Wenn Marcela Piszczek abends die 15 Minuten von der Arbeit im Keramik-Geschäft Henry’s Pottery zu Fuß durch das Zentrum von Bunzlau/Bolesławiec nach Hause geht, läuft sie quer über das Kopfsteinpflaster des Rings, am Rathaus mit seinem verspielten Renaissance-Türmchen vorbei, unweit der markanten spätgotischen katholischen Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt. Kinder spielen zwischen den bunt beleuchteten Wasserfontänen, aus den Restaurants und Cafés hört sie Stimmen, und ältere Leute sitzen zum Schwatzen auf den Bänken. Bei diesem Anblick freut sich Marcela jedes Mal, dass sie sich vor einigen Jahren entschlossen hat, aus London wieder in ihre Heimatstadt zurückzukommen.
Marcela, 1986 geboren, ging als junges Mädchen nach England, weil sie in Bolesławiec keine Perspektive sah. Es gab keine Jobs und keine Ausbildungsplätze, die Häuser waren heruntergekommen. Sechs Jahre lang arbeitete sie in London. Regelmäßig besuchte sie ihre Familie in Bunzlau und bei jedem Besuch war das Städtchen ein wenig mehr herausgeputzt. Der Lebensstandard stieg. Und die Arbeit in London war sehr hart. Also kehrte sie zurück. Mit ihren guten Englischkenntnissen war es kein Problem, eine Stelle zu finden. Wenn asiatische oder amerikanische Gruppen in Henry’s Pottery strömen, überlassen ihr die Kollegen nur zu gerne die Bühne.
Auch Bolko Peltner und Peter Börner, beide durch ihre Eltern aufs Engste mit der Bunzlauer Keramik verknüpft, freuen sich über die »Wiederbelebung« Bunzlaus – und seiner Keramiktradition. Peter Börner, 1941 in Tillendorf bei Bunzlau geboren, pensionierter Gymnasiallehrer, hat schon diverse Publikationen verfasst und sich intensiv mit der Nachkriegsgeschichte der Bunzlauer Keramik in Westdeutschland auseinandergesetzt. Bolko Peltner, 1962 in Koblenz als Sohn des Keramiker-Ehepaars Georg und Steffi Peltner geboren, hat sie sozusagen am eigenen Leibe erlebt. Der studierte Kunsthistoriker und Archäologe führte die Manufaktur seiner Eltern weiter und ist heute einer der letzten Bunzlauer Töpfer in Westdeutschland.
In Westdeutschland? Ja, genau genommen gibt es nämlich drei Bunzlauer Traditionen, erklärt Peter Börner. Eine, die in der ehemaligen Stadt Bunzlau nach jahrzehntelanger Unterbrechung von den dort jetzt lebenden Polen wieder aufgegriffen und fortgesetzt wurde; eine in der Oberlausitz, wo man schon im 19. Jahrhundert in engem Austausch mit dem nahe gelegenen Bunzlau stand; und eine, die die Vertriebenen aus dem Kreis Bunzlau in ihre neue Heimat in Westdeutschland mitgebracht hatten und mit der sie den Fortbestand der klassischen Bunzlauer Keramik überhaupt erst möglich gemacht haben. Aber der Reihe nach.
Marcela freut sich, wenn sie den asiatischen und amerikanischen Gruppen etwas über die heutige Keramik aus Bolesławiec erklären kann. © Renate Zöller
Die Keramiktradition von Bunzlau reicht bis ins Mittelalter zurück. Bereits 1380 taucht in der Chronik von Schweidnitz/Świdnica der Name eines Bunzlauer Töpfers auf. Die Löwenberger Kreidemulde zwischen Bober und Queis war nicht nur riesig, der Ton hier hatte auch eine einzigartige Eigenschaft, wie Bolko Peltner weiß: »Das Geheimrezept der Keramiken aus Bunzlau war schlicht: Sie waren besonders feuerfest.« Das »lehmglasierte Braunzeug« konnte also nicht nur als Tassen und Teller, sondern auch zum Kochen und Backen genutzt werden.
Der gigantische »Große Topf«, über zwei Meter hoch und mit einem Fassungsvermögen von fast 2 000 Litern, im Jahr 1753 von Johann Gottlieb Joppe geschaffen, wurde zu einem stolzen Symbol des Selbstbewusstseins der Bunzlauer. 1897 wurde eine Keramische Fachschule gegründet. Der gute Ruf der Lehranstalt zog Schüler und Schülerinnen selbst aus den USA, Japan oder China an, um sich hier zum neu geschaffenen Beruf »Keramikingenieur« ausbilden zu lassen.
Etwa in dieser Zeit wurde das Dekor entwickelt, für das die Bunzlauer Keramik heute so berühmt ist: das Pfauenauge. Es wurde der Verkaufsschlager schlechthin. Peltner ist sich sicher: »Das Bunzlauer Pfauenauge kennt man überall auf der Welt.« Bunzlau blühte, Firmen wie Hugo Reinhold & Co., Julius Paul & Sohn oder Carl Werner & Co. brachten Wohlstand in die Stadt und dieser zog weitere Industrie und Handel an; Eisengießereien, Spinnereien, eine Sandsteinindustrie entstanden.
