Einige spielten für und einige gegen Deutschland. Manche errangen große Titel, andere wurden nur durch ein einziges Spiel berühmt. Manchen nahm der Lauf der Geschichte die besten Jahre, und wieder anderen verhalf er zum Erfolg. Viele verließen ihre Heimat, um woanders ihr Glück zu suchen. Was sie alle eint, sind die deutschen Wurzeln und das Talent in den Füßen. Eine deutsche Exil-Geschichte des östlichen Europa anhand von elf Spielern. Von Jan Mohnhaupt
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Das WM-Finale von 1954, auch als »Wunder von Bern« bezeichnet. In der 86. Minute trifft Ferenc Puskás (r.) zum vermeintlichen 3:3, aber Abseits. Hier im Zweikampf mit Werner Liebrich (2. v. r.). © ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv/Comet Photo AG, Zürich

Mit der Herkunft ist es wie mit dem Fußballklub, man sucht ihn sich nicht aus, er wird einem in die Wiege gelegt. Und so können Landsleute unversehens auf unterschiedlichen Spielhälften landen. Wie beim WM-Endspiel 1954. An diesem 4. Juli ist die deutsche Auswahl auf dem Rasen des Berner Wankdorfstadions gewissermaßen in der Überzahl. Denn auch auf ungarischer Seite stehen drei Männer mit deutschen Wurzeln. Bei ihrer Geburt hießen sie noch Franz Purczeld, Ferdinand Kaltenbrunner und Alexander Wagner. Doch auf politischen Druck mussten ihre Familien ihre deutschen Namen magyarisieren lassen. So stehen auf dem Spielbogen ihre weitaus berühmteren ungarischen Namen: Ferenc Puskás, Nándor Hidegkuti und Sándor Kocsis.

Im Juli 1954 gehören die Drei zum Herzstück der »Goldenen Elf«, der besten ungarischen Natio­nalmannschaft, die es je gegeben hat. Seit 31 Spielen sind sie ungeschlagen. Vor einem Jahr haben sie als erste Nationalelf vom Kontinent England im Wembley-Stadion mit 6:3 besiegt, und nicht nur das, sie haben die Briten zeitweise regelrecht vorgeführt. Zwei Jahre zuvor haben sie in Helsinki Olympisches Gold geholt. Ihre letzte Niederlage ist schon vier Jahre her. Nun, im WM-Finale von Bern, wartet nur der Außenseiter Deutschland, den sie in der Vorrunde mit 8:3 geschlagen haben, auf Revanche. Nach neun Minuten führen die Ungarn 2:0. Doch Deutschland gleicht noch vor der Pause aus. Vier Minuten vor Schluss schießt Helmut Rahn das 3:2, Deutschland ist Weltmeister. Und so jubelt an diesem verregneten Sommertag statt der Drei ein weiterer Spieler, der nicht in Deutschland geboren wurde. Er steht auf der anderen Seite und heißt Josef Posipal, genannt Jupp. Er stammt aus Lugosch/Lugoj im Banat, das seit den 1920er Jahren zu Rumänien gehört. Als 16-Jähriger gelangte er während des Zweiten Weltkriegs als sogenannter »Volksdeutscher« nach Deutschland, wo er über Hannover schließlich nach Hamburg zum HSV kam, bei dem er zum Nationalspieler aufstieg und schließlich im Juli 1954 Weltmeister wurde.

Helmut Duckadam ist neben Posipal der wohl erfolgreichste Banater Schwabe im Fußball. Als Posipal in Bern Weltmeister wurde, war Duckadam noch gar nicht geboren. Er kam erst im April 1959 in Semlak/Semlac zur Welt. Über die Vereine Constructorul und UTA Arad kam er zum Armeesportklub Steaua Bukarest. Mit Steaua drang er 1986 bis ins Finale des Europapokals der Landesmeister vor. Im Endspiel im südspanischen Sevilla ging es gegen den FC Barcelona. Die Vorbereitungen waren alles andere als optimal. Keine zwei Wochen vor dem Endspiel war es im ukrainischen Atomkraftwerk Tschernobyl zum Super-GAU gekommen. Infolge der Reaktorkatastrophe hatten sie in Bukarest nur sporadisch trainieren können. Dennoch schlugen sich die Bukarester gut und retteten ein torloses Remis ins Elfmeterschießen. Dort schlug die große Stunde des Helmut Duckadam.

