Im 19. Jahrhundert, als das Eisenbahnwesen begann sich zu entwickeln, waren die Bahnhöfe Brückenköpfe des neuen Verkehrs, der sich von hier über das gesamte Land ausbreitete. Europaweit wurden die Eisenbahnen, die zunächst als Transportmittel für die Industrie gedient hatten, ab dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts ein allgemeines Verkehrs- und Reisemittel. Ein Teil der damaligen Zeitgenossen bejubelte nicht nur die schnelle Erreichbarkeit ferner Orte durch die Eisenbahn, sondern sie priesen die Züge auch als technische Garanten für Völkerverständigung, Fortschritt und Frieden. Ein anderer Teil empfand jedoch das schnelle, relativ glatte Dahingleiten als Verlust; so trauerte man den nun langsam verschwindenden Kutschen hinterher, die wegen ihres Tempos und wegen des lebendigen Verhältnisses zwischen Mensch und Tier als beseelter erachtet wurden.
Um 1860/1870 war der ostmitteleuropäische Raum von Eisenbahnlinien bereits sehr gut erschlossen. Neben den kürzeren Strecken Berlin–Stettin und Berlin–Posen führte die preußische Ostbahn von Berlin über Danzig und Elbing bzw. über Bromberg und Thorn nach Königsberg und von dort weiter nach Tilsit und Eydtkuhnen nach Russland. Von Berlin ging es auch über Breslau, Gleiwitz und Krakau nach Lemberg, von Breslau über Oppeln und Oderberg nach Süden Richtung Wien, von Berlin über Prag und Brünn bzw. Olmütz über Wien, Pressburg und Budapest auf den Balkan. Vor 1900 waren die Eisenbahnnetze in Westpreußen, Schlesien, Böhmen und Mähren bereits flächendeckend ausgebaut und sehr verästelt.
»Eine unheimliche Kraft«
Die erschütternden Umbrüche, die das neuartige Eisenbahnwesen mit sich brachte, kommentierte Joseph von Eichendorff bereits um 1850 mit einem skeptischen Kopfschütteln: »Diese Dampffahrten rütteln die Welt, die eigentlich nur noch aus Bahnhöfen besteht, unermüdlich durcheinander wie ein Kaleidoskop, wo die vorüberjagenden Landschaften, ehe man noch irgendeine Physiognomie gefaßt, immer neue Gesichter schneiden, der fliegende Salon immer neue Sozietäten bildet, bevor man noch die alten recht überwunden [hat].«
Der deutsch-baltische Schriftsteller und Journalist Leopold von Pezold schreibt über die anfänglichen Vorbehalte gegenüber dem Eisenbahnbau zwischen Reval und Sankt Petersburg: »Läugnen läßt sich nicht, daß jene Befürchtungen, welche gegen den Bau der Bahn sich erhoben, meist eingetroffen sind: dem Einen ist ein Stück seines Gartens abgeschnitten, dem Anderen ein Feld vom Gute abgetrennt, dem Dritten das Gesinde entlaufen, den Vierten haben angereiste Diebe bestohlen. Wieder andere haben schwer mit Petersburger Konkurrenz zu kämpfen […]; eine fremde Gesellschaft füllt Revals Straßen, fremde Sprachen beginnen zu herrschen, die alte Verfassung ist abgeschafft, die Lebensmittel sind im Preis gestiegen, die alte Gemütlichkeit ist geschwunden: – kurz, fast Alles ist über Reval hereingebrochen, was zehn und fünf Jahre vor dem Bahnbau von den Weisesten der Stadt schon befürchtet und prophezeit wurde.«
Welche unheimlichen und unheilvollen Kräfte der Eisenbahn noch vor 1900 zugeschrieben wurden, zeigt sich in Gerhart Hauptmanns früher Novelle Bahnwärter Thiel (1887). Die berühmte Erzählung spielt an der Strecke Berlin–Breslau: »Der schlesische Schnellzug war gemeldet, und Thiel musste auf seinen Posten. Kaum stand er dienstfertig an der Barriere, so hörte er ihn auch schon heranbrausen. Der Zug wurde sichtbar – er kam näher – in unzählbaren, sich überhastenden Stößen fauchte der Dampf aus dem schwarzen Maschinenschlote. Da: ein – zwei – drei milchweiße Dampfstrahlen quollen kerzengerade empor, und gleich darauf brachte die Luft den Pfiff der Maschine getragen. Dreimal hintereinander, kurz, grell, beängstigend. Sie bremsen, dachte Thiel, warum nur? Und wieder gellten die Notpfiffe schreiend, den Widerhall weckend, diesmal in langer, ununterbrochener Reihe. […] ›Haalt!‹, schrie der Wärter aus Leibeskräften. Zu spät. Eine dunkle Masse war unter den Zug geraten und wurde zwischen den Rädern wie ein Gummiball hin und her geworfen. Noch einige Augenblicke, und man hörte das Knarren und Quietschen der Bremsen. Der Zug stand.« Thiel hält sein halbtotes Kind im Arm, gibt es schließlich einem anderen Zug mit, weil er weiter seinen Dienst an der Bahnstrecke versehen muss. Nach einer Weile kommt ein offener Arbeitszug angefahren: »Ein lautes Quietschen, Schnarren, Rasseln und Klirren durchdrang weithin die Abendstille, bis der Zug unter einem einzigen, schrillen, langgedehnten Ton stillstand.
