Iwano-Frankiwsk | Foto: © Markus Nowak
Die heute mit etwa 240 000 Einwohnern mittelgroße ukrainische Stadt Stanislau/Iwano-Frankiwsk war einst wichtiger Knotenpunkt der Lemberg–Czernowitzer Bahn und der Staatsbahnlinie Stryj–Husiatyn. Die 1894 errichtete Strecke, die von hier durch die malerische Heimat der Bojken und Huzulen in die ehemals ungarische, heute rumänische Grenzstadt Marmaroschsiget (rumän. Sighetu Marmației, ung. Máramarossziget, ruth. Sihota) führte, war die schönste Gebirgslinie in Galizien. Aber wie selbst dieses technische Meisterwerk von den Landschaften des südlichen Ostgalizien in den Schatten gestellt wird, davon kann man sich in Werchowyna (poln. Żabie) ein Bild verschaffen – einem Ort in der von Huzulen bewohnten Gegend um Tschornohora, dem höchsten Gebirgszug der Ostkarpaten mit dem 2 061 Meter hohen Gipfel Howerla.
Im 19. Jahrhundert waren die farbenfroh gekleideten Huzulen auch in Stanislau oft zu sehen. Ähnlich wie die Goralen aus dem Karpatenvorland am Fuße des Tatra-Gebirges wurden die Huzulen zum Objekt ethnografischen Interesses. Ihr »Entdecker« war der bretonische Naturforscher und Alpinist Belsazar Hacquet, der ab 1787 als Professor für Naturgeschichte in Lemberg wirkte. Er beschrieb sie genauso akribisch wie der 1866 in der Bukowina geborene Historiker und Ethnograf Raimund Friedrich Kaindl, der aus dem böhmischen Stößer (tsch. Stěžery) stammende und zwi-schen 1877 und 1890 auf einem Bauernhof bei Lemberg lebende Autodidakt František Řehoř oder der 1881 im ostgalizischen Komarno geborene Kunsthistoriker und Geograf Mieczysław Orłowicz. Letzterer beginnt seinen 1914 erschienenen Reiseführer mit der beherzten Empfehlung, die Ostkarpaten zu erkunden. Besonders frappierend sind die diversen Hypothesen über die Herkunft der Karpatenhirten: Danach stammen sie von den Goten, Skythen, Kumanen, Mongolen, byzantinischen Kaisern oder dem russischen Fürstengeschlecht der Rurikiden ab, seien also letztendlich warägischer, also skandinavischer Herkunft. Solche Annäherungsversuche machen deutlich, dass Ostgaliziens Karpatenlandschaft reichlich Stoff bot für Märchenhaftes und Mythenbildendes – beides nicht zuletzt im Dienst eines späten Nationsbildungsprozesses, der Mittel- und Osteuropa gegen Mitte des 19. Jahrhunderts erfasste.
Um 1900 verschlug es auch Alexander Granach als kleinen jüdischen Bäckergesellen nach Stanislau. In einer wenige Kilometer südlich vom Ringplatz gelegenen Gasse in der Nähe des ärmlichen Stadtviertels Opryszowce (ukr. Opryschiwzi), in dem es von Hurenhäusern, Zuhältern, Dieben und Drückebergern nur so wimmelte, fand er auf Vermittlung seines Bruders Leibzi Arbeit in einer Dampfbäckerei des Meisters Pietrogradski. Als sogenannter Jidl für alles musste er sich sechzehn bis achtzehn Stunden am Tag abrackern: Mehlsäcke hereinschleppen, Öfen heizen, Mehl sieben, Sauer für den Teig anrühren, die Bretter mit dem rohen Gebäck an die kühle Luft hinaustragen, damit es nicht übergärte, und es dann wieder zum Ofen bringen. Erschöpft wie ein Toter, schlief er auf den kalten Fliesen der Bäckerei, bis er mitten in der Nacht mit Stößen und Schlägen aus dem kurzen Schlaf gerissen wurde, weil die neue Backschicht begann.
Nach einem Streik der Stanislauer Bäckermeister, in den Granach verwickelt gewesen war, verlor er seine Arbeit. Aber die Kreisstadt Stanislau bewahrte er in guter Erinnerung, wie er in dem Buch Da geht ein Mensch festhielt: »Stanislau war die nächstgrößte Stadt nach Lemberg. Da fuhr schon eine elektrische Bahn in die Vororte, da war die Garnison vom Achtundfünfziger-Infanterie-Regiment, da waren auch Ulanen und Dragoner stationiert und das Artillerie-Regiment, bei dem mein Bruder diente. Das Städtchen sah aus wie ein Puppenheim. Es gab schöne mehrstöckige, weiße Häuser und Anlagen und Gärten und Blumen und Baum-Alleen, einen sauberen, großen Marktplatz und reiche Geschäftsauslagen; und abends brannten die elektrischen Lampen. Da gab es Kaffeehäuser mit Musik und einer Passage, wo man sich traf, und Restaurants. Da war Fülle und Lustigkeit und lachende Begeisterung. Da gab es Tanzsäle und Vergnügungslokale. Nur war alles frecher, freier, leichter; es steckte an, jeder lachte und scherzte und hatte seine Rendezvous. Man sprach polnisch und deutsch und ukrainisch und jiddisch, und alle benahmen sich so wichtig, und alle waren so geschäftig und aufgeregt.« Um die Jahrhundertwende hatte die Stadt rund 30 000 polnische, deutsche oder ruthenische Einwohner, fast die Hälfte davon waren Juden, die als Händler und Straßenverkäufer auf dem Marktplatz und in den benachbarten Gassen Schmieröl, Fruchtgelee, Seifen, Rasierklingen, Bürsten oder Zwiebel- und Knoblauchkränze feilboten. 1921 gab es im wieder polnisch gewordenen Stanisławów 730 jüdische Familienunternehmen, 726 jüdische Geschäfte sowie 130 jüdische Rechtsanwälte. 1927 waren im Stadtrat vier Polen, drei Juden und ein Ukrainer vertreten, und der Zionist Aleksander Biterman bekleidete bis 1931 das Amt des stellvertretenden Bürgermeisters.