Schon früh interessierte er sich für die Psyche der Menschen, ganz speziell die der gegnerischen Stürmer. Er liebe es, sich zu überlegen, was ihnen durch den Kopf gehe, hat er einmal gesagt. Und nie lag er dabei so richtig wie an diesem Maiabend in Sevilla 1986: Bei den ersten drei Schützen sprang er nach rechts und hielt dreimal. Beim vierten wechselte er die Seite – und hielt erneut. Steaua gewann das Elfmeterschießen mit 2:0. Es war das Spiel seines Lebens. Und leider auch sein letztes. »Nie mehr sollte er Fußball spielen. Nie mehr sollte er im Tor stehen. Und er war gerade 27 Jahre alt, endlich im richtigen Alter. Legenden entstanden«, schreibt Milan Radin im lesenswerten Roman Der Tormann. Eine Thrombose im Arm beendete Duckadams Karriere jäh. Was blieb, ist der Spitzname: Held von Sevilla. Alle paar Jahre muss Duckadam wieder für einen Fernsehsender oder eine Zeitungsredaktion über seine Heldentaten von einst sprechen. Wenn ihn etwa ein Redakteur der Banater Zeitung für ein Interview anruft, fragt Duckadam stets als erstes: »Wie wollen wir uns unterhalten – auf Rumänisch, auf Deutsch oder auf Schwäbisch?«

Während für den Banater Schwaben Duckadam die Karriere schon Mitte der 1980er Jahre endete, sollte die von Michael Klein da erst richtig in Gang kommen. Wie Duckadam war Klein, genannt »der Deutsche«, 1959 geboren worden, in Hamlesch/Amnaş in Siebenbürgen. Als Vierzehnjähriger begann er beim FC Corvinul in Eisenmarkt/Hunedoara mit dem Fußballspielen. Im Sommer 1989 wechselte er zur Mannschaft Dinamo Bukarest, mit der er auf Anhieb den rumänischen Pokal sowie die Meisterschaft gewann. Mit Rumäniens Nationalelf erreichte er anschließend bei der Weltmeisterschaft in Italien das Achtelfinale. Nach dem Sturz des Ceauşescu-Regimes bot sich ihm die Chance, ins Ausland zu wechseln. So kam der dreißigjährige Klein im Sommer 1990 nach Deutschland zum Bundesligisten FC Bayer 05 Uerdingen. Für die Krefelder absolvierte er in den kommenden drei Jahren mehr als sechzig Spiele. Klein schonte sich selbst nie und andere ihn wohl auch nicht. Erkältungen versuchte er, wie im Profisport damals üblich, einfach auszuschwitzen. So bereitete er sich im Februar 1993 mit der Mannschaft wie gewohnt auf den Start der Rückrunde vor – trotz einer verschleppten Bronchitis aus dem Herbst. Nach einem morgendlichen Waldlauf bekam er plötzlich Atemprobleme. Der Notarzt konnte ihm nicht mehr helfen. Michael Klein, den Mitspieler als »Gladiator mit sieben Herzen« bezeichneten, starb an Herzversagen. Das Stadion in Eisenmarkt, in dem er einst mit dem Fußballspielen begonnen und den Großteil seiner Laufbahn verbracht hatte, trägt heute seinen Namen.

Das Ziel, in der Bundesliga zu spielen, war für viele Spieler aus dem östlichen Europa verlockend. Einen besonders weiten Weg hat ein blonder Junge aus Westsibirien hinter sich. Andreas Beck wurde 1987 als Kind einer russlanddeutschen Familie in Kemerewo geboren. 1990 zog seine Familie ins schwäbische Aalen, wo Beck aufwuchs und mit dem Fußballspielen begann. Als Russlanddeutscher beschäftigte er sich intensiv mit der deutsch-russischen Geschichte. Auf die Frage, was an ihm russisch und was deutsch sei, antwortete Beck in einem Interview mit der Stuttgarter Zeitung 2015 mit einer Anekdote. Einer seiner Jugendtrainer habe in den 2000er Jahren, als er die größten Sprünge in der sportlichen Entwicklung gemacht habe, zu ihm gesagt: »Man sieht, dass du beides hast, deutsche Disziplin und russische Härte.« So brachte es Beck auf mehr als 400 Profispiele in Deutschland, der Türkei und Belgien und bis in die deutsche Nationalmannschaft. Mit Beck wäre die Abwehrreihe der fiktiven Nationalelf komplett.

Im Mittelfeld finden sich neben den erwähnten Hidegkuti/Kaltenbrunner und Puskás/Purczeld noch zwei freie Plätze. Diese besetzt zum einen der ebenfalls in Ungarn geborene Stefan Reisch, der 1941 in Kier/Németkér zur Welt kam. Infolge des Krieges floh seine Familie nach Deutschland und ließ sich in Franken nieder. Schon als Jugendspieler wechselte er zum 1. FC Nürnberg, für den er 1960 in der Oberliga Süd debütierte, damals eine der fünf höchsten Ligen in Deutschland. Bereits in seiner ersten Saison gewann er mit den Nürnbergern die Deutsche Meisterschaft, im Jahr da-rauf den DFB-Pokal. Reisch galt als überaus ehrgeizig, am liebsten würde der Außenbahnspieler selbst »die Ecke treten, nach innen laufen und noch ein Tor machen«, hieß es über ihn. 1962 spielte er erstmals in einem Länderspiel für Deutschland, acht weitere sollten folgen.