Etwa fünfzig Arbeiter und Arbeiterinnen waren in den Loren verteilt. Fast alle standen aufrecht, einige unter den Männern mit entblößtem Kopfe. In ihrer aller Wesen lag eine rätselhafte Feierlichkeit. […] Keiner der Arbeiter wagte ihn anzureden, obgleich sie ihn alle kannten. Aus dem letzten Wagen hob man soeben das kleine Tobiaschen. Es war tot.«Als sich Ende des Ersten Weltkriegs die Kaiserreiche auflösten, verschoben sich auch die Grenzen in Richtung Osten. Neue Nationalstaaten entstanden, daher auch neue und mehr Grenzen und Grenzübergänge mit Grenzbahnhöfen. Eydtkuhnen/Wirballen, der Übergang an der alten deutsch-russischen Grenze im Norden, lag nach 1918 zwischen Deutschland und Litauen auf dem Weg nach Russland; Stołpce/Negoreloje in der Nähe von Minsk wurde der neue Grenzübergang zwischen Polen und Russland; Neu Bentschen/Zbąszyń zwischen Frankfurt (Oder) und Posen der neue Grenzübergang zwischen Deutschland und Polen.
Transporte in den Tod
Das grausamste Kapitel des 20. Jahrhunderts, der Holocaust, ist ohne das Schienennetz nicht zu denken. Der polnisch-jüdische Schriftsteller und Zeichner Bruno Schulz, auch »galizischer Kafka« genannt, schreibt in einer Sprache, die das Außergewöhnliche, den Traum und den Wahnsinn zu benennen befähigt ist. Seine Sätze sind gewunden und ineinandergeschachtelt wie Traumteleskope, in die hinein große schwarze Augen blicken voller Poesie, die die Gesetze der Zeit außer Kraft setzen kann. Die Erzählung Das Sanatorium zur Todesanzeige bzw. Das Sanatorium zur Sanduhr beginnt mit einer phantastisch-unheimlichen Zugfahrt durch ein imaginäres Galizien. 1942 wurde Schulz im galizischen Städtchen Drohobycz von einem SS-Mann erschossen.
»Die Reise dauerte lange. Nur wenige Passagiere fuhren auf dieser vergessenen Nebenlinie, wo nur einmal pro Woche ein Zug verkehrte. Derart archaische Waggons, geräumig wie Zimmer, dunkel und voller Schlupfwinkel, hatte ich noch nie gesehen, auf anderen Strecken waren sie schon längst ausgemustert worden. Die Korridore, die sich in verschiedenen Winkeln brachen, die leeren, kalten labyrinthartigen Abteile hatten etwas seltsam Verlassenes, etwas geradezu Abschreckendes an sich. […]
Durch Stroh und Abfall watend schwankte ich von Waggon zu Waggon. Die Abteiltüren schwangen im Durchzug, so daß sie sperrangelweit offen stehen blieben. Nirgendwo ein Passagier. Endlich traf ich auf einen Schaffner, der die schwarze Dienstuniform der Eisenbahner dieser Linie trug. Er schlang sich ein dickes Tuch um den Hals und packte seine Siebensachen, die Taschenlampe und das Dienstbuch ein. Er warf mir einen Blick aus seinen gänzlich weißen Augen zu und sagte: ›Wir sind gleich da.‹ Der Zug wurde langsamer, ohne zu keu-chen, ohne zu klopfen, als hauchte er mit der letzten Dampfwolke allmählich sein Leben aus. Wir hielten an. Stille und Leere, kein Stationsgebäude. Beim Aussteigen zeigte mir der Schaffner noch die Richtung, in der das Sanatorium lag. Mit dem Koffer in der Hand ging ich den schmalen, weißen Weg entlang, der bald in das finstere Dickicht eines Parks mündete.«
Rangierbahnhof Europa
