»Auf diesem Grabstein sieht man eindeutig, dass schon mal jemand nachgebessert hat. Hier sind es etwa drei Schichten – schwarz, weiß und gelb. Es gab also schon andere, die so verrückt waren wie ich«, sagt Rita Begenat während sie im dichten Gras vor einem maroden Grabstein hockt und sachte mit dem Zeigefinger über die eingemeißelte Inschrift fährt. Die gebürtige Litauerin kennt jeden Stein auf dem jüdischen Friedhof in Georgenburg/Jurbarkas, der etwas außerhalb der Stadt, nahe dem Fluss Memel/Nemunas, nie mehr als ein paar flüchtige Blicke auf sich zieht. Seit ihrer Kindheit kommt sie an diesen Ort, zum Lesen und Nachdenken. So wuchs mit dem Alter die Neugier, erklärt Rita: »Als Kind habe ich mich immer gefragt, warum sich niemand um diese Gräber kümmert und welche Geschichten hinter diesen mystischen Buchstaben stecken.«
Getrieben von ihrem Wissensdurst ging sie mit 18 Jahren in die litauische Hauptstadt Wilna/Vilnius, erfüllte sich ihren Lebenstraum mit dem Studium der hebräischen Sprache und kam schließlich nach Georgenburg zurück, um sich auf Spurensuche zu begeben. Unterstützung hatte sie dabei keine. Als die zierliche Frau Anfang der 2000er Jahre ganz allein damit begann, die schweren Grabsteine auszugraben, aufzustellen und die Inschriften zu säubern und nachzumalen, wurde sie von der hiesigen Gemeinde nur belächelt. Sie sagt: »Niemand nahm mich ernst oder half mir. Irgendwann wurde wenigstens der Rasen gemäht.«
Die litauischen Behörden und auch die Jüdische Gemeinde Litauens hatten nur wenig Interesse an der Sanierung verwahrloster Friedhöfe, von denen es zahlreiche entlang der memelländisch-ostpreußischen Grenze gibt. Der Erinnerung an die Juden, die im Zweiten Weltkrieg erschossen und in Massengräbern verscharrt wurden, wird zwar durch Denkmäler und Inschriften bewahrt, doch die Ruhestätten selbst erfahren wenig Respekt und Pflege.
Dank einiger jüdischer Organisationen aus den USA und der Jüdischen Gemeinde von Kaunas erhielt der Friedhof in Georgenburg im Herbst 2006 einen neuen Zaun, und auch Litauen setzt sich mehr und mehr mit dem jüdischen Erbe und der eigenen Rolle im Holocaust auseinander.
Rita geht dieser Aufarbeitungsprozess viel zu langsam und auch nicht entschieden genug. Immerhin, erinnert sie, galten Städte wie Wilna einst als das Jerusalem des Nordens und auch das Memelland profitierte vom geistlichen und wirtschaftlichen Treiben der jüdischen Gemeinschaften. Das Memelland umfasste die damaligen Kreise Memel, Heydekrug, Tilsit, Ragnit und Pilkallen bis an die Ostsee. Heute zeugen von seinen Umrissen nur noch Grenzsteine und ein zerbrochener Brückenabschnitt, der den Lauf des kleinen Flüsschens Swentoje/Šventoji kreuzt, das in die Memel fließt.
Šventoji bedeutet im Litauischen »die Heilige« und historisch ist der Fluss die Grenze zwischen den baltischen Stämmen der Schalauer (lit. skalviai) und der Aukschtaiten (lit. aukštaičiai). Im 15. Jahrhundert, nach den langjährigen Kämpfen und dem Frieden von Melnosee im Jahr 1422, siedelten sich hier die ersten jüdischen Gemeinschaften an, und auch das Flussbett wurde erstmalig auf Karten festgehalten. Ab diesem Zeitpunkt bildete der Fluss die Grenze zwischen dem Litauischen Großfürstentum und dem Deutschen Ordensstaat, ab 1569 mit Polen-Litauen, später dann zwischen dem Deutschen und dem Russischen Reich.
Immer wieder kamen jüdische Zuwandernde aus den benachbarten Regionen. Im Gegensatz zu den Nachbargebieten siedelten sich die Gemeinschaften im Memelland verstreut auf Dörfern und Einzelgehöften an und nicht wie üblich in Städten. Nur diejenigen, die beruflich erfolgreich waren, wanderten in größere Ortschaften wie Tilsit oder Memel ab. Das von litauischen, deutschen, polnischen, belarusischen, russischen und jüdischen Gruppen bewohnte Grenzland war buchstäblich ständig im Fluss. Dank der Nähe zur Memel waren Städte wie Ruß/Rusnė oder Georgenburg, jiddisch Yurburg, wichtige Handelszentren für Waren wie Holz, Leinen, Saatgut sowie Lebens- und Futtermittel, die nach Westeuropa exportiert wurden. Ihren Lebensunterhalt bestritten einige jüdische Familien in Georgenburg daher mit dem Betrieb von Dampf- und Frachtschiffen, die zwischen Ruß und Kaunas pendelten. Eine wichtige Beschaffungsquelle, denn viel Industrie gab es entlang der buschreichen Memelschleifen nicht.
