Es hatte sich einiges aufgestaut. Äußerst unzufrieden zeigte sich der eigene Jugendverband vor einer Aussprache im Juli 1969 damit, wie sich die Dinge in der sudetendeutschen und katholischen Ackermann-Gemeinde entwickelten. Auf den Veranstaltungen sprächen Spitzenfunktionäre vom kulturellen Heimaterbe und der Notwendigkeit, dieses Erbe zu erhalten, beklagte der Nachwuchs. Darunter könne sich eine Generation, die nach der Vertreibung in der Bundesrepublik aufgewachsen sei, aber nichts vorstellen. Gegen Formulierungen wie »unsere Heimat« sei sie »allergisch«. Negativ bewertete der Nachwuchs auch Vertriebenenverbände wie die Sudetendeutsche Landsmannschaft (SL): »Die junge Generation hat gerade bei ihren Kontakten zur ČSSR festgestellt, daß eine Mitarbeit in der SL der Zusammenarbeit mit dem tschechischen Volk im Wege steht.« Zudem gebe es Hinweise, dass die rechtsextreme NPD in den Landsmannschaften an Einfluss gewinne.
Der Protest der Jugend verfehlte seine Wirkung nicht. In den neuen Leitsätzen von 1970 bezeichnete die Ackermann-Gemeinde die »Versöhnung mit dem Osten« als eine ihrer Hauptaufgaben. Dazu benötige es »gründliches Wissen um die historischen, kulturellen, religiösen und menschlichen Gegebenheiten sowie um die verschiedenen gesellschaftlichen und ideologischen Entwicklungen der Völker in Ostmitteleuropa.« Im Gegensatz zu den programmatischen Erklärungen, die wenige Jahre nach der Vertreibung der Deutschen aus Böhmen, Mähren und Schlesien verfasst worden waren, sprachen die neuen Leitsätze nicht mehr von der »alten Heimat«. Zugleich engagierte sich die Ackermann-Gemeinde weiterhin in der Sudetendeutschen Landsmannschaft. Das tat sie, obwohl sie sich mit ihrer Forderung, das Münchener Abkommen von 1938 und damit die Zerschlagung der Tschechoslowakei als »nicht mehr gültig« zu erklären, in der Landsmannschaft nicht durchsetzen konnte. Doch die Ackermann-Gemeinde bemühte sich stets darum, auf die verschiedensten Seiten hin anschlussfähig zu bleiben. Sie brach somit auch die Brücken zur SL nicht ab.
Zurück zu den Wurzeln
Dass sich die Ackermann-Gemeinde in den siebziger Jahren als eher untypische sudetendeutsche Organisation profilierte, war kein völlig neues Phänomen. Sie kehrte vielmehr zu den Tugenden zurück, die sie schon in ihren ersten Jahren ausgezeichnet hatten. Der Augustinerpater Paulus Sladek (1908–2002), der Vordenker der frühen Phase, sprach im Vertriebenengelöbnis vom Januar 1946, dessen Gebet als Gründungsmoment der Ackermann-Gemeinde gilt: »Wir haben nicht nach den Sünden der anderen zu fragen – wir müssen die eigene Schuld bekennen.« Die Vorstellung, wonach Sudetendeutsche nicht nur Opfer seien, war in Vertriebenenkreisen revolutionär. In einem Gottesdienst, den der Augustinermönch im August 1955 in Haidmühle im Bayerischen Wald hielt, bekannte Sladek noch expliziter, dass die Deutschen in den böhmischen Ländern die Tschechen geringgeschätzt hätten. Die Predigt gilt mit ihrem theologischen Impuls als wegweisend für die Versöhnungsidee, auf die sich heute fast alle sudetendeutsch geprägten Organisationen berufen. Damals verband Sladek und Rudolf Lodgman von Auen, den damaligen national orientierten Sprecher der Sudetendeutschen Volksgruppe, allerdings nur die wechselseitige Abneigung.
Ernst Nittner. © Archiv Ackermann-Gemeinde
Ab Mitte der fünfziger Jahre solidarisierte sich jedoch die ältere Erlebnisgeneration, die in der Ackermann-Gemeinde und in der SL das Sagen hatte, immer stärker. 1957 kam es zum Eklat, als der Vorstand der Ackermann-Gemeinde den Neuen Ackermann, die Zeitschrift akademisch orientierter Jüngerer einstellen ließ. Die Führung störte, wie der Nachwuchs die Sinnhaftigkeit einer Rückkehr in die Heimat in Zweifel zog. Die 1958 veröffentlichte Publikation München 1938 – eine offene Frage offenbarte zudem, dass die Ackermann-Gemeinde sich nicht immer klar vom Münchener Abkommen distanzierte. Für einen abermaligen Kurswechsel bedurfte es des wiederholten Erwachens der Jugend und einer Selbsterkenntnis, wie sie 1967 das Vorstandsmitglied Hans Schmid-Egger, selbst über sechzig Jahre alt, formulierte: »Wir werden alt.« Schmid-Egger forderte, nicht nur die Generation der unter Dreißigjährigen, sondern auch Persönlichkeiten im mittleren Alter, wie den Historiker Ernst Nittner (1915–1997), zu fördern.
