16.00 Dabei gibt es viele Erinnerungsspuren aus dem Zweiten Weltkrieg, als die Stadt unter rumänischer und deutscher Besatzung litt und mehrere Zehntausend Juden und andere Menschen ermordet wurden. Im Zweiten Weltkrieg verlor Odessa durch Deportation und Umsiedlung auch seine frühere deutschsprachige Bevölkerung, die sich nach der Gründung der Stadt 1794 hier und in der umliegenden Gegend niedergelassen und zur Blüte der Stadt im 19. Jahrhundert in eigener Weise beigetragen hatte. Mit Kaiserin Katharina II., die von 1762 bis 1796 regierte, sind zwei Politiken verbunden, die zur Blüte Odessas beigetragen haben. Zum einen eroberte Russland in dieser Zeit die Nordküste des Schwarzen Meeres und 1783 die Krim. Zudem ließ Katharina eine Reihe von Hafenstädten gründen, unter denen sich Odessa recht schnell durchsetzte, da sein Hafen weitgehend eisfrei blieb und die hier tiefere See die Anlandung größerer Schiffe ermöglichte. Russland erhielt nach einem Frieden mit dem Osmanischen Reich 1774 auch sukzessive das Recht der freien Durchfahrt für Schiffe vom Schwarzen Meer bis ins Mittelmeer. Zum anderen begann Russland seit 1762 Getreide – vor allem Weizen – zu exportieren. Das verdrängte zum Teil andere Produkte wie Hanf, Teer, Holz und Pottasche, die im 18. Jahrhundert über die Ostsee nach England exportiert wurden.
Durch eine Senkung der Zölle beförderten Katharina II. und nach 1801 auch Kaiser Alexander I. den Handel über das Schwarze Meer. Griechische, französische, italienische und andere Kaufleute gehörten zu den frühen Gestaltern und Gewinnern in diesem Handel von Odessa in den Mittelmeerraum und darüber hinaus. Lokale und regionale Staatsmänner wie der Stadthauptmann und Gouverneur Duc de Richelieu förderten den Hafenausbau, Handel und das Bevölkerungswachstum der Stadt. Seit 1805 übertraf der Export aus Odessa alle anderen Häfen am Schwarzen und am Asowschen Meer. Die politisch instabile Situation in Europa ließ die Weizenpreise auf den westlichen Märkten in die Höhe schießen. Der Schwarzmeerhandel machte zu Beginn des 19. Jahrhunderts nur vier bis fünf Prozent des Gesamthandels Russlands aus, stieg aber kontinuierlich an. Die Napoleonischen Kriege, vor allem die Kontinentalsperre Frankreichs gegen Großbritannien, der Russland beitrat, schadeten Letzterem nur kurzfristig, zumal der Handel auf dem Landweg oder über die Donau sowie der Schmuggel an Kontrollen im Mittelmeer vorbei Auswege bot. Richelieu ersuchte 1814 Alexander I., Odessa den Status eines Freihafens zu verleihen, der der Stadt schließlich 1819 gewährt wurde und bis nach dem Krimkrieg erhalten blieb.
Odessas schnell wachsende Bevölkerung war besonders im frühen 19. Jahrhundert fast ein Spiegel Europas, was besonders Reisenden auffiel, die vor oder nach ihrem Aufenthalt in der faszinierenden Stadt andere Orte Russlands besuchten. Seit den Anfängen dieser Entwicklung lebten auch deutsche Handwerker, Unternehmer und Kaufleute in der Stadt. Die Deutschen haben bis heute auch deshalb einen prominenten Platz in der historischen Erinnerung an und in der Geschichtsschreibung über das alte Odessa dieser Epoche.
Dabei konnte sich auf Dauer in der kleinen, sehr wohlhabenden und international tätigen Kaufmannselite der Stadt nur die Familie Mahs etablieren. Ein Spross der ursprünglich aus Hamburg stammenden und seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in St. Petersburg ansässigen Familie ließ sich 1837/38 in Odessa nieder und gründete dort das Handels- und Bankhaus Ernst Mahs und Co., das eng mit Hamburg, St. Petersburg, London und Liverpool verbunden und schnell zu einem der führenden Handelshäuser der Stadt wurde.
Ernst Mahs (1807–1880) stieg in den 1860er Jahren sogar zum führenden Getreideexporteur Odessas auf. In der Folge übernahm er einflussreiche Ehrenämter, etwa das eines Konsuls für Hannover, Hamburg und Preußen, seit 1860 zunächst als Generalkonsul für Preußen, dann für den Norddeutschen Bund und das Deutsche Reich.