Während die besiegte Wehrmacht Ende des Zweiten Weltkriegs nach Westen abziehen musste, hatte sie vielerorts noch die Bosheit besessen, mit dem sogenannten Schienenwolf, der die hölzernen Bahnschwellen aufriss, etliche Bahnstrecken zu zerstören. In Stettin waren die Oderbrücken, über die die Züge mit den neuen polnischen Bewohnern fahren mussten, nur notdürftig repariert worden. Sie schwankten auf den provisorischen Konstruktionen derart, dass die Frauen im Zug laut das Vaterunser und »Gegrüßet seist du, Maria« beteten, während die Männer laut fluchten. Auch im ehemals deutschen Königsberg, ab 1946 Kaliningrad, kamen neue russische Bewohner mit dem Zug an, so die Journalistin Marija Pawlowna Kubarewa: »Die Züge hielten an irgendwelchen provisorischen, barackenähnlichen Bauten. Das erste, was sofort auffiel, waren die aufgerissenen Eisenbahnschienen, eine enorme Menge an zerstörten technischen Gerätschaften und Haufen mit Gerümpel auf dem Güterbahnhof.«
Bis 1989 erinnerte man sich in Polen an die eigenen verlorenen Ostgebiete, an Galizien, Wolhynien, Lemberg und Wilna, in Heimlichkeit. Erst nach der Wende wurde der Verlust offen und öffentlich zu Gehör gebracht. Im Poem des polnischen Schriftstellers Tomasz Różycki aus Oppeln Zwölf Stationen geht es um einen Enkel in Schlesien, dem die Aufgabe zugemutet wird, die ganze Verwandtschaft, die aus dem ehemaligen Ostpolen, aus Galizien stammt und jetzt über ganz Polen verstreut ist, zusammenzutrommeln, um mit dem Zug gemeinsam dorthin zu fahren. Różycki fabuliert in leichter Sprache, gleichzeitig mit barocker Sprachgewalt:
»(.. So) gerieten sie gleich hinter Pyskowice
in das berühmte schlesische Gleisgewirr,
das sich bis Jaworzno erstreckte, eine schreckliche Falle
für unerfahrene Reisende, so gut wie niemand hat es
je glücklich durchmessen. Tausende von Schienen,
Gleisen, Gabelungen, Sackbahnhöfen und falschen Fährten,
grausamen Weichen und irreführenden Stellwerken bildeten
ein einziges, riesiges Labyrinth, das immer neue Personenzüge,
Frachtzüge und Schnellzüge verschlang. Der unglückliche
Lokführer war kurz davor, einen Fluchtweg zu finden,
da landete er wieder, statt in Jaworzno, am Bahnhof
Ruda Chebzie, um die ganze Reise von Neuem zu beginnen.
Es kam vor, dass ein Zug, war er einmal ins schlesische
Schienenlabyrinth geraten, jahrelang dort umherirrte,
unterwegs Reisende verlor, die längst gealtert waren,
an irgendeinem Bahnhof verzweifelt ausstiegen oder starben,
ohne es bis zum Ausstieg zu schaffen. So fand man manchmal
ganze Geisterzüge mit einem wahnsinnig gewordenen Lokführer
und den leeren Uniformen der Schaffner, die Jahre
und Saisons hindurch heillos im Kreis fuhren. (..)«
Grenzenloses Schienennetz
Ganz aktuell veröffentlichte der tschechische Schriftsteller Jaroslav Rudiš, der die inzwischen zum Kult gewordene Graphic Novel Alois Nebel über einen Stationsvorsteher an einem kleinen Bahnhof im Altvatergebirge verfasste, einen hymnischen Text über den Speisewagen im EuroCity Berlin–Prag (FAZ, 26. August 2019). Vor allem geht es darin um den Speisewagenkellner Peterka, der sich bei seinen Balanceakten mit Getränken und Essen im Rhythmus des Zuges wie ein Ballett-Tänzer vorkommt und der seine internationale Arbeit liebt:
»Die Züge, die Europa über alle Grenzen hinweg durchkreuzen, sind wie Fäden, die ein endloses Netz bilden. Und sie halten Europa zusammen. Ich höre im Speisewagen, was gerade überall passiert, doch ich bleibe entspannt. Erst wenn ich nicht mehr mein Eisenbahnerspanisch, mein Deutsch oder Englisch benutze, wenn ich da allein stehe mit meinem Tschechisch, weil alle Weltreisenden weg sind, dann weiß ich, es ist vorbei mit Europa.«