Die Wiederauflage der Bücher zur Stadthistorie von Karl Benyovszky kurz nach der Wende von 1989 trug wesentlich nicht nur zu umfassenderem Wissen über die Charakteristika Pressburgs bei. Sie initiierte sogar weitere Befragungen zu dessen kulturellem Erbe. Doch beginnen wir beim Urkeim des Wiederaufblühens der Werke des verschütteten Cicerone.
Es ist der jüdische Journalist Juraj Špitzer (1919–1995), in der Mittelslowakei geboren, nach dem Entkommen aus einem faschistischen Sammellager für Juden als slowakischer Partisan kämpfend und sich dann wurzellos in Bratislava niederlassend, der auf Benyovszky stößt. Špitzer beginnt seine Wahlheimat zu lieben und interessiert sich für mehr, als die Ideologen ihm zu bieten haben. Bei seinen Streifzügen durch die Stadt stöbert er in Antiquariaten und entdeckt unter anderem Bücher des Pressburger Stadterzählers Benyovszky aus der Zeit der Ersten Republik.
Als sich eine ehemalige Kollegin von ihm für die tradierten Geschichten eines der Palais interessiert, um ihren Lesern kulturhistorischen Hintergrund zu einem Konzert zu bieten, saugt sie die neuartigen Begebenheiten begierig auf. Doch zur Veröffentlichung kommt es nicht, Špitzer ist eine verfemte Gestalt der Normalisierungsära, und der Artikel der jungen Frau wird nicht nur abgelehnt, sie muss Špitzer sogar um Verständnis bitten, dass sie den Kontakt zu ihm abbricht. Ein Kollege war bereits entlassen worden, weil er sich mit solch »unerwünschten Elementen« eingelassen hatte.
Derart brisant, auch aufgrund der vermittelnden Person, konnte selbst eine unscheinbare Broschüre werden. Es handelte sich um Benyovszkys Bratislava – Pressburg in Wort und Bild. Ein Führer durch die Hauptstadt der Slowakei von 1931, zum dritten Mal dann im faschistischen slowakischen Staat aufgelegt und so dem einst verfolgten Juden Špitzer in den 1970er Jahren in die Hände gefallen. Dessen Tagebuchnotate hierzu erschienen dann erst posthum 2001. Und er wäre ein würdiger Nachfolger Benyovszkys geworden, wenn er all das gesammelte Material – selbst die Wasserstandsanzeigen der Donau zogen ihn in ihren Bann – zu einem eigenen, vielleicht auch künstlerischen Werk verarbeitet hätte.
Karte von Pressburg um 1905 aus dem Baedeker-Reiseführer. © Wikicommons
Die Heranbildung eines Lokalpatrioten
Als echtes Stadtkind kam Karl Benyovszky am 4. Juli 1886 unweit des Theaters zur Welt. Sein Elternhaus lag südwärts davon, zur Donau hin, und war das spätere Hotel Savoy, kurz vor den Räumlichkeiten der heutigen Slowakischen Nationalgalerie im erweiterten Eszterházy-Palais.
Nach der Schulzeit absolviert er eine Buchhändlerlehre und kommt dann auch als Verlagsmitarbeiter nach Budapest. Der Sprachenwechsel stellt kein Hindernis dar, er stammt ja aus einer dreisprachigen Stadt, wobei das Slowakische in dieser Epoche den geringsten Anteil ausmacht.
Der neue Name Bratislava existiert zur Zeit der Habsburgermonarchie noch nicht, im Slowakischen sagte man Prešporok, phonetisch dem deutschen Pressburg angelehnt; Ungarisch hieß es Pozsony. Der Vater warnt als Polizeibeamter den Sohn vor diesem Beruf, und doch wechselt dieser dann in den Jahren 1912 bis 1918 zur Kriminalpolizei. Ein gesellschaftliches Milieu, das ihn zu einer späteren Publikation anregen wird. Zunächst jedoch muss er einen Tribut an die erste Epochenwende des 20. Jahrhunderts zahlen. Nach dem Zusammenbruch der Monarchie wird er in der Räterepublik zum politisch Verfolgten und verbüßt in Budapest eine Haftstrafe.
