Brandenburg wurde im 20. Jahrhundert mehrmals geteilt, neu geordnet und definiert. Seit dreißig Jahren setzt sich das Bundesland mit seiner Identität auseinander und nimmt dabei vor allem die 1991 entstandene administrative Einheit in den Blick. Die Erinnerung an die brandenburgische Geschichte jenseits von Oder und Neiße scheint dabei jedoch zu verblassen. Von Magdalena Abraham-Diefenbach.
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»Willkommen« steht auf dem Straßenschild in Köstrin/Kostrzyn. Die Verwaltungseinheit umfasst die frühere Neumark sowie kleine Teile des nördlichen Niederschlesien, der östlichen Niederlausitz und Teile der früheren Grenzmark Posen-Westpreußen. © Markus Nowak

Die als Folge des deutschen Vernichtungskriegs entstandene deutsch-polnische Grenze entlang von Oder und Lausitzer Neiße teilte die historische Provinz Brandenburg in zwei ungleiche Teile. Frankfurt (Oder), ein wichtiges historisches Zentrum und Sitz eines der beiden Regierungsbezirke der Provinz, wurde zu einer Grenzstadt, zerschnitten in einen deutschen und einen polnischen Teil. In der Volksrepublik Polen befanden sich plötzlich Landsberg an der Warthe/Gorzów Wielkopolski, Sternberg/Torzym oder Meseritz/Międzyrzecz. Unter diesen Orten gab es kein großes – mit Potsdam, Frankfurt oder gar Berlin vergleichbares – wirtschaftliches oder kulturelles Zentrum. Es dominierten kleinere Städte, Wald und Natur. Es ist ein Territorium im Dazwischen, das zwischen Berlin und Posen/Poznań liegt und vor allem der Raum eines Ost-West-Transitkorridors, mit einer Zugstrecke von Paris nach Moskau.

Karte: © BlochplanKarte: © Blochplan

In diesem Raum fanden die letzten Kämpfe des Zweiten Weltkrieges in Europa statt – die Weißrussische Front der Roten Armee setzte die Eroberungen im Kampf gegen die letzten Wehrmachtseinheiten unter dem Oberbefehl von Adolf Hitler fort und überquerte hier die Oder auf dem Weg nach Berlin. Todesmärsche, Erschießungen, das Massaker im Zuchthaus Sonnenburg, die Oderoffensive mit der Schlacht um die Seelower Höhen kosteten zehntau­sende Menschenleben. Gleichzeitig beendete der Sieg der Roten Armee Mord­aktionen wie jene in der Euthanasie-Vernichtungsanstalt Meseritz-Obrawalde oder tödliche Zwangsarbeit in zahllosen Lagern und Betrieben.

Und doch lebten hier am Ende des Zweiten Weltkriegs noch immer etwa 400 000 Deutsche. Viele von ihnen waren im Winter 1945 vor der Front geflüchtet, fast alle verbliebenen wurden in den ersten Nachkriegsjahren vertrieben. An ihre Stelle kamen Siedlerinnen und Siedler aus Zentralpolen, aus den an die Sowjetunion abgetretenen östlichen Gebieten Polens, aus dem Westen zurückkehrende Menschen, die zur Zwangsarbeit verschleppt worden waren, und aus sowjetischer Deportation und dem Gulag heimkehrende Polinnen und Polen. Im neuen, kommunistischen Staat begann ein Prozess der Besiedlung und Aneignung der ehemaligen deutschen Gebiete im Norden und Westen des Landes. Die westlich der Oder gelegenen Regionen Brandenburgs wurden Teil der Sowjetischen Besatzungszone, 1949 Teil der DDR und 1952 in einzelne Bezirke zerschlagen.

»Ostbrandenburg« ist ein Konstrukt, das erst nach 1945 zur Kennzeichnung des ehema­ligen Teils der Provinz Brandenburg geschaffen wurde, der infolge des Potsdamer Abkommens unter die Regierung Polens kam. Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges waren diese Gebiete keine separate administrative Einheit mit eigener regionaler Identität. Die Bevölkerung konnte sich ebenso gut Brandenburg wie der Neumark oder der Lausitz zugehörig fühlen. Die Kreise Arnswalde/Choszczno und Friedeberg/Strzelce Krajeńskie waren noch 1938 Teile der Provinz Pommern geworden. Darüber hinaus gehörten die Kreise Schwerin/Skwierzyna, Meseritz/Międzyrzecz und ein Teil des Kreises Bomst/Babimost bis 1938 zur Grenzmark Posen-Westpreußen und historisch bis zur Teilung Polens am Ende des 18. Jahrhunderts zu Großpolen.