Der Zweite Weltkrieg bereitete der Erfolgsgeschichte ein jähes Ende. Bunzlau verschwand von der Landkarte und in Bolesławiec lag die Keramikproduktion brach. Die neu angesiedelten Polen aus anderen Regionen konnten mit Keramik nichts anfangen, glaubt Peter Börner. Es mangelte an allem. Es gab keine Meister mehr, die die Neuankömmlinge in die Kunst des Töpferns hätten einweisen können. Die Absatzmärkte im Westen waren weggebrochen. Börner sagt: »Wenig vorausschauend wurden alle Facharbeiter vertrieben und die Polen mussten fast bei Null anfangen.«
Tadeusz Szafran, Professor an der Schule für Dekorative Kunst in Krakau/Kraków, wurde zwar bereits Anfang der 1950er Jahre beauftragt, wieder Tonwarenfabriken aufzubauen. Szafran und seinen Mitarbeitern gelang es auch, einige »durchaus künstlerisch wertvolle« Keramiken herzustellen, wie Peter Börner befindet. Den Geschmack der Masse traf die neue »polnische Keramik« jedoch nicht. Bolko Peltner, dessen Vater seit 1971 alljährlich Bunzlau besuchte, weiß: »Bis 1975 gab es so gut wie keine Geschirrproduktion in Bolesławiec und keine Schauwerkstatt, die man hätte besuchen können.«
Dagegen erlebte die neue Bunzlauer Keramik aus Westdeutschland gerade ihre beste Zeit. 15 Mitarbeiter hatten Georg und Steffi Peltner in Höhr-Grenzhausen bei Koblenz; in der »Bunzlauer Feinkeramikfabrik« von Peter Börners Vater Kurt in Holzhausen im Kreis Marburg-Biedenkopf waren bis zu siebzig Personen beschäftigt. Die Produkte wurden in allen gut bestückten Haushaltsgeschäften, Kunsthandwerksläden und auf sämtlichen Töpfermärkten in ganz Deutschland verkauft.
Die Peltners und Kurt Börner waren nicht die einzigen, die das alte Handwerk erfolgreich nach Westdeutschland mitgebracht hatten. Überall dort, wo Tonvorkommen liegen, gründeten Vertriebene Töpferwerkstätten. »Bunzlauer Keramik war begehrt. Nicht nur die vertriebenen Schlesier wollten sie als Erinnerung an die gute alte Zeit in ihren Haushalten haben. Auch andere im In- und Ausland erfreuten sich am braun-weißen Eckdekor und dem fröhlichen Pfauenaugenmuster«, sagt Börner.
Dann hatte ein cleverer Geschäftsmann die Idee, die alte Tradition wieder zurück nach Polen zu tragen – und dort wesentlich billiger produzieren zu lassen. Bolko Peltner erinnert sich an den Besuch des Westberliner Kaufmanns Werner Heise bei seinem Vater. Er bestellte einen Querschnitt aus dem gesamten Sortiment der Peltners. Die waren begeistert, einen neuen potenziellen Großabnehmer gefunden zu haben. Heise, das bestätigt auch Börner, war es jedoch gelungen, mit den Funktionären in Polen Verträge darüber abzuschließen, dass er Ware aus Bolesławiec nach Westdeutschland und in die Welt exportieren dürfe. Gegen Devisen. Und die brauchte der polnische Staat. Neben den Schwämmen zur Dekoration lieferte Heise seinen neuen Zuarbeitern auch die Formen- und Dekor-Vorlagen. So tauchten tatsächlich Anfang der 1980er Jahre unter anderem die Käsefrau und das Leuchterpärchen, beides Kreationen der Peltners, im Angebot Heises auf – aber getöpfert in Polen.
Was für die Peltners einen empfindlichen finanziellen Rückschlag bedeutete, wertet Peter Börner zugleich mit einem feinen Lachen als »deutsche Entwicklungshilfe für die Keramik aus Bolesławiec«. Die Keramiker aus Polen verstanden nämlich schnell, dass sie bessere Preise aushandeln konnten, wenn sie den Vertrieb selbst in die Hand nahmen. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs strömten sie auf die Kunsthandwerksmärkte und -messen in Deutschland und im weiteren Ausland.
Als Peltner 2009 die Werkstatt »Im Kannenofen« übernahm, war der Niedergang der westdeutschen Bunzlauer Keramik bereits unaufhaltsam. Töpferware auch aus anderen osteuropäischen Ländern und aus Asien überschwemmte die Märkte. Unermüdlich demonstriert Peltner dennoch sein Handwerk »Im Kannenofen« oder auf Märkten und Veranstaltungen und erzählt dabei dessen Geschichte. Sein Kapital ist dabei sein schier unerschöpfliches Wissen. Und seine ungebrochene Begeisterung. Er kämpft. Um das Lebenswerk seiner Eltern, das längst auch sein eigenes ist. Ob die Bunzlauer Tradition nun in Bunzlau/Bolesławiec oder anderswo fortgesetzt wird – Hauptsache, sie geht nicht unter.
Und dazu trägt auf ihre Weise auch Marcela Piszczek bei. Sie versteht ihren Job durchaus als Auftrag, das deutsche Erbe weiterzutragen, auch wenn sie solche Worte wohl nie wählen würde. Als Jugendliche, erzählt sie, habe sie sich über die deutsche Geschichte ihrer Heimatstadt und der vielen Keramikfabriken keine Gedanken gemacht. Mittlerweile ist sie stolz darauf.