Ernst und Thomas, die beiden Söhne von Ernst Mahs, führten die Firma bis zu deren Liquidation im Jahr 1901/02 weiter. Miteigentümer war der 1829 in Riga geborene Eugen Schulz (1829–1909), der 1860 in den Dienst des Handelshauses Mahs eingetreten war und ihm bis zur Abwicklung verbunden blieb. Er war einer der wenigen aus den baltischen Provinzen stammenden Deutschen in den etablierten deutschen Wirtschaftskreisen in Odessa. Familienmitglieder der Mahs lebten noch weiter in der Stadt, verließen sie aber spätestens und endgültig nach 1917.
Aufstieg und Niedergang des Handelshauses Mahs spiegeln die Bedeutung Odessas im internationalen Getreidehandel im 19. und im frühen 20. Jahrhundert, denn seit dem späten 19. Jahrhundert holten andere Städte am Nordrand des Schwarzen Meeres gegenüber Odessa auf und dessen Entwicklung stagnierte. Deutsche Kaufleute und Unternehmer waren aber auch in anderen Geschäftsbereichen präsent.
Das Beispiel des Handelshauses Wagner zeigt dabei ein ganz anderes Mobilitätsmuster. Der Kaufmann der Ersten Gilde und württembergische Untertan Wilhelm Friedrich Wagner handelte seit 1833 mit Galanteriewaren, Manufakturwaren und Maschinen. Seine Adresse im Stadtzentrum gehörte in den 1880er Jahren in der schnelllebigen Stadt bereits zu den alten und etablierten Handelshäusern. In den 1860er Jahren pries ein Stadtführer die Qualitätsartikel des Geschäfts wie Silbergeschirr, Leinen-, Woll-, Seiden- und andere Stoffe, aber auch Lederwaren, optische Instrumente sowie Tee und Havanna-Zigarren. Nach Friedrich Wagners Tod führten ab 1882 der Schwiegersohn Karl Rink-Wagner und ab 1895 dessen Sohn Karl Wagner das Geschäft weiter.
Im Unterschied zu Mahs stammte der Firmengründer jedoch nicht aus einer alten Kaufmannsfamilie, sondern aus den Kreisen der Siedler, die sich seit dem frühen 19. Jahrhundert im Umkreis der Stadt niedergelassen hatten. Er war keineswegs der einzige. Auch die Gründer weiterer deutscher Waren- und Handelshäuser waren aus dem Siedlerstand aufgestiegen, und boten Güter für die weitere Besiedelung des Landes an, wie Eisen-, Stahl- und Metallwaren, Landmaschinen und Kunstdünger.
Diese enge Verbindung mit dem Dorf und der Landwirtschaft war auch für die industriellen Unternehmungen von Deutschen in Odessa typisch. Die Stadt hatte vor 1917 keine größeren Industriebetriebe mit einer Arbeiterschaft. Aus der Reparaturwerkstatt des seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Landwirtschaftsgeräte und -maschinen verkaufenden Handelshauses Bellino-Fenderich entstand Anfang der 1870er Jahre die gleichnamige Fabrik für die »Herstellung landwirtschaftlicher Güter und Maschinen«. Aus dem Handwerk hingegen formierte sich die Landmaschinenfabrik von Johann Höhn, die Anfang des 20. Jahrhunderts florierte und ihre Maschinen in der ganzen Südukraine und darüber hinaus verkaufte. Beide Fabriken gehörten mit zu den größten und prominentesten der Stadt vor dem Ende der Zarenzeit und sie gehörten zum deutschen Erbe Odessas. Sie verweisen auch auf die deutschen Siedlungen im Umland sowie die größere Zahl deutscher Handwerker in der Stadt im 19. Jahrhundert.
Spätestens mit der Sowjetherrschaft in der Ukraine kam diese Geschichte an ein Ende. Dabei lebte auch weiterhin eine deutschsprachige Bevölkerung in der Stadt und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erinnerte sich die ältere Generation nicht nur an die nationalsozialistisch-rumänische Schreckenszeit, sondern auch an dieses ältere Erbe.
Die große Vergangenheit Odessas ist ein Versprechen auf eine goldene Zukunft, denn die bisherige Geschichte erscheint abgebrochen. Als eines der wenigen Erinnerungszeichen aus dem 19. Jahrhundert ragt dabei die 1896/97 erbaute und von 2005 bis 2010 restaurierte evangelische Kirche St. Paul der deutschen Gemeinde ins 21. Jahrhundert hinein.