Zu der Zeit war Dariusz Wosz noch nicht einmal geboren. 1969 kam er im schlesischen Deutsch-Piekar/Piekary Śląskie zur Welt, 1980 nutzte seine Familie die Chance, nach Deutschland überzusiedeln. Eigentlich wollte sie nach West-Berlin, stattdessen kamen sie nach Halle an der Saale, wo der Elfjährige mit seinem fußballerischen Talent auffiel. Wosz brachte es beim HFC Chemie in der späten DDR bis zum Nationalspieler. 1990 wechselte »Darek«, wie ihn die Fans in Halle nannten, zum VfL Bochum und erspielte sich dort in 350 Partien den Spitznamen »Zaubermaus«. Mit Wosz im Mittelfeld gelang dem VfL 1997 sein bis dahin größter Erfolg – der Einzug in den UEFA-Pokal.

Rund achtzig Jahre zuvor wurde im damals noch deutschen Kattowitz/Katowice ein Fußballer geboren, der in anderen Zeiten wohl der prägende Spieler seiner Generation gewesen wäre. Obwohl Ernst Willimowski als einer der besten Stürmer der Zwischenkriegszeit gilt, wurde er in Polen wie in Deutschland lange Zeit ignoriert. Geboren wurde er 1916 als Ernst Otto Pradella, wurde aber unter dem Namen seines Stiefvaters Willimowski bekannt. An seiner Karriere lassen sich die Wirren der Geschichte zwischen Polen und Deutschland ablesen. Seine Anfänge machte er mit elf Jahren beim deutsch geprägten 1. FC Kattowitz. Mit Ruch Wielkie Hajduki, einem Vorgängerverein von Ruch Chorzów, gewann er in den 1930er Jahren vier polnische Meister-titel, und mit 1860 München holte er mitten im Krieg 1942 den Tschammer-Pokal, den Vorläufer des heutigen DFB-Pokals. Dazwischen lag eine der wechselvollsten Nationalteam-Karrieren. Mit Polen nahm er an der WM 1938 teil und traf im Achtelfinale gegen Brasilien viermal, was dennoch Polens 5:6-Niederlage nicht verhindern konnte. In 22 Länderspielen für Polen schoss er 21 Tore. Nach dem deutschen Überfall auf Polen trug er sich in die deutsche Volksliste ein. So lief er von 1941 bis 1942 achtmal für Deutschland auf, wobei er dreizehnmal traf. Seine Wechsel zwischen den Fronten brachten ihm zwar wenig Ehre, aber den Rekord ein, sowohl für als auch gegen Deutschland getroffen zu haben. Zudem rettete er ihm womöglich das Leben, da bedeutende deutsche Nationalspieler lange vom Fronteinsatz verschont blieben, wie der Sporthistoriker Diethelm Blecking schreibt. Nach dem Krieg ließ Willimowski seine Karriere in der Bundesrepublik ausklingen, dort starb er 1997. Auch wenn er zeitlebens misstrauisch beäugt oder gar ignoriert wurde, hat sich das Bild Willimowskis mittlerweile gewandelt. In seiner oberschlesischen Heimat gilt er als Identifikationsfigur für die Autonomiebewegung in der Region.

Als die DFB-Elf am Buß- und Bettag 1950 zum ersten Mal nach dem Krieg wieder zu einem internationalen Länderspiel antrat, stand auch Fritz Balogh auf dem Rasen. Er war 1920 als Teil der deutschen Minderheit in Pressburg/Bratislava zur Welt gekommen. Mit 13 Jahren hatte er beim Deutschen Sportklub Pressburg begonnen. Während des Zweiten Weltkriegs spielte er bei Hertha BSC und in sogenannten Kriegsgemeinschaften. Zudem trat er neben anderen Fußballspielern und dem Boxer Max Schmeling in einer Nebenrolle in dem Sportfilm Das große Spiel von 1942 auf. All das dürfte Balogh vor der Front gerettet haben. So steht er am 22. November 1950 beim 1:0-Sieg gegen die Schweiz im Stuttgarter Neckarstadion auf dem Rasen. Für den Dreißigjährigen ist es das erste und auch sein letztes Länderspiel. Wenige Wochen später fällt Fritz Balogh auf dem Rückweg von einem Spiel in München aus dem fahrenden Zug und stirbt.

Die Auswahl der fiktiven Nationalelf ist subjektiv – und natürlich ist es völlig unrealistisch, dass sie jemals gemeinsam gespielt hätten. Schließlich liegen zwischen dem Mannschaftsältesten – Ernst Willimowski – und dem Jüngsten – Andreas Beck – rund sieben Jahrzehnte. Und doch hat sie ihren Reiz, wenn sie an die deutschen Wurzeln im Fußball des östlichen Europa im 20. Jahrhundert erinnert.