Wachtraum lag, saßen sie um mich herum, lächelten mich an und freuten sich, dass ich sie in der Vergangenheit besuchte. Ich bin so froh, dort gewesen zu sein. Das Zeitfenster für einen Besuch in Königsberg hat sich ja durch den Überfall Russlands gegen die Ukraine im Jahr 2022 wieder geschlossen.