1924 endlich kann er in die Heimatstadt zurückkehren, orientiert sich beruflich aber neu. Stadt und Land wechselten derweil die staatlichen und sprachlichen Vorzeichen. Zur Amtssprache wurde nun Slowakisch, wobei die Erste Tschechoslowakische Republik sich an vorbildliche Minderheitenregelungen zu halten versuchte. Ähnlich wie heute in Südtirol war dort in der Zwischenkriegszeit die legendäre Dreisprachigkeit im öffentlichen Leben zum Beispiel durch Aufschriften und Reklame allgegenwärtig. Benyovszky schlägt sich als Englischlehrer durch, gleichzeitig strengt er in Budapest seine Rehabilitierung an, was ihm 1926 gelingt.
Dann kann er endlich seine journalistische Laufbahn angehen. 1928 wird er Mitarbeiter der renommierten Preßburger Zeitung – ein Periodikum, das mit der Gründung 1764 auf die bis dato längste Zeitungsgeschichte in Ungarn zurückblicken kann –, später auch des ebenfalls angesehenen Grenzboten. Doch da hatte Benyovszky bereits durch die Veröffentlichung seiner lokalen Recherchen auf sich aufmerksam gemacht. Aufgrund einer Artikelserie zu Adam Friedrich Oeser (1717–1799), einem Pressburger Maler, der in Leipzig zum Akademiedirektor reüssierte und vor allem zeitlebens sowie für uns durch sein Epitheton als »Zeichenlehrer Goethes« beachtenswert blieb, erregte er die Aufmerksamkeit der städtischen kulturellen Kreise. Der prominente Stadtarchivar Ján Batka hatte ihn zu seinen Zirkeln eingeladen, und Benyovszky konnte wichtige Kontakte knüpfen, die ihn zu einem neuen Arbeitsfeld führten.
Intensives Publizieren
Neben der journalistischen Alltagsarbeit widmete sich Benyovszky längerfristigen, ja sogar aufwendigen langjährigen Buchprojekten. Den meisten Menschen, die sich für das alte Pressburg interessieren, verbindet sich Benyovszkys Name mit seinen stadtgeschichtlichen Werken. Außer dem oben erwähnten touristischen Führer sind es Titel wie Das Eisenbrünnel (1930) oder Malerische Winkel und Höfe aus dem alten Preßburg (1932), die ihm hohe Popularität verschafften.
Unter demselben Blickwinkel ist seine Vermittlung der Welt des Judentums zu werten, hatte es doch wesentlichen Anteil an der Pressburger Stadtkultur. Das jüdische Viertel schmiegte sich vom St. Martinsdom den Burghang hinauf; es war ein quirliger Bezirk mit verschachtelten Wohnhäusern, Werkstätten, Geschäften, Trödelläden, schließlich sogar zwei Synagogen. Erst Anfang der 1970er Jahre wurde dieses authentische Quartier zusammen mit der Neologen Synagoge im Zuge von Baumaßnahmen zur Neuen Brücke zerstört. Dabei hatte es den Holocaust unbeschadet überstanden. Benyovszky jedoch war es gelungen, das dortige Leben mit seinen Sitten bereits in den Pressburger Ghettobildern (1932) festzuhalten.
Als wichtige Komponente von Urbanität betrachtete er seine Arbeiten zur Geschichte der städtischen Schaubühne wie in Das alte Theater (1926), dem er als Motto voranstellte: »Das Theater eines Volkes ist der Maßstab seiner Kultur«; es erschienen noch zwei weitere Schriften zu diesem Themenkomplex. Volkskundlich ausgesprochen bedeutsam wurden seine Recherchen zu den Oberuferer Weihnachtsspielen einer deutschsprachigen Gemeinde im damaligen Pressburger Umkreis, die auf das 16. Jahrhundert zurückgingen und die er in ihrer Aufführung wiederzubeleben trachtete. Eine von ihm bearbeitete Textausgabe erschien 1934. Zu dieser Zeit begann er wohl wie einst die Brüder Grimm für ihre Märchensammlung von Haus zu Haus zu ziehen, um mündlich weitergegebenes Erzählgut zu fixieren. So zumindest wird berichtet, dass sein Buch Sagenhaftes aus Alt-Pressburg (1931/1932) entstand. Letztendlich sei noch auf seine nach wie vor musikologisch geschätzte Studie J. N. Hummel, der Mensch und Künstler (1934) hingewiesen. Wie er selbst ist dieser Komponist ein Sohn der Stadt (sein Geburtshaus lässt sich heute besichtigen) und zieht weit in die Welt hinaus, nachdem er auch zu Mozarts Schülern gehört hatte. Benyovszky arbeitet gut anderthalb Dekaden an dem detailgenauen Werk und ist dafür seinerseits in Europa u. a. bis nach Florenz, Paris und London in Archiven unterwegs. Nach dem Zweiten Weltkrieg muss er, der deutschen Minderheit angehörend, seine Stadt verlassen und beschließt sein Leben 1962 im österreichischen Bad Aussee.
