Bereits zu Zeiten der Hanse war Riga eine wichtige Handelsmetropole und spielte eine bedeutsame Rolle im Ost-West-Handel. Ihre goldene Ära erlebte die Stadt an der Düna/Daugava in unmittelbarer Nähe zu deren Mündung in die Ostsee jedoch im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, als sie zum Russländischen Kaiserreich gehörte. In dieser Zeit entwickelte sie sich zum umsatzstärksten Hafen Russlands, noch vor St. Petersburg und Odessa. Daran war nicht zuletzt das deutschbaltische Handelshaus Helmsing & Grimm beteiligt. Von Katja Wezel
März 2023 – Kulturkorrespondenz östliches Europa № 1434
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Ein Schiff fährt im Morgengrauen den Rigaer Hafen an. Foto: © InfinitumProdux/AdobeStock

Riga war seit dem 13. Jahrhundert als Exporteur von Agrarprodukten — vor allem Flachs, Hanf, Getreide und Holz — aus dem baltischen Hinterland nach Westeuropa bekannt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konnte es sein Handelsnetz durch den Anschluss an das russische Eisenbahnnetz 1861 und dessen Ausbau nach Sibirien zum Ende des 19. Jahrhunderts bis nach Asien ausdehnen. Mit Erfindung der Dampfschifffahrt erschloss es sich auch den amerikanischen und sogar den australischen Markt, letzterer vor allem als Abnehmer von Holz. Außerdem erlaubten technische Neuerungen wie zum Beispiel die Erfindung der chemischen Kühlung mit Ammoniak den Handel mit verderblichen Produkten. So kam es, dass russische Butter und Eier nach Duisburg, Köln oder London verschifft wurden. An letzterem hatte das Handelshaus und die Reederei Helmsing & Grimm besonders großen Anteil.

John Helmsing und Eduard Wilhelm Grimm begründeten 1836 das Handelsunternehmen Helmsing & Grimm. Zunächst importierte es vor allem landwirtschaftliche Maschinen aus England und exportierte Agrarprodukte aus dem Baltikum und Russland nach Westeuropa. Die Firma unterhielt ausgedehnte und weit verzweigte Handelsbeziehungen, vor allem zu Rigas wichtigstem Handelspartner Großbritannien. Der erstgeborene Sohn des Mitgründers, Johann Eduard (Edward) Grimm, trat in die Fußstapfen seines Vaters. Er erlernte sein Metier in den 1860er-Jahren bei einem Liverpooler Handelshaus und war zeitweise sogar in Bombay tätig — wovon seine im Rigaer Archiv erhaltenen Briefe an seinen Vater zeugen. 

Die Familien Helmsing und Grimm waren nicht nur durch geschäftliche, sondern auch durch verwandtschaftliche Beziehungen miteinander verbunden. Eduard Wilhelm Grimm hatte 1829 Pauline Helmsing geheiratet. Die Familie Helmsing war im 16. Jahrhundert aus den Niederlanden eingewandert, die Grimms stammten aus Lübeck. Schon Eduard Wilhelms Vater hatte eine Zeitlang in Riga Geschäfte betrieben und eine Rigenserin geehelicht, war dann aber zunächst nach Lübeck zurückgekehrt. Doch wirklich langfristig im Ostseegouvernement Russlands ansässig wurde die Familie unter Eduard Wilhelm Grimm selbst. 

Beide Familien gehörten jenem deutschen Milieu an, das bis zum Ersten Weltkrieg und der Ausrufung der lettischen Republik in der Stadt tonangebend war. In der Volkszählung von 1867 stellten die Deutschen mit 43 Prozent noch die relative Mehrheit der Einwohner Rigas, Letten machten zu diesem Zeitpunkt rund 24 Prozent aus. Dies änderte sich erst zum Ende des Jahrhunderts durch die Urbanisierung und den Zuzug zahlreicher lettischer Arbeiter und Arbeiterinnen aus dem Umland. 1897 stellten die Deutschen nur noch 24 Prozent der Bevölkerung, während die Zahl der lettischen Einwohner auf 45 Prozent angewachsen war. Trotzdem war Deutsch bis zum Ersten Weltkrieg eine bedeutende und von vielen Einwohnern gesprochene Sprache und blieb unter den Angehörigen der politischen Elite und in Kaufmannskreisen tonangebend. 

1869 ließ sich Eduard Wilhelm Grimm ein neues Haus in der Altstadt im Stil der Neorenaissance errichten. Wie für Kaufmannshäuser üblich, befand sich im Erdgeschoss zur Straße hin das Konto . Die hinteren Erdgeschossräume wurden als Speicher genutzt. Im ersten Stock befand sich die »Bel Étage« – im Konstruktionsplan des Hauses auch so ausgewiesen – wozu ein Entrée, ein Salon, ein Speisezimmer und ein Herrenzimmer gehörte. Das neue Wohnhaus der Grimms in der Sandstraße war nur einen Steinwurf von der zwischen 1852 bis 1855 erbauten Rigaer Börse entfernt. Es entwickelte sich schnell zu einem beliebten Treffpunkt der bürgerlichen städtischen Gesellschaft. Eduard Wilhelm Grimm war von 1852 bis 1867 einer von vier Bürgermeistern. Zuvor hatte er bereits als Präses des einflussreichen Rigaer Börsen-Comité gewirkt, das für die Modernisierung, den Erhalt und den Ausbau des Hafens zuständig war und daher für die Entwicklung der Stadt zur modernen Hafenstadt entscheidende Impulse gab.