Es gibt keine einfache, für Deutsche und Polen verständliche Bezeichnung für dieses Stück Land, und das macht auch die Erinnerung daran weniger greifbar. Im Landeshauptarchiv in Potsdam – dem großen Gedächtnisspeicher des Landes Brandenburg – werden Dokumente sorgfältig aufbewahrt und digitalisiert, die es ermöglichen, die unterschiedlichen Aspekte der Geschichte der Region – auch der histo­rischen, seit 1945 in Polen liegenden Gebiete – zu erforschen. Das Archiv arbeitet mit dem Staatsarchiv in Landsberg a. d. Warthe zusam­men und hat die Region in ihren histori­schen Grenzen im Blick. Das Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte in Potsdam berücksichtigt die Neumark in den kartografischen Darstellungen ihrer Ausstellung. Trotzdem fehlt in Deutschland ein Ort der Erinnerung etwa an Sonnenburg, Königsberg in der Neumark/Chojna oder Schwiebus/Świebodzin und an die vielfältigen Bezüge dieser Orte zu Frankfurt (Oder), Berlin, Potsdam oder Posen, Warschau, Moskau und Paris. Die Versuche, auf der Basis der Sammlungen der Stiftung Brandenburg in Fürstenwalde eine neue deutsch-polnische Ein­richtung zur Geschichte der Region in Frankfurt (Oder) zu etablieren, sind bisher gescheitert.

Die Teilung Brandenburgs 1945 bedeutete für die damalige deutsche Bevölkerung der östlichen Seite den Verlust dessen, was davor dazugehörte: des Besitzes, der Absatzmärkte, der gewohnten Topografie, der Ausflugsziele. Nach 1945 verwendete man für den in der Sowjetischen Besatzungszone verbliebenen Teil der Provinz den bisherigen Namen – Provinz Mark Brandenburg. Im Zuge der Auflösung Preußens 1947 wurde aus diesem Gebiet das Land Brandenburg, das bis zur Bezirksreform des Jahres 1952 bestand. Der Verlust der östlichen Teile der Region war ein politisch vermintes Thema.

In den 1990er Jahren wurde der westdeutsche Blick der Vertriebenen in den Osten »importiert«. Sinnbildlich dafür steht der 1999 vollzogene Umzug der Stiftung Brandenburg aus Stuttgart nach Fürstenwalde. Im Rahmen des Umzugs ist vor allem die Bibliothek der Landsmannschaft Berlin-Brandenburg in die Nähe der Heimatregion gerückt. Viele Heimatkreissammlungen wurden der Stiftung erst in der Fürstenwalder Zeit übergeben. In der bisher nur zum Teil für Wissenschaft und Publikum erschlossenen Sammlung befinden sich Dokumente, die mehrheitlich von Flüchtlingen und Vertriebenen aus der Bundesrepublik gesammelt und aufbewahrt wurden – Dokumente aus der alten Heimat, die ihre Geschichte vor 1945, während der letzten Kriegsmonate und in der Regel von Flucht und Vertreibung bewahren. Dazu kommt die sogenannte Heimatpresse, zahlreiche Periodika, in denen Berichte und Artikel über das Schicksal der Vertriebenen sowie die Geschichte der alten Wohnorte während der letzten 75 Jahre publiziert wurden.

Im letzten Bericht zur Förderung der Kulturarbeit nach dem Bundesvertriebenengesetz in den Jahren 2019 und 2020 wird Brandenburg nur im Namen des Kulturreferates für Pommern und Ostbrandenburg, das sich im weit entfernten Greifswald befindet, und im Namen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften genannt. In Bezug auf Brandenburg fördert der Bund nur einige wissenschaftliche Einzelvorhaben und das Land selbst Projekte etwa zur Digitalisierung und Erfassung der Bestände der Stiftung Brandenburg in Fürstenwalde. Die Mittel und die Aufmerksamkeit sind aber kaum mit denen für andere ehemals deutsch besiedelte Regionen in anderen Bundesländern vergleichbar.

2020 erschien eine opulente Arbeit von Peter Bahl: Belastung und Bereicherung. Vertriebenenintegration in Brandenburg ab 1945. Sie ist die erste ihrer Art und zählt über 1 700 Seiten, ein Versuch, die in der DDR lange tabuisierte Geschichte aufzuarbeiten. Etwa ein Drittel der heutigen Bevölkerung des Bundeslandes wurde laut Bahl entweder selbst östlich der Oder geboren oder besteht aus Nachfahrinnen und Nachfahren der Vertriebenen. Ihre Erinnerungen und Erfahrungen konnten sie in der DDR-Öffentlichkeit nicht teilen. Nicht nur für sie wäre ein Ort der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Zweiten Weltkrieges und der Grenzverschiebung mit ihren Folgen eine Chance, die eigene Geschichte aufzuarbeiten.

In Polen sind spätestens seit den 1990er Jahren Bemühungen spürbar, die Historie der Wohnorte auch vor 1945 zu erfassen. In den letzten Jahren wird die Geschichte der sogenannten Pionierinnen und Pioniere der 1940er und 1950er Jahre und die Rückkehr der nach Sibirien Deportierten intensiv thematisiert. Eine Auseinandersetzung mit der regionalen Geschichte kann für die heutige Bevölkerung Brandenburgs und Westpolens nicht nur tabuisiertes Leid mildern. Sie kann helfen, die Entwicklung der gesamten Region besser zu verstehen, gegenseitigen Respekt und Empathie an der deutsch-polnischen Grenze zu stärken und somit die europäische Integration zu fördern. Dazu könnte eine moderne Einrichtung direkt an der Grenze in Frankfurt (Oder) beitragen – ganz im Interesse der Bundesrepublik.