Die geistigen Vorväter
Anders als in seinem eigenen Fall des bewusst ideologisch verordneten Vergessens, wie es eingangs angerissen wurde, konnte Benyovszky offen und gewiss auch diskursiv auf Vorgänger bzw. Mitstreiter bei seinem publizistischen Ansinnen zurückgreifen. Da ist zunächst der erwähnte Stadtarchivar Ján Batka, der ihm aus seiner täglichen Arbeit sicher hilfreiche Hinweise zu Quellen bzw. direkt einzelne Fakten zum Stadtwesen vermittelte. Nicht ausgeschlossen, dass Benyovszky sogar noch persönlich auf den seither umfangreichsten Chronisten Pressburgs traf. Tivadar Ortvay war 1875 als katholischer Priester zugezogen – seinen Namen hatte er zeittypisch vom deutschen Theodor Orthmayr magyarisiert – und lehrte als Historiker an der Rechtsakademie sowie später an der neugegründeten Universität. Seine Hinwendung zur städtischen Historie mündete in ein monumentales vierbändiges Werk, das in den Jahren 1892 bis 1912 als Geschichte der Stadt Preßburg erschien, und zwar auch auf Ungarisch, wie es sich für die Doppelmonarchie gehörte. Er wiederum hatte aus Werken weiterer Vorgänger schöpfen können. Paul von Ballus hatte 1823 Presburg und seine Umgebung herausgebracht. Und der aus der heutigen Ostslowakei zugewanderte Johann Matthias Korabinsky verfasste seine Beschreibung der königl. ungarischen Haupt-, Frey- und Krönungsstadt Preßburg im Jahr 1784. Als einer der ältesten und zugleich prominentesten Historiografen soll noch Mathias Bel oder auch Matej Bel, da er slowakischer Herkunft war, berücksichtigt werden. Er zählt zum Typus des barocken Universalgelehrten, heiratete in Pressburg eine deutschsprachige Bürgerstochter und entfaltete eine reiche publizistische Tätigkeit, allerdings auf Latein, wie damals nicht anders denkbar. Auf sein Betreiben kam die erste Zeitung Ungarns heraus, die sich des Stadtnamens in der Gelehrtensprache bediente: Nova Posoniensia. Sein Hauptwerk befasste sich mit nicht weniger als der Beschreibung ganz Ungarns. Immerhin kann man in der abgekürzt als Notitia Hungariae (1735–1742) genannten Schrift einiges aus seiner Feder über das hiesige urbane Gemeinwesen in der Mitte des 18. Jahrhunderts erfahren.
Den Faden wieder aufnehmen
Juraj Špitzer war es nicht möglich gewesen, den Faden für die städtischen Erzählungen wieder aufzunehmen. Es musste zur Samtenen Revolution kommen, damit Menschen wie Selma Steiner den unterdrückten Narrativen erneut Geltung verschaffen konnten. Sie war eine der wenigen Holocaust-Überlebenden der Verlegerfamilie Steiner, in deren Buchhandlung angeblich nicht nur die ersten Begegnungen zwischen Benyovszky und Batka stattfanden, sondern die auch manche der Bücher des Ersteren herausbrachte. Wer wäre berufener gewesen, in den 1990er Jahren eine Buchedition zur Stadtgeschichte im PT-Verlag von Albert Marenčín zu begründen, die sie bis heute namentlich als die Initiatorin nennt und auf weit über hundert Titel anwuchs?
Zunächst wurde Benyovszky auf Slowakisch herausgegeben, ein wichtiger Beitrag zur Aufklärung der jetzigen Stadtbevölkerung. Inzwischen liegen auch seine bekanntesten deutschen Originalausgaben wieder vor und nachfolgende Autoren verfassen unter diesem Etikett Bücher zu den mannigfaltigsten Sujets der Stadt, seien es die Freimaurer, Kaffeehausgänger, Sammler alter Postkarten oder Kochrezepte der Pressburger Flößer. Ungeahnt treibt das Erbe Karl Benyovszkys üppigere Blüten denn je.
Heute ist Bratislava Hauptstadt der Slowakei © Miroslav/ AdobeStock
Renata SakoHoess ist Autorin des Literarischen Reiseführers Pressburg/Bratislava.