Andere hingegen betrieben Handel mit Strickwaren, Haushaltsgütern und Lebensmitteln, die jeden Montag und Donnerstag von Juden und Litauern auf dem Markt in Georgenburg neben der großen Holzsynagoge vertrieben wurden. 1790 im architektonischen Stil des Mittelalters erbaut, war diese heilige Stätte einer der wichtigsten touristischen Anziehungspunkte der Stadt, bis die Nationalsozialisten sie niederbrannten. Daneben gab es kleinere Gebetshäuser, eine jiddische und eine hebräische Schule und zwei Bibliotheken, gelegen am Park »Tel Aviv«. Er bildete das Zentrum des Schtetls, wie Siedlungen mit hohem jüdischem Bevölkerungsanteil bezeichnet wurden. Jeden Sonntag wurde hier für Unterhaltung gesorgt, getanzt, Sport getrieben oder musiziert.
»Yurburg ist alles für mich. Eine Welt voll von Erinnerungen und Rückblicken. Eine Stadt, die ein nie verborgener Traum ist. Yurburg ist immer in meinen Gedanken, sie ist groß und schön, die schönste Stadt der Welt. Mein Yurburg ist voller Liebe für das Volk Israel und die Liebe eines Menschen zum anderen. Mein Yurburg ist Tora und Weisheit, Kultur und eine Quelle«, schreibt der Holocaust-Überlebende Shlomo Goldstein für das Gedenkbuch der Jüdischen Gemeinde von Yurburg, 1991 in Hebräisch und Englisch publiziert. Zahlreiche liebevolle, detailreiche und erschütternde Rückblicke sind in dem 524 Seiten umfassenden Buch zu finden. Für alle der über hundert erwähnten Zeitzeugen war das Grenzstädtchen eine grüne Oase, umgeben von Feldern und Kiefernwäldern und – wenn auch nicht immer harmonisch – Heimat für Juden und Christen aller Berufsstände.
Die Nähe Georgenburgs zur deutschen Grenze war »ein Fenster zum europäischen Lebensstil«, schreibt in einem weiteren Kapitel Dov Levinberg und fährt fort: »Nach und nach übernahmen die Juden der Stadt den westeuropäischen Lebensstil. Sie lernten die deutsche Sprache und Kultur, trugen aus Deutschland importierte Kleidung und kauften deutsche Werkzeuge und Produkte.« Und wenngleich das Memelland politisch von Berlin gesteuert wurde, so war die Provinz, mit all ihren Bevölkerungsschichten und Minderheiten wie den Juden, in wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Hinsicht seit jeher geprägt von der unmittelbaren Nachbarschaft zu Russland, Litauen und Polen, so die Osteuropahistorikerin Ruth Leiserowitz. Ihr ist es zu verdanken, dass die wenigen Zeugnisse jüdischen Lebens in Ostpreußen heute ein kohärentes, wenngleich auch nur bruchstückhaftes Bild ergeben.
Frühere historische Quellen über jüdisches Leben birgt das Zentrum des Memellandes, die 1252 vom Livländischen Orden gegründete Hafenstadt Memel/Klaipėda, etwa 150 Kilometer von Georgenburg entfernt. Die erste schriftliche Erwähnung stammt aus dem Jahr 1567 und berichtet von einer städtischen Ausweisung der Juden durch den preußischen Herzog Albrecht auf Druck der Protestanten wegen wachsender Konkurrenz in verschiedenen Wirtschaftszweigen. Hundert Jahre später holte der Kurfürst Friedrich Wilhelm die Juden zurück, in der Hoffnung, den wirtschaftlichen Werdegang der Region anzukurbeln.
Im Archiv der Stadt findet sich auch eine Sondergenehmigung für einen festen Wohnsitz in Memel, die der jüdisch-niederländische Kaufmann Moshe Yaakovzon de Jonge 1664 erhalten hatte. Dessen Name ist eng mit dem wirtschaftlichen Aufschwung des Hafens verbunden, er förderte die Entstehung des Linienverkehrs für Handelsschiffe, den Ausbau der Werften und anderer handwerklicher Betriebe. Auch der Rabbiner und zionistische Wegbereiter Isaak Rülf (1865–1898) hinterließ viele Spuren. Rülf, geboren im hessischen Rauischholzhausen, setzte sich vor allem für russische Juden sowie jüdische Emigranten ein und organisierte Hilfswerke, die Umsiedlungen nach Übersee ermöglichten. Er gründete die wichtigste Zeitung der Stadt – das Memeler Dampfboot, das bis zum heutigen Tage publiziert wird. 17 000 Exemplare umfasste die Auflage in Hochzeiten – heute sind es noch 3 000, produziert in Oldenburg. Früher und radikaler als in anderen Gebieten Europas wurde die jüdische Bevölkerung 1941 im Memelland und ganz Litauen verfolgt und fast vollständig ermordet. Heute leben etwa viertausend Juden in Litauen, zweihundert davon in Memel. Die multiethnische Vielfalt eines wirtschaftlich, sozial und kulturell erfolgreichen Lebensraums ist unwiederbringlich verschwunden. Was allezeit bleibt, ist das Faszinosum dieser historisch so reichen Landschaft.
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Der Artikel erschien im Magazin
KK – Kulturkorrespondenz östliches Europa
Ausgabe Nr 1431 | September/Oktober 2022
mit dem Schwerpunktthema:
Stadt. Land. Fluss. Memel(Land)