Rumänien war im Laufe der Geschichte des Kunstturnens oder Geräteturnens immer wieder erfolgsverwöhnt von Höchstleistungen – heute jedoch macht sich Enttäuschung breit. Die rumänische Sportzeitung Gazeta sporturilor kommentierte am 18. Februar 2021: »Die rumänische Gymnastik geht den Bach runter, bei den Olympischen Sommerspielen in Tokyo werden wir nur mit zwei Landsleuten antreten (Maria Holbură und Marian Drăgulescu) und die Meilensteine der letzten großen Leistungen verlieren sich bald im Nebel. So sind zum Beispiel mehr als zehn Jahre vergangen, seit die Mädchen den jüngsten Weltmeistertitel gewonnen haben.«
Verhaltener Optimismus machte sich breit, als nach 28 Jahren wieder eine rumänische Juniorinnenmannschaft im Kunstturnen die Goldmedaille in der Mannschaftswertung gewann. So geschehen bei den 33. Europameisterschaften, die Mitte Dezember 2020 im türkischen Mersin stattgefunden haben. Die Seniorinnen belegten den zweiten Platz. Die rumänischen Kunstturnerinnen holten insgesamt 14 Medaillen. Die meisten Medaillen – insgesamt sechs, ein Rekord für die Teilnahme Rumäniens bei der EM – holte die Juniorin Ana Bărbosu. Die Sportjournalistin Alina Alexoi mahnt jedoch vor zu großen Hoffnungen. Der Weg zur Höchstleistung sei lang und verlange Ausdauer und Trainer, die den richtigen Zeitpunkt erkennen, ab dem die Sportlerin oder der Sportler für den internationalen Vergleich gut vorbereitet ist. Gewöhnlich beginne er mit sechs Jahren und erst mit 16 können sie dann bei den Seniorenwettkämpfen mitmachen. Es hänge viel von den Trainerinnen und Trainern ab, ob aus den »Gold-Juniorinnen« auch »Gold-Seniorinnen« werden.
Aber es fehlt derzeit auch die Begeisterung an der Basis, die nach dem Erfolg von Nadia Comăneci in Montreal eingesetzt hatte, als jedes Mädchen davon träumte, eine »zweite Nadia« zu werden und zu den »Gold-Kindern« zu gehören, wie sie in dem von der Olympiasiegerin von 1972, Heide Rosendahl, herausgegebenen Bildband XXI. Olympische Spiele Montreal 1976 (Corvus Verlag Berlin 1976), genannt werden: »Sie waren die Lieblinge des Publikums, sie boten grandiose Leistungen, obwohl man sie eher in der Kinderriege eines Turnvereins als im Finale olympischer Turnwettkämpfe vermutet hätte. Die Gold-Kinder aus der Sowjetunion und aus Rumänien begeisterten durch die Schwierigkeit der gebotenen Übungen und durch die Perfektion, mit der sie selbst Übungen turnten, an die sich ihre älteren Konkurrentinnen nur bangen Herzens wagen. […] Bleibt ihnen bei dem harten Training noch Zeit, Kind zu sein?«
Hinzu kommt, dass Sportzeitungen heutzutage hauptsächlich und regelmäßig über Fußball berichten, nur gelegentlich über Kunstturnen oder andere Sportarten und meist nur dann, wenn hervorragende Leistungen zu verzeichnen sind. Was wollen die Kinder werden, wer sind ihre Vorbilder?
Hier lohnt sich ein erster Rückblick: 1976 erlebte das Kunstturnen in Rumänien – und wahrscheinlich nicht nur hierzulande – einen Boom, viele Mädchen wollten Nadia werden. In dem deutschen Wochenblatt Hermannstadts war unter dem Titel »Der lange Weg zur Goldmedaille. Startrampe für künftige Turnstars: der SSK Sibiu« zu lesen: »›Lass mich mal auf den Schwebebalken!‹, sagt ein Dreikäsehoch der größeren Freundin, die auf einem Gehsteig gerade einen Handstandüberschlag macht. ›Na bitte!‹, sagt diese und tritt zur Seite. Ein Schwebebalken ist weit und breit nicht zu sehen, allein auf dem grauen Asphalt ist mit Kreide ein langgezogenes handbreites Rechteck gezeichnet …«
Tatsächlich war damals die Aufnahme in die Damenriege für die Mädchen auch eine Chance, vor allem für jene aus sozial schwachen oder zerrütteten Familien. Im Trainingszentrum in Diemrich/Deva gab es ein geregeltes Programm, Essen war gesichert, eine Schlafstelle ebenfalls. Für einige war es das Paradies auf Erden, andere haben es eher als Hölle erlebt. Einige der Sportlerinnen gingen nach 1990 an die Öffentlichkeit und berichteten von der harten Zeit, die sie fürs ganze Leben traumatisiert habe. So erzählte die 1964 in Arad geborene Banater Schwäbin Emilia Eberle, in Diemrich hätte es zu Mittag »ein Stück trockenes Fleisch, zwei Salatblätter oder einen kleinen Teller Polenta mit Käse und Rahm« gegeben. Morgens hätten alle auf leeren Magen eine Knoblauchzehe schlucken müssen, »damit wir uns nicht erkälten. Zum Frühstück gab es ein Ei, ein halbes Glas Milch, manchmal eine Scheibe Brot.« Eberle gehörte zu der Damenriege, die bei der WM in Fort Worth 1979 die Goldmedaille errungen hatte. Sie flüchtete im Mai 1989 nach Ungarn und lebt heute in Sacramento/USA. Im November 1989 – knapp vor dem Ende Dezember erfolgten Sturz des Diktators – flüchtete Nadia Comăneci aus Rumänien und sorgte damit für viel Aufsehen.