Iwano-Frankiwsk von oben | Foto: © Markus Nowak
Der Zweite Weltkrieg und die damit einhergehenden polnisch-ukrainischen Konflikte, die von Stalin und den westlichen Siegermächten willkürlich festgelegten Grenzverschiebungen und Zwangsaussiedlungen erfassten auch Stanislau. Bekannte Stanislauer Polen, etwa der Publizist Daniel Passent, der Sportjournalist und Übersetzer ungarischer Literatur Tadeusz Olszański oder die großen Theater- und Filmschauspieler Zbigniew Cybulski und Anna Seniuk mussten mit ihren Familien die Stadt verlassen. Während die polnischen Spuren ihrer Geburtsstadt, etwa der alte katholische Friedhof an der Sapieżyńskagasse, ausgelöscht wurden, kamen viele »Repatriierte« im oberschlesischen Oppeln an, das nun Opole hieß.
Stanislau musste nicht zuletzt seinen historischen Namen einbüßen. Während Stanisławów, Stanislau und Stanyslawiw zumindest akustisch einander noch ähnelten und so über die zahlreichen politischen und kulturellen Brüche hinweg eine gewisse Kontinuität bewahrten, wurde die Stadt 1962 zu Ehren des ukrainischen Nationaldichters Iwan Franko in Iwano-Frankiwsk umbenannt. Unter diesem neuen Namen erreichte Stanislau eine neue Station seiner Reise. Der Schriftsteller und Performance-Künstler Jurij Andruchowytsch gründete noch im April 1985 zusammen mit dem ebenso aus Stanislau stammenden Dichter, Literaturkritiker und Musiker Wiktor Neborak sowie dem Lemberger Dramaturgen und Dichter Oleksandr Irwanez die »Bu-Ba-Bu«-Gruppe; sie leitete ihren Namen von den abgekürzten Begriffen Burleske, Balagan (Rummel) und Buffonade (Possenreißer) ab. Zum »historischen Kern« der Künstlergruppe gehörte auch die 1969 im Huzulendorf Tscheremoschna (poln. Fereskula) geborene Dichterin und Literaturkritikerin Halyna Petrosanyak, die für ukrainische Leser den oben zitierten Roman von Alexander Granach übersetzte und seit 2016 im schweizerischen Basel lebt. Man traf sich bis in die 1990er Jahre hinein in der bekannten Stanislauer Kneipe Peters in der Breitengasse (wul. Sitschowych Strilziw), in deren Räumen heute eine Apotheke betrieben wird. In seinem 1992 auf Ukrainisch und erst 2019 auf Deutsch erschienenen Roman Karpatenkarneval schildert Andruchowytsch das Dichterfest im Stanislau jener Tage, das hier als Tschortopil in Erscheinung tritt – »Tschort« stellt in der slawischen Volkstradition einen bösartigen Geist oder Dämon dar. Mit sarkastischem Humor beäugt Andruchowytsch die Zeit eines kulturellen Aufbruchs, der sämtliche Geister Stanislaus wieder zum Leben erweckt.
Die tristen Jahre des sowjetischen Alltags beschreibt in ihren Reportagen, Essays und Kurzgeschichten die ukrainisch-belarussische, aber auf Russisch schreibende Autorin Swetlana Alexijewitsch. Sie kam 1948 in Stanislau zu Welt, zog schon als kleines Kind mit ihren Eltern in die belarussische Sowjetrepublik, studierte in Minsk Journalismus und lebt seit 2020 aus Angst vor Repressalien seitens des belarussischen Regimes um Alexander Lukaschenko in Berlin. 2015 erhielt Alexijewitsch für ihre literarisierte Dokumentation menschlicher Schicksale in der Sowjetunion den Nobelpreis für Literatur und gilt als eine der wichtigsten Zeitzeugen und lebenskluge Interpretin der postsowjetischen Gesellschaft. In ihrem 2013 erschienenen Buch Secondhand-Zeit blickt sie auf die vielen Hoffnungen und noch mehr Enttäuschungen der frühen 1990er Jahre zurück: »Bei Dostojewski [Die Brüder Karamasow – Anm. d. Red.] gibt es einen Streit über die Freiheit. Darüber, dass der Weg zur Freiheit schwierig ist, voller Leid und Tragik … ›Warum zum Teufel müssen wir überhaupt erkennen, was gut und böse ist, wenn es uns so teuer zu stehen kommt?‹ Der Mensch muss sich die ganze Zeit entscheiden: Freiheit oder Wohlstand und gutes Leben, Freiheit mit Leiden oder Glück ohne Freiheit. Die meisten Menschen gehen den zweiten Weg.«