Zuerst sprüht Laura Strekienė mittels eines Drucksprühers eine Grundierung, danach trägt sie mit einem Spachtel die Kalklösung auf das Mauerwerk auf. Langsam und präzise deckt sie so Loch für Loch ab. »Der Turm hatte Löcher und Unebenheiten, die sowohl biologischer als auch mechanischer Natur sind«, sagt sie. Biologisch, wenn etwa das Mauerwerk durch Sonneneinfluss porös wird. Mechanisch etwa durch Einschusslöcher im Krieg.
Es ist ein verregneter Morgen, als Strekienė und ihre Kollegin in dreißig Metern Höhe auf einem Baugerüst sitzen und am Westturm der katholischen Christi-Himmelfahrt-Kirche am Rand der Altstadt arbeiten. Beinahe wären die beiden Restauratorinnen wegen des Regens nicht hinaufgestiegen, der Gips und weitere aufzutragende Materialien sind sehr wetteranfällig. Insbesondere die Farbe, mit der am Ende auf die glatt restaurierten Wände neue Fensterimitate aufgemalt werden sollen. »Optische Illusionen sind typisch für Glaubitz«, sagt Strekienė, »sie sind leicht aufgemalt, aber von Weitem wirken sie gut.« Sechzig Meter hoch sind die Kirchtürme der Christi-Himmelfahrt-Kirche – womit neben optischen Illusionen ein weiteres Charakteristikum der Architektur von Johann Christoph Glaubitz benannt ist: überproportional hohe Kirchtürme.
Den Namen Glaubitz hatte die 26-jährige Restauratorin während ihres Studiums immer wieder gehört, wenn es um die Entwicklung ihrer Heimatstadt Wilna im 18. Jahrhundert ging, sagt sie. In der Tat spiele der 1700 im niederschlesischen Schweidnitz/Świdnica geborene Baumeister eine wichtige Rolle für die heutige Hauptstadt Litauens und ihren Titel als UNESCO-Weltkulturerbe, unterstreicht auch Jūratė Raugalienė, Mitarbeiterin bei der Staatlichen Wilnaer Altstadt-Erneuerungsagentur (Vilniaus Senamiesčio Atnaujinimo Agentūra). Diese veranstaltet unter anderem Stadtführungen und bietet Stadterneuerungsprogramme an.
»Glaubitz entwickelte einen speziellen barocken Stil, die Wilnaer Barock-Schule«, sagt Raugalienė. So stehe es auch in der Urkunde der UNESCO, mit der die Stadt an der Neris zum Weltkulturerbe erhoben wurde. »Wilna wird als die Stadt des Barocks bezeichnet und das liegt daran, dass ältere Epochen und Schichten zerstört wurden. Geblieben ist der Barock.«
Bei einem Rundgang durch die Altstadt führt Raugalienė an Gebäuden und Kirchen vorbei, die Glaubitz errichten oder vielmehr umgestalten ließ, und holt weit aus: »Es gab in Wilna im 18. Jahrhundert drei große Stadtbrände, die die Straßen und vor allem auch viele Kirchen zerstörten.« 1737 wurde Glaubitz daher von der lutherischen Gemeinde eingeladen, um ihre Kirchen wieder zu errichten. Und er blieb bis zu seinem Tod 1767.
Deutsche Siedler, die sich als Handwerker und mit anderen Berufen in der Stadt niedergelassen hatten, gab es seit dem Mittelalter in Wilna. Noch heute zeugt davon mitten im historischen Zentrum etwa die Vokiečių gatvė, die Deutsche Straße. Dort steht auch das lutherische Gotteshaus von 1739. Allerdings im Hinterhof versteckt, da Wilna damals zur mehrheitlich katholischen Rzeczpospolita, also der 1569 geschlossenen Realunion zwischen dem Königreich Polen und dem Großfürstentum Litauen, gehörte. Wer durch das unscheinbare Tor hindurchschreitet, vorbei an dem zum Reformationsjubiläum 2017 dort platzierten Luther-Denkmal, und den Kirchenraum betritt, findet eine sehr reich verzierte Barockkirche vor. Nicht alltäglich für protestantische Gotteshäuser.
Die Katharinenkirche © Markus NowakPrachtstück ist der hohe barocke Altar mit einer Geburtsszene Jesu, dem letzten Abendmahl und der Kreuzigung. Reliefs, wohin das Auge reicht. Die allerdings sind in dieser opulenten Form noch nicht so alt. »Viele Kirchen in Wilna wurden in der Sowjetzeit vernachlässigt«, sagt Raugalienė, wobei das sogar ein Euphemismus ist. In Litauen – wie in der gesamten Sowjetunion – bekämpfte Moskau die religiösen Gemeinschaften: Die unierte griechisch-katholische Kirche, seit der Union von Brest 1596 gerade in den östlichen Gebieten von Polen-Litauen durchaus bedeutend, wurde verboten, das katholische Priesterseminar in Kaunas mit KGB-Agenten infiltriert und Kirchengebäude zu Lagern oder bestenfalls zu Ausstellungsräumen »umgewidmet«. Wie die Kasimir-Kirche, ebenfalls eine Perle des Barock, die Moskau als »Museum des Atheismus« nutzte.
