Die Winter in Ostpreußen gelten als besonders schnee- und traditionsreiche Jahreszeit. Von Christoph Hinkelmann
Januar/Februar 2021 – Kulturkorrespondenz östliches Europa № 1421
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Auch heutzutage – in Zeiten von Klimaerwärmung und durchaus auch weniger schneereichen Wintern – ist eine Schlittenfahrt durch Masuren ein großer Spaß. Foto: © Cameris/Adobe Stock

Nirgendwo im historischen Deutschland war es um den Jahreswechsel so kalt, so dunkel und so schneereich wie in Ostpreußen. Eine oft bereits ab Oktober geschlossene Schneedecke beendete fast alle Arbeiten in der Landwirtschaft. Ruhe lag über dem Land. Und dennoch war der Winter in Ostpreußen eine Zeit vieler und fröhlicher Besonderheiten.

Man erhält eine Vorstellung davon, was »Winter in Ostpreußen« bedeutete, wenn man sich Fotos aus der Zeit vor 1945 anschaut. Sie zeigen endlose, tief verschneite Landschaften. Oder man blickt in den Klima-Atlas von Deutschland, erschienen 1921: Dort sind auf der Karte des Deutschen Reiches nebeneinander die mittleren Temperaturen im Verlauf des ersten Monats des Jahres eingetragen. Während sich die null Grad Celsius-Linie von der Westküste Schleswig-Holsteins bis zum Bodensee zieht und die entsprechende minus eins Grad Celsius-Linie von Vorpommern bis Thüringen verläuft, ist Ostpreußen von der minus drei Grad Celsius-Linie bestimmt, die ganz im Osten, auf der Linie Gumbinnen/Gussew–Marggrabowa (Treuburg)/Olecko von der minus vier Grad Celsius-Linie abgelöst wird. Da war man froh, wenn man von draußen in ein gut geheiztes Haus zurückkehren konnte. Nicht von ungefähr ranken sich viele Geschichten um den großen Kachelofen.

Eine Klimakarte von Ostpreußen. Karte: © Blochplan   Eine Klimakarte von Ostpreußen. Karte: © Blochplan

Die meisten Arbeiten wurden nun im Inneren verrichtet, im Winter ruhte die Landwirtschaft. Doch war dies in Ostpreußen die Zeit der Holzgewinnung. Zudem verlagerten sich viele Arbeiten auf die zugefrorenen Oberflächen stehender Gewässer. Auf den zahlreichen Seen fand die »Eisernte« statt. Große Quader wurden aus dem Eis herausgesägt und in die Eiskeller gebracht, wo sie Getränke und Speisen bis tief in den Sommer hinein kühlten.

An anderen Stellen betrieb man Winterfischerei. Da die Fische unter der Eisfläche verborgen und Boote wie Kähne nicht benutzbar waren, brachte man die Fanggeräte mit Schlitten auf das Eis. Je nach der zu erwartenden Menge oder der Zahl beteiligter Fischer sägte man Löcher in das Eis und hielt sie offen, um das große oder kleine »Wintergarn« (Fangnetz) unter die Eisfläche zu bringen. Durch geschicktes Manövrieren mit langen Stangen verschob man das große Wintergarn unter dem Eis und zog es über den Gewässerboden. Beim kleinen Wintergarn half man mit Lärmerzeugung nach. Ein Fischer saß an einem Eisloch und hämmerte kräftig mit einem stumpfen Gegenstand auf ein Holzbrett, das sich zur Hälfte im Wasser befand. Bei dieser »Klapperfischerei« wurden die kaum aktiven Fische weg von der Lärmquelle direkt in die Netze getrieben.

Dazu kamen diverse Aufgaben, die im Haus erledigt werden konnten. Im Bereich des Kurischen Haffes hatte sich etwa die Tradition entwickelt, die Mastspitzen der Boote, an denen eine Farbkombination den Heimatort des Kahns auszuweisen hatte, mit Schnitzarbeiten zu verzieren. Diese sogenannten »Kurenwimpel« wurden von den Fischern vorwiegend im Winter angefertigt.

