Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion 1941 erlebten Sowjetbürger deutscher Herkunft Entrechtung, Enteignung und vielfältige Repressalien. Der Regierungserlass vom 28. August 1941 leitete die Liquidierung der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen (ASSRdWD) und die totale Verbannung der deutschen Bevölkerung aus dem europäischen Teil der Sowjetunion ein. Bis Ende 1941 hat das Innenministerium NKWD um die 800 000 Personen nach Kasachstan und Sibirien deportiert und ihr gesamtes Hab und Gut restlos konfisziert. Etwa 250 000 weitere Deutsche lebten bereits im asiatischen Teil der UdSSR und durften hier zwar in den ländlichen Wohnorten verbleiben, wurden jedoch aus den Städten ebenfalls zwangsausgesiedelt.
In den Jahren 1941 bis 1946 wurden nicht weniger als 350000 deutsche Frauen, Jugendliche und Männer zur Zwangsarbeit in der sogenannten Trudarmija (Arbeitsarmee) verpflichtet. Sie kamen im Rahmen des GULag-Systems bei großindustriellen Bauprojekten, beim Holzeinschlag, bei der Erdölgewinnung oder in Kohlegruben zum Einsatz. Dabei kamen etwa 70000 Menschen um; Tausende unterlagen strafrechtlichen Repressalien und wurden zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt.
Nach Kriegsende kamen ca. 200000 sogenannte Repatrianten hinzu – es handelte sich um diejenigen Deutschen in der Ukraine, die in den ersten Kriegsmonaten unter die Besatzung der Wehrmacht und ihrer Verbündeten gerieten und 1943/1944 von der reichsdeutschen Seite in das »Altreich« oder in den Warthegau umgesiedelt wurden. Die sowjetische Seite hat diese Umsiedler ihrerseits zu Personen minderen Rechts, d.h. zu Sondersiedlern erklärt und in die Deportationsgebiete verschickt.
Noch ein Jahrzehnt nach Kriegsende standen die Russlanddeutschen mit stark beschnittenen Bürgerrechten unter der Aufsicht der Sonderkommandanturen des Innenministeriums. Sie befanden sich in den entlegensten Orten in Sibirien, im Hohen Norden und der Mittleren Wolgaregion, im Ural und in Kasachstan und in den Wüsten Zentralasiens, absichtlich zerstreut auf einer Fläche von Millionen von Quadratkilometern und oft von den Verwandten getrennt.
Ohne Erlaubnis des Kommandanten durften sie sich nicht mehr als fünf Kilometer von dem Ort ihrer Pflichtansiedlung entfernen, das Einnehmen von Führungspositionen sowie ein Studium blieben ihnen verwehrt und grundsätzlich verboten. Im europäischen Teil des Landes war es ihnen in der Regel nicht gestattet, sich niederzulassen, Urlaub zu machen oder ärztlich behandelt zu werden.
Unter diesen Bedingungen war an jegliche Art der Selbstorganisation nicht zu denken. Überhaupt durften in der Sowjetunion nur vom Staat abhängige und ideologisch konforme Verbände und Organisationen existieren, wie etwa der Kommunistische Jugendverband (Komsomol), Sportvereine oder der Verband der Sowjetschriftsteller. Sie alle wurden nach dem produktions-territorialen Prinzip aufgebaut: Man hat die Primärgruppen in Betrieben oder Behörden, d. h. am Arbeitsort gegründet, die dann hierarchisch und straff zentralistisch geführt wurden.
Nationale Verbände und unabhängige Vereine diverser Art waren strikt verboten und bei Verdacht auf Bildung ebensolcher waren deren Mitglieder der sofortigen Sanktionierung bis hin zur strafrechtlichen Verfolgung ausgesetzt.
Religiöse Gemeinschaften und erste Initiativgruppen
Die einzig nichtstaatlichen Organisationen stellten in der UdSSR religiöse Gemeinschaften dar. Dabei mussten die Deutschen zunächst wegen ihres Sondersiedlerstatus mit Repressalien rechnen, sobald sie ihr verfassungsmäßiges Recht auf Gewissensfreiheit in Anspruch nahmen. Eine Welle strafrechtlicher Verfolgung des Ministeriums für Staatssicherheit (Nachfolger des berüchtigten NKWD) in den Jahren 1950-1953 betraf gerade die im Entstehen befindlichen deutschen freikirchlichen Gruppen.