Die lutherische Kirche diente nach dem Zweiten Weltkrieg als Werkhalle und Sportsaal, die Innen-einrichtung wurde zerstört. Eine ähnliche Geschichte ereilte die Christi-Himmelfahrt-Kirche, deren Ost-Turm und die Hauptfassade Strekienė sowie ihre Kolleginnen und Kollegen in drei Jahren aufwändig restauriert haben, und das angrenzende Lazaristen-Kloster. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde auch dieses Ensemble von der Sowjetmacht »nationalisiert«: Während das Kloster zum Hospital wurde, diente die Kirche als Museumsdepot.
Als eine »Herausforderung« bezeichnet Mykolas Juozapavičius, der als Ökonom der katholischen Erzdiözese Wilna viele Sanierungen kircheneigener Gebäude überwacht, die marode Situation der alten Bauten im Erzbistum. Die Kirche habe Anfang der 1990er Jahre nach der Unabhängigkeit Litauens zwar zahlreiche Gebäude und Kirchen vom Staat zurückerhalten, diese allerdings in ruinösem Zustand vorgefunden. »Es ist nicht nur kirchliches Erbe, sondern auch nationales. Wir können diese Gebäude aus dem 17. oder 18. Jahrhundert nicht einfach zerstören oder verfallen lassen«, sagt der 44-Jährige. Neben der Finanzierung der Restaurierungen stellen auch die Standorte der Sakralgebäude eine große Herausforderung dar.
Rund hundert Kirchen zähle die katholische Kirchenprovinz Wilna insgesamt, sagt Juozapavičius. Davon steht etwa die Hälfte in der Hauptstadt und davon wiederum etwa die Hälfte – also fast zwei Dutzend – in der Altstadt. Doch der Großteil der Bevölkerung der Metropole wohnt heute in den Stadtteilen abseits des Zentrums. Dort hatten die Sowjets einst keinen Kirchenneubau erlaubt, mittlerweile sind jedoch Gotteshäuser entstanden. Ergo gibt es in der Altstadt zahlreiche Kirchengebäude, zu denen keine Gemeinde zählt. Deswegen stehen sie seit Sowjetzeiten leer und werden nur allmählich vom Erzbistum restauriert und teilweise umgenutzt.
Die Christi-Himmelfahrt-Kirche ist so ein Kandidat: Den Westturm wird Restauratorin Strekienė bis Ende 2023 saniert haben, aber dann steht auch noch im Kirchengebäude des Glaubitz-Baus viel Arbeit an. Ein Blick in die sonst verschlossene Kirche voller Bauschutt verrät: Wo einst die prächtigen Barockaltäre standen, finden sich nur noch leere Räume. Diese und auch die Fresken werden wohl nicht gänzlich restauriert. Das Erzbistum plant, das Barock-Ensemble zu einem modernen Kongresszentrum umzubauen und das ehemalige Kloster als dazugehöriges Gästehaus zu nutzen. 20 Millionen Euro soll das Vorhaben kosten und später einmal Einnahmen auch für weitere Kirchenrestaurierungen generieren.
So wartet gleich wenige Meter weiter die katholische Herz-Jesu-Kirche auf eine umfassende Restaurierung. Die ebenfalls spätbarocke Kuppelkirche befand sich in der Sowjetzeit innerhalb eines Gefängniskomplexes. »Irgendwann werden wir sie als Kirche wiedereröffnen«, sagt Kirchenökonom Juozapavičius. Das geht nicht allen Sakralbauten so. Er erwähnt eine weitere Glaubitz-Kirche, die heute keine sakrale Funktion mehr hat: Die einst ebenfalls katholische Katharinenkirche, außen wie innen eine Perle der Wilnaer Barockschule, ist heute ein Konzerthaus, aber vielleicht auch deshalb so stark im Bewusstsein der heutigen Bewohnerinnern und Bewohner Wilnas präsent.
Der Architekt selbst aber ist bei ihnen heute fast vergessen. »Wir haben keinerlei Denkmal für Glaubitz«, kritisiert Stadtführerin Raugalienė, nur eine kleine Straße in einem der weit entfernten Außenbezirke ist neuerdings nach ihm benannt. Auch im Rahmen des Stadtjubiläums – Wilna feiert dieses Jahr seine Gründung vor 700 Jahren – wird der Barockbaumeister nicht gesondert erwähnt.
»Das Gedenken ist kaum vorhanden, obwohl er zu den wohl wichtigsten Architekten von Wilna zählte«, sagt Raugalienė. Er arbeitete für alle drei Konfessionen, neben den Lutheranern und Katholiken auch für die Orthodoxen, und mit der Innenausstattung der einstigen Großen Synagoge könnte er gar zum interreligiösen Baumeister gekürt werden. Neben sakralen Bauten entwarf Glaubitz auch ein gutes Dutzend Herrenhäuser in der Umgebung von Wilna bis hin ins heutige Belarus. Und schließlich schuf er mit der heute zur Universität gehörenden Johanneskirche, dem Tor des griechisch-katholischen Basilianer-Klosters und der Innenausstattung der orthodoxen Heilig-Geist-Kirche weitere Wahrzeichen der Stadt.
»Er ist ein unbekannter nationaler Schatz«, schwärmt die Restauratorin Strekienė: »Ohne ihn hätten wir nicht eine solch schöne Architektur.« Und sie als Restauratorin weniger Arbeit. Dank des umtriebigen Niederschlesiers warten jedoch noch Dutzende Barockbauten im »Rom des Ostens« auf ihre Restaurierung und damit auf Erweckung aus dem Dornröschenschlaf.