Zugeschneite Fischerkähne auf dem Kurischen Haff. Das Foto nahm Ernst Schüz um 1940 auf. Foto: © Ostpreußisches LandesmuseumZugeschneite Fischerkähne auf dem Kurischen Haff. Eine Aufnahme von Ernst Schüz um 1940. Foto: © Ostpreußisches Landesmuseum

Wenn die Arbeit auf dem Land ruhte, fanden die Menschen Zeit für gesellschaftlichen Austausch. Der Winter war die Zeit der Bälle, in den Städten von Theater und Kultur, und auf dem Land die Zeit der Gesellschaftsjagden. Auf Treibjagden kam Schwarz- und Niederwild in großen Zahlen zur Strecke, was nach der Jagd in fröhlicher Runde gefeiert wurde. Nur der Winter bot auch Gelegenheit, den Wolf zu bejagen, der vor 1945 als Standwild so gut wie verschwunden war. Entlang der Ostgrenzen drangen immer wieder Einzeltiere nach Ostpreußen ein. Wenn man im Neuschnee ihre Spuren fand, war es sehr viel leichter, die grauen Jäger aufzuspüren.

Der Winter beeinträchtigte auch den Verkehr: Die Binnenwasserwege waren ab dem Spätherbst nicht mehr benutzbar, und die Frachtschifffahrt ruhte von Oktober bis April. Eisenbahnen fuhren im gesamten Jahr, doch mussten vielfach Räumfahrzeuge für Streckenfreiheit sorgen. Wenn der Königsberger Flughafen eine dicke Schnee- oder Eisdecke aufwies, starteten und landeten die wenigen im Winter fliegenden Maschinen mit Kufen statt mit Rädern. Auch die Kraftfahrzeuge waren im Winter nicht so zuverlässig einsetzbar wie wir es heute auf unseren Landstraßen und Autobahnen gewohnt sind. Wer auf dem Land lebte, spannte die Pferde nicht mehr vor der Kutsche, sondern vor dem Pferdeschlitten an.

Ostpreußen als Wintersportregion

Ostpreußen war durchaus eine Wintersportregion. Aufgrund der topografischen Bedingungen in der Endmoränenlandschaft – die höchste Erhebung betrug 313 Meter – war der Abfahrtski nicht besonders entwickelt, doch fanden sich Rodelbahnen an zahlreichen Orten und gute Voraussetzungen für den Skilanglauf.

Auf den zugefrorenen Seen wurde eifrig Schlittschuh gefahren und Eishockey gespielt. Ostpreußische Mannschaften waren auch außerhalb ihrer Region erfolgreich. Als Besonderheit Ostpreußens galt das Eissegeln, bei dem man in einem lenkbaren, sportbootähnlichen Körper auf drei Kufen und mit einem Segel über die zugefrorenen Seen jagte. Europameisterschaften im Eissegeln fanden in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen in den Ländern rund um die Ostsee statt.

Deutsche Eissegelwoche auf dem masurischen Schwenzaitsee in den 1930er Jahren. Foto: © Ostpreußisches LandesmuseumDeutsche Eissegelwoche auf dem masurischen Schwenzaitsee in den 1930er Jahren. Foto: © Ostpreußisches Landesmuseum

An den langen Winterabenden verbrachten die Menschen viel Zeit im beheizten Haus. Man erledigte Handwerkliches und Reparaturen, erzählte sich Geschichten und hatte Muße auch für Tätigkeiten wie zum Beispiel das Anfertigen von Advents- und Weihnachtsschmuck. Beliebt waren Strohsterne für den Weihnachtsbaum sowie ebenfalls aus Stroh gefertigte Mobiles, die man »Unruhen« nannte. Nicht nur in Königsberg, sondern in ganz Ostpreußen beliebt war die Herstellung des »Königsberger Marzipans« mit verschiedensten Füllungen. Als Besonderheit wurde es auf der Oberseite kurz geflämmt.