Auf jeden Fall waren die internationalen Turniere in Zeiten des Eisernen Vorhangs für viele Sportlerinnen und Sportler aus dem Ostblock eine »Fahrkarte für Weltreisen«, wie die ungarische Turnerin und mehrfache Olympiasiegerin Ágnes Keleti, die am 9. Januar 2021 ihren hundertsten Geburtstag feierte, in einem Interview gesagt hatte.
Diese Fahrkarte nutzte ein rumänischer Spitzensportler aus den Reihen der deutschen Minderheit schon 1982 für seine Flucht: Der 1957 in Lugosch geborene Kurt Szilier erklärte 2016 gegenüber der Süddeutschen Zeitung, er sei »als Deutscher aus dem Banat jahrelang weitgehend von Wettkämpfen im Westen ferngehalten worden«. Als er 1982 zu einem Wettkampf in die Bundesrepublik Deutschland fahren durfte, setze er sich ab. Dafür wurde er allerdings auf Ansuchen des Rumänischen Gymnastikverbands vom internationalen Verband mit einer zweijährigen Wettkampfsperre belegt. Als er dann 1984 bei den deutschen Meisterschaften antrat, sicherte er sich vier Titel: im Mehrkampf, an den Ringen, am Barren und am Reck. Szilier ist derzeit Landestrainer im Geräteturnen der Männer beim Bayerischen Turnverband e. V., München. Für Rumänien hatte er unter anderem bei der Universiade 1981 in Bukarest Gold im Mehrkampf und mit der Männerriege geholt. In der deutschen Wochenzeitung Hermannstadts Die Woche war in der Ausgabe vom 24. Juli 1981 zu lesen: »Es war eine Überraschung, weil die Fachwelt nicht an Kurt gedacht hatte, geschweige denn daran, dass die rumänische Riege mit ihrer konstanten Leistung jene aus der Sowjetunion überflügeln wird. Auch die Frauenriege – Nadia Comăneci, Emilia Eberle und Dumitriţa Turner – stieg aufs höchste Treppchen.«
Der Durchbruch der rumänischen Gymnastik auf dem internationalen Parkett liegt 65 Jahre zurück: Bei den Olympischen Sommerspielen 1956 in Melbourne/Australien holten die Damen Bronze und die Herren verfehlten in der Mannschaftswertung knapp den dritten Platz. Zu diesem Aufstieg der rumänischen Frauengymnastik an die Weltspitze hatte auch die 1936 in Kronstadt/Brașov geborene Uta Schlandt beigetragen. Die Damenriege wiederholte diese Leistung 1960 bei den Olympischen Sommerspielen in Rom, bei den Jugendfestspielen 1955 in Warschau und 1957 in Moskau sowie bei der WM 1958 in Moskau.
Uta Schlandt studierte an der Hochschule für Körperkultur und Sport in Bukarest und war daselbst bis zu ihrer 1979 erfolgten Ausreise in die Bundesrepublik als Hochschulassistentin tätig. In der deutschen Tageszeitung in Bukarest, Neuer Weg, waren jeweils nur kurze Notizen dazu zu lesen, kein Foto. Und 1960 »stahl« der Damenriege der am 7. September 1960 erfolgte Tod des ersten und einzigen amtierenden Präsidenten der DDR, Wilhelm Pieck, die Show. Die Wettkämpfe in Rom dauerten vom 25. August bis 11. September 1960.
An den rumänischen Turnerfolgen Ende der siebziger Jahre war auch Melitta Rühn, heute verheiratete Fleischer, beteiligt. 1979 errang sie bei der Weltmeisterschaft in Fort Worth mit ihrer Mannschaft die Goldmedaille, im Mehrkampf und Bodenturnen holte sie Bronze. Bei den Olympischen Spielen 1980 in Moskau holte sie neben Mannschaftssilber auch zwei Bronzemedaillen im Pferdsprung und am Stufenbarren. Die 1965 in Hermannstadt/Sibiu Geborene sagte später über ihre deutsche Volkszugehörigkeit, sie habe zwar für Rumänien auf dem Siegertreppchen gestanden, »gehöre aber der deutschen Minderheit der Siebenbürger Sachsen an und habe nie eine Extrabehandlung – nicht schlechter und nicht besser – gegenüber meinen Teamkolleginnen zu spüren bekommen. Ich war immer mit den Anderen gleichgestellt.« Auch wenn sie die Trainingseinheiten der rumänischen Nationalmannschaft in Diemrich als besonders hart in Erinnerung hat. »Sie waren schnell vergessen, wenn man auf dem Siegertreppchen stand.« Ihr Schicksal – Auswanderung nach Deutschland im Zuge der Wende – teilt sie mit zahlreichen anderen siebenbürgisch-sächsischen und banatschwäbischen Sportlern. Der Lebenslauf einer jeden von ihnen dürfte reichlich Stoff für einen Roman liefern.