Erst nach dem Tod Stalins (1953) und mit der beginnenden Liberalisierung der sowjetischen Gesellschaft wurden die offensichtlichsten Rechtsbeschränkungen der »Sowjetbürger deutscher Nationalität«, so im Amtsrussisch, aufgehoben. Allerdings verbot der Erlass vom 13. Dezember 1955 ihnen die Rückkehr in ihre Heimatorte und schloss die Rückgabe des konfiszierten Vermögens ausdrücklich aus. Als Reaktion darauf bildeten sich seither zahlreiche, meist lose Interessengemeinschaften und oppositionelle Gruppen, die versuchten, Interessen und Bürgerrechte der »Sowjetdeutschen« zu artikulieren und durchzusetzen.
Zum einen handelte es sich um die Anhänger der Wiederherstellung der rechtswidrig aufgelösten Sowjetrepublik der Wolgadeutschen. Besonders im Vorfeld des nahenden 200-jährigen Jubiläums der Ansiedlung der Deutschen an der Wolga (1964) entstanden meist spontan zahlreiche Initiativgruppen, die auf die Lösung des innersowjetischen deutschen Problems drängten. Es kam in den 1960er Jahren zur Bildung und Entsendung mehrerer Delegationen der Deutschen nach Moskau, die versuchten, durch Kollektiveingaben und Vorsprachen bei Entscheidungsträgern ihren Forderungen nach einer substanziellen Rehabilitierung Gewicht zu verleihen. Aktivisten und Sprecher dieser Initiativgruppen – oft Mitglieder der herrschenden kommunistischen Partei, nicht selten verdiente Genossen, ausgerüstet mit einem Zitatenschatz über nationale Gleichberechtigung, meist von dem Begründer des Sowjetstaates, Wladimir Iljitsch Lenin, stammend – wurden zwar nicht ins Gefängnis geworfen, erlebten aber gesellschaftliche Degradierung und Parteiausschlüsse.
Die hartnäckige Weigerung der sowjetischen Staats- und Parteiführung, die territoriale Autonomie an der Wolga wiederherzustellen und somit die wichtigste Voraussetzung zur umfassenden Rehabilitierung und Gleichberechtigung der Deutschen mit anderen, nun etablierten Völkern der UdSSR zu schaffen, führte zu einem Identitäts- und Gesinnungswandel vieler Betroffenen und einstiger »Autonomisten«. Besonders anschaulich zeigte sich dies in einer Protestaktion im Jahr 1973: An viele zentrale Institutionen und Menschenrechtsorganisationen im In- und Ausland ging eine Petition mit der Forderung nach einer freien Ausreise in die Bundesrepublik, unterschrieben von ca. 7000 Familienvertretern, die etwa 35000 Personen repräsentierten. Diese umfangreiche Eingabe enthielt auch eine programmatische Schrift mit der bezeichnenden Überschrift: »Von der Idee der Wiederherstellung der ASSR der Wolgadeutschen bis zur Idee der Emigration.«
Die Aktion wurde von einem Zusammenschluss Dutzender Vorkämpfer etwa aus Estland oder Kirgisien bewerkstelligt. Obwohl sofort vom KGB verhört und von Miliz und Staatsanwaltschaft bedroht und schikaniert, durften die meisten dieser Aktivisten dank internationaler Proteste später in die Bundesrepublik
ausreisen.
Im Kampf um das Recht auf einen freien Wegzug aus einem Land in ein anderes entstanden zahlreiche informelle Vereinigungen der Deutschen. Schon seit 1955, insbesondere nach der Eröffnung der bundesdeutschen Botschaft in Moskau, versuchten die einst zwangsrepatriierten Ukrainedeutschen zu den in der Bundesrepublik verbliebenen Verwandten auszusiedeln. In verschiedenen Orten des asiatischen Teils der Sowjetunion wurden im Verborgenen Listen der Ausreisewilligen zusammengestellt und Vertrauensleute nach Moskau geschickt, die diese Listen in die Botschaft schmuggeln sollten. Bis 1957 sammelten sich in der bundesdeutschen Botschaft Anträge von über 80000 Ausreisewilligen.
Erstes deutsches Nationalkomitee
Durch den 1970 unterzeichneten deutsch-sowjetischen Vertrag, einhergehend mit einer begrenzten Zulassung der Familienzusammenführung, erfuhren die »Emigrationsstimmungen«, wie es im Propaganda-Russisch hieß, zusätzlichen Antrieb. Um sich vor der drohenden Verfolgung besser zu schützen, sich bei den Behörden das nötige Gehör zu verschaffen und größeren Druck ausüben zu können, gründeten sich in den 1970er bis Anfang der 1980er Jahre verschiedene Komitees und Vereinigungen. Das bekannteste war wohl das in der Nähe der Hauptstadt Kirgisiens, Frunse, von Peter Bergmann, Andreas Maser und anderen Aktivisten am 17. Dezember 1972 gegründete »Deutsche Nationalkomitee – für die Auswanderung der Deutschen aus der UdSSR«. In vielen Großstädten waren Demonstrationen und öffentliche Proteste an der Tagesordnung.