Vor allem in den Städten zogen vielerorts Sternsinger durch die Straßen. Auf dem Land hatten sich zahlreiche Bräuche noch bis in die 1930er Jahre hinein erhalten. Besonders verbreitet war in den »Twelften«, den zwölf heiligen Nächten zwischen Heiligabend und dem Dreikönigstag, der Schimmelreiter mit seinem Gefolge. Hier wurden uralte preußische Traditionen mit christlichen Elementen vermischt, auch gab es zahlreiche regionale Abwandlungen. Allen gemeinsam war eine verkleidete Gruppe meist junger Leute, die vor dem Haus erschien und fragte: »Ist es erlaubt, mit dem Schimmel einzutreten?« Wer hätte diese Bitte abschlagen können? Im nächsten Moment zog die Schar ins Haus hinein und vollführte ein wildes Treiben. Zum Kern der beteiligten Personen gehörte stets der Schimmelreiter.

Wenn während der »Twelften« auf dem »Brummtopf« musiziert wird

Unter einem Laken bildete er mit Kornsieben vor und hinter sich einen Pferdekörper nach, aus dem vorn ein steckenpferdähnlicher Kopf und hinten ein echter Pferdeschwanz herausragten. Weiterhin ein Storch, bei dem ein im Laken verborgener Mann vorn ein langes Holz mit einem schnabelähnlichen Ende mit sich führte, mit dem er gern nach den Waden der Mädchen zielte. Auch ein als Ziegenbock verkleideter Mann gehörte fest zum Gefolge. Er stieß gern mit seinen Hörnern zu, durfte sich als einziger vom Zug lösen und allein durch das Dorf gehen. Unverzichtbar war auch die Figur des Bären, die von einem ganz in Erbsenstroh gehüllten Mann verkörpert wurde, der sich bevorzugt den Mädchen und Frauen näherte, sie umwarf und sich mit ihnen auf dem Boden rollte. Stets anwesend war auch ein »Pracherweib«, eine Bettlerin, die die wichtige Aufgabe hatte, Essbares, Geld und Hochprozentiges einzusammeln, was die Bewohner gern gaben, um dem bösen Spuk schnell ein Ende zu bereiten. Im Nachbarhaus ging es dann fröhlich weiter. Da bei einem solchen Spaß natürlich immer viele Freunde mitmachen wollten, entstanden regional zahlreiche weitere Figuren – beispielsweise ein Schornsteinfeger, ein fliegender Händler oder eine Zigeunerin. Der Schimmelreiter und sein Ge­folge durften nur im eigenen Dorf herumziehen; außerhalb drohten ihnen nach der Überlieferung schlimme Dinge bis hin zum Tod.

Zur lautmalerischen Umrahmung aller Bräuche gehörten »Musikinstrumente« ganz eigener Art. Besonders bekannt waren »Brummtopf« und »Teufelsgeige«. Letztere galt als fester Bestandteil jedes Schimmelreiterzuges und war ein Besenstiel mit daran befestigter Blechdose, über der mehrere Bindfäden oder Drähte als Saiten angebracht waren. Man konnte auf die Dose schlagen, auf den »Saiten« sägen oder mit dem Instrument aufstampfen – Hauptsache, es wurde laut. Der Brummtopf entstand aus einer kleinen, hölzernen Tonne. Man entfernte entweder einen oder beide Böden und bespannte die frei gewordenen Flächen mit einer Schweinsblase oder mit Leder. Aus der Mitte dieser Membran ragte ein Schweif aus Pferdehaaren heraus, der, mit feuchter Hand gezogen, ein eintöniges Geräusch erzeugte. Zusätzliche Schnüre, Federkiele oder Metallknöpfe konnten die Lärmentwicklung noch erheblich steigern.

In den »Twelften« durfte keine Wäsche gewaschen, kein Kaffee mit der Handmühle gemahlen, auch keine Milch geschleudert werden, all das bringe Unglück, glaubte man. Beim »Kohlchen schwimmen« (Kohlestückchen im Wasser) hoffte man auf einen Hinweis auf eine mögliche Verbindung im neuen Jahr. Beim »Schlorrchen schmeißen« wurde ein Holzschuh geworfen; je nachdem, wohin dessen Spitze zeigte, würde man im Haus bleiben oder es verlassen. Auch formte man aus Steckrüben oder Teig Figuren, die unter Töpfe oder Teller gelegt wurden und beim Aufdecken etwas über wichtige Ereignisse im neuen Jahr kundtun sollten. In Königsberg wurde dieser auch von Bürgerfamilien in der Silvesternacht gepflegte Brauch »Glückgreifen« genannt.