Am 1. Mai 2004, einem Samstag, waren trotz Feiertag und Wochenende alle sieben Redakteure der deutschsprachigen Prager Zeitung im Dienst. Sie hatten sich über die ganze tschechische Hauptstadt verteilt, um an den vielen unterschiedlichen Festivitäten zum EU-Beitritt Tschechiens teilzunehmen. Wie ein Kaleidoskop sollte der Leitartikel auf der Seite Eins Stimmen einfangen, wie die Tschechen diesen Tag feierten. Die Sonne schien, Premierminister Vladimír Špidla strahlte in die Kameras, die Feiern waren gut besucht. Die Redaktionskonferenz am darauffolgenden Montag fiel trotzdem ernüchternd aus. Denn auf Tschechinnen und Tschechen waren die Redakteure kaum getroffen. Während die Touristinnen und Touristen zur tschechischen Musik tanzten und beim Feuerwerk jubelten, waren die Menschen aus Prag ihrem liebsten Hobby treu geblieben und raus aus der Stadt zur Chata, dem Wochenendhäuschen, gefahren.
»Tatsächlich war auch ich mit Freunden auf unserer Chata im Böhmerwald«, erinnert sich Zuzana Lizcová lachend: »Aber immerhin haben wir da mit einem Bier auf den Beitritt angestoßen.« Lizcová arbeitet heute als akademische Mitarbeiterin am Lehrstuhl für deutsch-österreichische Studien an der Prager Karlsuniversität. Damals kam sie als 23-Jährige gerade von einem Auslandssemester in Berlin zurück. »Für mich veränderte sich durch den Beitritt eigentlich nicht viel«, sagt sie. Die Integration in Europa hatte bereits ihren Lauf genommen, sämtliche Reisebeschränkungen waren längst aufgehoben und junge Leute konnten mit Erasmus-Stipendien im Ausland studieren. »Es war eine sehr sorglose Zeit«, erklärt Lizcová die Zurückhaltung. Auch ihr selbst sei die tiefere Bedeutung des EU-Beitritts und alle seine Vorteile eigentlich erst im Laufe der Jahre bewusst geworden. Zuletzt eindringlich durch den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine.
Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Tschechische und die Slowakische Republik, Ungarn, Slowenien, Malta und Zypern traten an diesem 1. Mai der EU bei, 2007 folgten Bulgarien und Rumänien. Es ging vor allem darum, historisches Unrecht wiedergutzumachen, sagt Günter Verheugen, seinerzeit der erste EU-Kommissar für Erweiterung und Europäische Nachbarschaftspolitik. »Diese Länder waren Opfer zuerst des Nationalsozialismus und dann des Stalinismus geworden. Jetzt hatten sie die Freiheit der Wahl, und die mussten wir nutzen und es ihnen möglich machen, Teil des sich vereinigenden Europa zu werden.« Diese Chance ergriffen die Tschechen eher zögerlich: Nur 55,21 Prozent der Wahlberechtigten nahmen an dem Referendum am 13. und 14. Juni 2003 teil, davon aber stimmten 77,33 Prozent für den Beitritt.
Damals hätten viele tschechische Menschen mehr Angst vor der EU selbst gehabt als vor irgendwelchen äußeren Feinden, sagt Lizcová. Sie erinnert sich vor allem an hitzige Diskussionen im Vorfeld des Beitritts – über die sogenannten Beneš-Dekrete. Einige Vertreter der Sudetendeutschen Landsmannschaften und Politiker aus Deutschland und Österreich hatten deren Abschaffung als Voraussetzung für die Aufnahme in die EU verlangt.
Damit verknüpft gewesen wäre ein Anspruch auf finanzielle Entschädigung für die nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte Vertreibung und Enteignung, die Edvard Beneš seinerzeit mit seinen Präsidentialdekreten legitimiert hatte. Bekannte aus dem nordböhmischen Grenzgebiet seien damals sehr besorgt gewesen, dass sie ihr Eigentum – das einst den Deutschen gehört hatte – verlieren könnten, erinnert sich Lizcová. Diese Sorge nutzten EU-Gegner, um Ängste zu schüren. Eine unheilvolle Rolle spielte dabei ausgerechnet der tschechische Präsident Vacláv Klaus. Der weigerte sich, am Beitrittstag auf der Prager Burg die EU-Flagge zu hissen, und verließ demonstrativ die Hauptstadt, um auf den Berg Blaník zu wandern. Ein symbolträchtiger Ort, an den sich nach tschechischer Sage die letzten hussitischen Streiter zurückgezogen hatten, um das Vaterland zu verteidigen, wenn es einmal in Not geraten würde.