Nach dem Tod ihrer Väter übernahmen Carl Alexander Helmsing und sein Cousin Eugen Helmsing (1840-1903 die Firmenleitung. Unter ihrer Ägide etablierte sich das Handelshaus als wichtigste Reederei der Stadt. Von 1873 an fuhren ihre Schiffe unter Flagge des Russischen Reichs und mit blau-weißer Fahne — weißer Wimpel mit blauem Ball — den Farben Rigas. Bis zum Jahre 1914 baute das Unternehmen seine Flotte auf 16 Dampfschiffe aus und war damit die größte in der Ostsee operierende, russländische Schifffahrtsgesellschaft. 

Gemeinsam mit ihrem dänischen Partner, dem Kaufmann Axel Caroe, investierte das Handelshaus außerdem in den aufstrebenden neuen Markt mit Milchprodukten aus Zentralrussland und Sibirien. Helmsing & Grimm war federführend in der Erschließung Sibiriens und Südrusslands als Exporteur für Butter, Eier und Geflügel. Es ist unter anderem der Weitsichtigkeit der beiden Geschäftsführer zu verdanken, dass der Rigaer Hafen in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts zum Hauptexporteur russischer Eier nach Westeuropa aufstieg. Bis 1907 war er auch ein wichtiger Umschlagplatz für Butter. Später wurde der Butterexport weitgehend vom Hafen Windau/Ventspils übernommen, wo Helmsing & Grimm eine Handelsniederlassung hatte und also weiterhin davon profitierte. 

1901 kaufte Helmsing & Grimm von der britischen Firma Thomas Wilson Sons & Company die ersten drei Dampfschiffe mit integrierter Kühlvorrichtung. Die wichtigsten Abnehmer für Eier und Butter waren die Häfen in London und Hull. Der englische Konsul in Riga, Arthur Woodhouse, berichtete 1901 erstmals von der Einrichtung einer schnellen Dampfschiffverbindung von Riga nach England.  Um die Kühlung während der gesamten Stecke zu gewährleisten, erhielten auch die Züge der russländischen Staatseisenbahn Kühlwaggons. Von der wichtigsten sibirischen Station Kurgan aus waren die Züge 16 Tage nach Riga unterwegs und von dort aus per Dampfschiff weitere 2-4 Tage nach Westeuropa. Nach der Fertigstellung des Nord-Ostsee-Kanals, bis 1948 Kaiser-Wilhelm-Kanal, 1895 verkürzte sich die Fahrzeit von Riga nach Hamburg auf nur zwei Tage, weil die Schiffe nicht mehr durch den dänischen Sund an Kopenhagen vorbeifahren mussten. Außer England belieferten die mit Milchprodukten beladenen Schiffe von Helmsing & Grimm vor allem die deutschen Rheinhäfen. 

Damit die Kühlung auch während möglicher Wartezeiten im Hafen von Riga aufrechterhalten werden konnte, finanzierte ein Londoner Bankhaus 1902 den Bau eines Kühlhauses im Rigaer Hafen, das erste seiner Art in einem Hafen des Russländischen Kaiserreichs. Es befand sich direkt an der Düna und war außerdem an die Eisenbahn angeschlossen, so dass verderbliche Waren aus den Eisenbahnwaggons entweder direkt auf die Schnelldampfer verladen oder hierher zur Zwischenlagerung gebracht werden konnten. Das Kühlhaus war mit einer modernen Ammoniak-Kühlung ausgestattet und bot mit drei Stockwerken und Lagerräumen von insgesamt 460.000 Kubikfuß ausreichend Platz. Wie aus einem Antwortschreiben auf die Anfrage des damaligen Hafenbauingenieurs Arnold Pabst ersichtlich ist, lagerten hier im Jahr 1909 neben Eiern und Butter auch Geflügel, Wild, Fleisch, Fische und Früchte.

Die Glanzzeit des Rigaer Hafens und damit auch der Firma Helmsing & Grimm endete mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Der Handel auf der Ostsee kam für vier Jahre zum Erliegen. Nach dem Krieg konnte sich Helmsing & Grimm zwar zunächst im unabhängigen Lettland der Zwischenkriegszeit in kleineren Maßstab neu etablieren. Aber im November 1939 endete mit der im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes verhandelten Umsiedlung der Deutschbalten die Geschichte des Handelshauses in Riga. Nach der Umsiedlung der Deutschbalten in den von Deutschland besetzten Teil Polens, der auch die Familien Helmsing und Grimm folgten, registrierte sich das Unternehmen Helmsing & Grimm zunächst in Danzig/Gdańsk. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges wechselte es seinen Sitz nach Hamburg. Dort führte John C. Helmsing die Reederei bis 2021 fort. Dann verkaufte er die letzten drei Frachter und löste damit die Flotte des alten Traditionshauses auf.

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KK – Kulturkorrespondenz östliches Europa
Ausgabe № 1434 | März 202
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mit dem Schwerpunktthema: 
Handel: Zwischen Hanse und Big Business