In den Augen der Moskauer Machthaber bedeutete das Ausreisebegehren eine schwerwiegende antisowjetische Tat, die mit allen Mitteln bekämpft werden sollte. Für ihren Freiheitsdrang zahlten die Russlanddeutschen einen hohen Preis. Laut den unvollständigen Gefangenenlisten wurden seit 1972 mindestens 89 Personen in dieser Sache strafrechtlich belangt und abgeurteilt. Tausende Aktivisten mussten häusliche Durchsuchungen, Einschüchterungen seitens des KGB, der Miliz oder der Staatsanwaltschaft, verleumderische Pressekampagnen, Berufs- und Studiumsverbote und nicht zuletzt auch den Hass der aufgehetzten Arbeitskollegen über sich ergehen lassen. Im Kampf um das Recht auf Emigration erhielten die Ausreisewilligen Unterstützung von sowjetischen Dissidenten um den Wissenschaftler und Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow.
Die Hinwendung zum Glauben war der weitverbreitetste Ausdruck der herrschenden Unzufriedenheit und Nonkonformität. Überdurchschnittlich viele Deutsche fanden Halt in vornehmlich freikirchlichen Gemeinden. So zählte die deutsch-mennonitische Brüdergemeinde in Karaganda Ende 1956 gerade einmal 21 Mitglieder; nur drei Jahre später umfasste sie schon 984 Mitglieder. Seit Anfang der 1960er Jahre erlebten viele deutsche Glaubensgemeinschaften eine starke Politisierung, was insbesondere die Anhänger des Zentralrats der Kirchen der Initiativ-Baptisten betraf, die sich 1961 von dem offiziellen Bund der Baptisten abspalteten. Sie forderten eine Nichteinmischung in innerkirchliche Angelegenheiten, missachteten das Missionierungsverbot und praktizierten die – staatlich untersagte – Unterweisung der Kinder in der Glaubenslehre. Die religiösen Vereinigungen der deutschen Initiativ-Baptisten zeichneten sich durch eine ausgeprägte innerkirchliche Solidarität mit den verhafteten Predigern und einem engen Zusammenschluss mit russischen und ukrainischen Glaubensbrüdern aus. Sie scheuten sich nicht vor Konfrontation mit staatlichen Strukturen, wandten sich an die internationale Öffentlichkeit und unterhielten Untergrunddruckereien.
Russlanddeutsche »Wiedergeburt«
Erst die Perestroika schuf die Voraussetzungen für eine umfassende Berücksichtigung der nationalen Interessen zahlreicher Völker der damaligen UdSSR, die u. a. das Recht bekamen, nationale Vereine und Interessenvertretungen zu gründen, unabhängig davon, ob sie eine territoriale Autonomie im Land hatten oder nicht. Als Vorreiter in dieser Hinsicht erwiesen sich, wie so oft in der sowjetischen Nachkriegsgeschichte, die baltischen Unionsrepubliken. Bereits im Frühling 1988 entstanden in Estland Vereine der dortigen Schweden, Armenier und anderer nationaler Gruppen. In Litauen wurde beim Kulturfonds eine Abteilung für Kultur der Polen und Juden gegründet, die in dieser Unionsrepublik ansässig waren.
Die russlanddeutsche Öffentlichkeit diskutierte seit November 1988 in der Moskauer Wochenschrift Neues Leben über die Frage der Bildung eines »Kulturbundes der Sowjetdeutschen«. Schließlich wurde Ende März 1989 die Gründung der Unionsgesellschaft der Sowjetdeutschen, »Wiedergeburt«, proklamiert. Davon berichteten das sowjetische Fernsehen und die führenden Zentralzeitungen Prawda und Iswestija. Somit avancierte die »Wiedergeburt« zur ersten offiziell anerkannten Organisation der deutschen Minderheit seit Ende der 1920er Jahre. Ihr oberstes Ziel bestand laut Statut darin, »nationale Bedürfnisse […] der über zwei Millionen Sowjetdeutschen zu befriedigen und vor allem die unrechtmäßig aufgelöste Autonome Republik der Sowjetdeutschen an der Wolga sowie eine Reihe nationaler Rayons in den Gegenden, in denen heute der Anteil der sowjetdeutschen Bevölkerung sehr hoch ist, wiederherzustellen.«
Im heutigen Russland geht die Zahl der deutschen Organisationen, Förder- und Trägervereine in die Hunderte, was allerdings kein zuverlässiger Indikator für aktuelle und künftige Tendenzen im gesellschaftspolitischen oder sprachlich-kulturellen Bereich ist.