»Die Propaganda gegen die EU fiel vor allem bei der Generation auf fruchtbaren Boden, die die Unterdrückung aus Moskau erlebt hatte«, sagt Hans-Jörg Schmidt, der seit 1990 als Korrespondent in Prag arbeitet. Sie fürchteten eine Dominanz von Brüssel, aber vor allem Deutschlands. Schmidt sagt kopfschüttelnd: »Klaus witterte überall Sudetendeutsche, die das Ruder in Tschechien übernehmen wollten.«
Die deutsche Minderheit im eigenen Land spielte dabei eine erstaunlich untergeordnete Rolle. »Die hatte immer ein gespaltenes Verhältnis zu den Sudetendeutschen in Österreich und Deutschland«, sagt Schmidt. Die Vertriebenen beklagten ihr eigenes Schicksal, aber sie hätten nicht verstanden, dass die Gebliebenen es unter den Kommunisten viel schwerer gehabt hätten. »Die verbliebenen Deutschen wurden jahrzehntelang für dieselben Jobs schlechter bezahlt als die Tschechen«, erklärt Schmidt. Dadurch seien die Renten später viel kleiner gewesen. Mittlerweile sterben die Betroffenen weg. »Aber dieses Unrecht wurde nie aufgelöst.«
Auch heute noch sei die Unterstützung für die deutsche Minderheit nicht wirklich ausgewogen, findet Schmidt. So gibt es zu wenig Deutschlehrende. Die politische Bereitschaft aber, die sei mittlerweile vorhanden. Schritt für Schritt sei das Verhältnis zwischen Deutschland und Tschechien immer besser geworden und heute sei es sehr entspannt, sagt Schmidt. Die Sudetendeutschen würden keine überzogenen Forderungen mehr stellen. Und vor allem Jüngere in Tschechien würden sich zunehmend für die Geschichte der Deutschen in Böhmen und Mähren interessieren.
Tschechiens Ministerpräsident Vladimír Špidla, der deutsche Kanzler Gerhard Schröder, Polens Premier Leszek Miller und EU-Erweiterungskomissar Günter Verheugen bei einer Feierstunde am 1. Mai 2004 in Grottau/Hrádek nad Nisou im Dreiländereck. ©IMAGO / CTK PhotoAuch Polen kann nach zwanzig Jahren EU-Mitgliedschaft eine Erfolgsbilanz ziehen: Mit Pommern, Westpreußen, dem Ermland und Masuren sowie Nieder- und Oberschlesien zählen seit 2004 große Teile von einst deutschen Gebieten zur europäischen Gemeinschaft. Die EU-Mitgliedschaft wurde auch als Abschluss der Transformation vom kommunistischen System zur liberalen Marktwirtschaft und Demokratie gesehen. Im Beitrittsprozess sollten die Kopenhagener Kriterien unter anderem den Status der Minderheiten im Einklang mit EU-Standards regeln. Im Gegensatz zu Lettland und Estland mit ihren großen russischsprachigen Minderheiten stieß Polen – wie auch Tschechien – dabei nicht auf Hürden.
Zweisprachige deutsch-polnische Ortsschilder gehören in Oberschlesien schon lange zum Alltag, auch gibt es Schulen mit besonderem Lernangebot für Angehörige der deutschen Minderheit. Unter der nationalkonservativen PiS-Regierung wurde der muttersprachliche Unterricht 2022 auf eine Stunde pro Woche reduziert, unter der aktuellen europafreundlichen Regierung wird er im September 2024 wieder auf drei Stunden erhöht. Und die Deutschen in Polen geben eigene Medien heraus, wie das in Oppeln/Opole erscheinende Wochenblatt. Dessen Chefredakteur Rudolf Urban sagt: »Die deutsche Minderheit hat mit dem EU-Beitritt Polens gewonnen.« Er führt aus, dass die Deutschen in Polen zwar schon seit langem Arbeitnehmerfreizügigkeit hatten, denn neben dem polnischen Ausweis besitzen die meisten auch den deutschen Pass und konnten somit schon vor 2004 auch westlich von Oder und Neiße arbeiten. Aber erst der EU-Beitritt machte die zweisprachigen Ortsschilder und muttersprachlichen Unterricht möglich, sagt Urban. Er erklärt, dass viele Deutsche in Polen Angehörige in Deutschland haben und sie sich im Zuge des EU-Beitritts einen erleichterten Reisefluss wünschten. Das ist vielleicht ein Grund dafür, wieso in der Woiwodschaft Oppeln, wo die meisten Deutschen in Polen leben, beim Referendum über den EU-Beitritt im Juni 2003 mit 84,88 Prozent die höchste Zustimmung landesweit herrschte. Polenweit stimmten bei einer Beteiligung von 58,85 Prozent 77,45 Prozent für den Beitritt.
Natürlich votierte nicht nur die deutsche Minderheit für die EU, sagt Michał Matheja, Projektleiter des Forschungszentrums der Deutschen Minderheit in Oppeln. Aber unter ihren Angehörigen sei die Hoffnung groß gewesen, dass das Pendeln in den Westen erleichtert werde »und vielleicht auch ganz aufhört, wenn es auch hier in der Region mehr und bessere Arbeitsplätze geben wird«.
Die sind mittlerweile in großem Maß vorhanden, sowohl in Polen als auch in Tschechien. Und in beiden Ländern wurden wieder EU-freundliche Parteien in die Regierungen gewählt. Eines der guten Ergebnisse der Erweiterungspolitik sei die Bereinigung der Probleme im deutsch-tschechischen Verhältnis, erklärt Verheugen. Und das gilt wohl für die meisten Reibungen, die es zwischen heutigen EU-Mitgliedern gab. Für Verheugen ist diese Tatsache auch der Beweis, dass die Erweiterung der EU richtig war – und auch in Zukunft sein wird. »Frieden ist in Europa nur da gesichert, wo es vereint ist«, sagt er: »Deshalb sollten wir mit der Integration fortfahren, wenngleich die Aufgaben, die vor uns stehen, sehr, sehr schwierig sind.«