Streit um Geschichtsbilder
Ohnehin nahmen Historiker in der Ackermann-Gemeinde stets großen Einfluss. Sie prägten die Programmatik weit mehr als die Vorsitzenden, die in der Regel gut vernetzte christlich-demokratische Politiker mit sudetendeutschen Wurzeln waren. Nittner gewann im Vergleich zu Eugen Lemberg (1903–1976), der als Nationalismusforscher weit über die Ackermann-Gemeinde hinaus bekannt war, in der Organisation an Einfluss, und wurde 1980 ihr stellvertretender Vorsitzender. Als Zeithistoriker kritisierte Nittner insbesondere die Vorstellung einer historischen deutschen Kulturträgerschaft in den böhmischen Ländern. Stattdessen sprach der Professor für Zeitgeschichte an der Universität der Bundeswehr München von einer jahrhundertealten deutsch-tschechischen Symbiose. Damit geriet er in einen scharfen Gegensatz zu Walter Becher, dem damaligen Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft, der die Vorstellung einer homogenen sudetendeutschen Volksgruppe vertrat, und jede Relativierung als »Schädigung« der Gruppenidentität betrachtete. Als der Streit seinen Höhepunkt erreichte, schrieb die Ackermann-Gemeinde im Juli 1981 in ihrem Mitteilungsblatt gar von »Unruhe« in der Volksgruppe. Ernst Nittner, der einen ausgesprochen pädagogischen Habitus pflegte, arbeitete auch mit der exiltschechischen katholischen Vereinigung Opus Bonum zusammen. Diese bestand aus Tschechen, die nach der Niederschlagung des Prager Frühlings in die Bundesrepublik emigriert waren. Sie zogen den Argwohn der alteingesessenen, streng antikommunistischen tschechischen Exilanten auf sich. Die Ackermann-Gemeinde erkannte jedoch ihre Chance, da die Neuankömmlinge weniger Ressentiments gegen die Sudetendeutschen zu haben schienen, und bezeichnete das Opus Bonum als »Partnerorganisation«. Ebenso stellte die Ackermann-Gemeinde den Exiltschechen ihr Tagungshaus in Franken im Fichtelgebirge zur Verfügung. Dort konnten sich im Februar 1978 reformkommunistische, konservative und katholische Strömungen des Exils auf die Unterstützung der Charta 77 einigen. Zugleich befanden sie, die Vertreibung der Deutschen sei »außerhalb der Gesetze« geschehen.
Grenzüberschreitend
Neben dem deutsch-tschechischen Dialog in der Bundesrepublik verstärkte die Ackermann-Gemeinde ab Mitte der sechziger Jahre auch die Kontakte in die damalige sozialistische Tschechoslowakei. Insbesondere Generalsekretär Adolf Kunzmann (1920–1976) erwies sich als findiger Organisator der grenzüberschreitenden »Osthilfe«. Sie versorgte sowohl vertriebene Katholiken als auch die verbliebene deutsche Minderheit mit Lebensmitteln, Medikamenten und theologischer Literatur. Als Pragmatiker verhandelte Kunzmann sogar mit Jan Mára, dem Leiter der tschechischen Caritas, von dem er wusste, dass dieser zugleich Kopf der regimetreuen Priestervereinigung Pacem in Terris war. Das Besprochene landete in den Akten der tschechoslowakischen Staatssicherheit, worauf die Ackermann-Gemeinde die Transporte umorganisieren musste. »Nicht genau nachfragen«, nennt die Zeitzeugin Helena Faberová (*1935) die Devise, die daraufhin galt. Die Bistumsmitarbeiterin Faberová wirkte ab den späten siebziger Jahren im südböhmischen Budweis/České Budějovice als Distributorin von Hilfsgütern. 1999 wurde sie erste Vorsitzende der Sdružení Ackermann-Gemeinde, des tschechischen Ablegers des katholischen Verbandes.
Die Samtene Revolution wurde freudig begrüßt. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs veranstaltete die Ackermann-Gemeinde mit tschechischen Partnern jährliche Dialogforen von Iglau/Jihlava und Marienbad/Mariánské Lázně. Die Teilnehmenden debattierten hitzig über die deutsch-tschechische Geschichte und Zukunft und ließen Reizthemen wie die Beneš-Dekrete nicht aus. »Es ist ein Wagnis gewesen«, sagt Franz Olbert (*1935), damals Generalsekretär der Ackermann-Gemeinde. Er ist überzeugt, dass der offene Dialog entscheidend für die Deutsch-Tschechische Erklärung von 1997 gewesen ist. Danach verabschiedeten sich die »Ackermänner« aus dem Rampenlicht, das ihnen nie übermäßig behagt hatte. Die Nachbarschaft in der Mitte Europas wurde mit dem Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds und dem Deutsch-Tschechischen Gesprächsforum immer routinierter. Vor kurzem waren es zahlreiche Mitglieder der Ackermann-Gemeinde, die sich mit tschechischen Freunden an der geschlossenen Grenze zu »Samstagen für die Nachbarschaft« trafen. Mit Freude erwarten sie, dass nach dem Corona-Lockdown die Schlagbäume wieder hochgeklappt werden.