Eigentlich ist der Deutsche Orden das Steckenpferd von Jürgen Sarnowsky, emeritierter Professor für mittelalterliche Geschichte an der Universität Hamburg. Aber von dessen Ausbreitung im Ostseeraum ist es bis zur Entwicklung der Hanse nicht weit. Denn schon die Hochmeister des Ordens förderten den Handel in ihren Städten und weit darüber hinaus. Der Vorsitzende des Hansischen Geschichtsvereins und der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung sprach mit Renate Zöller über den mächtigsten Handelsverband des Mittelalters, der auch das östliche Europa bis heute prägt.
März 2023 – Kulturkorrespondenz östliches Europa № 1434
Prof. em. Dr. Jürgen Sarnowsky. © Olaf MalzahnProf. em. Dr. Jürgen Sarnowsky. Foto: © Olaf Malzahn

Die Hanse breitete sich seit dem 12. Jahrhundert über ganz Europa bis aus. Wie erklären Sie sich den Aufstieg dieses Handelsimperiums?

Es fängt ja immer mit einfachen Dingen an: In allen europäischen Ländern gab es ab dem 11. Jahrhundert eine Wärmephase, einen Ausbau der Landwirtschaft und eine erhebliche Vergrößerung der Bevölkerung. Es entstanden viele neue Dörfer und Städte. Während es im 12. Jahrhundert im Heiligen Römischen Reich vielleicht rund 50 Städte im engeren Sinne gab, dann wurden es bis 1300 viele mehr, vielleicht 3000. Im südöstlichen Ostseeraum schuf z.B. der Deutsche Orden ein Netz aus rund 100 Städten, die miteinander verbunden waren. Die hatten häufig zu festen Terminen einen Jahrmarkt, die Händler konnten oft von der einen zur nächsten Stadt ziehen. 

Aber die Hanse-Kaufleute legten riesige Distanzen zurück. Wie sicherten sie sich ab?

Zur Absicherung der Kaufleute dienten zunächst die Rechteverleihungen der Herrscher, der Handel wurde dann auch durch die Zusammenarbeit der Städte geschützt. So gab es schon lange einzelne Städtebünde, aber erst die Hanse fasste mehrere Städtebünde zusammen. In London etwa wurden die Kölner schon 1157 privilegiert, dann kamen die Ostseekaufleute dazu, auch die Hamburger und die Lübecker Kaufleute, die jeweils ihre eigene Hanse erhielten. 1282 wurde in London von Seiten der Stadt, nicht seitens der ausländischen Kaufleute, erstmals von der Hansa teutonica, der »deutschen Hanse«, gesprochen. 

Was war das Besondere an der Hanse, warum war sie so erfolgreich?

Das Wichtigste war, dass die Hansekaufleute auf den von ihnen erworbenen Privilegien aufbauen konnten. Teilweise gelang sogar ihre rechtliche Gleichstellung mit den jeweiligen einheimischen Kaufleuten. Der Erwerb und die Wahrung von Privilegien war die zentrale Voraussetzung für die Entwicklung der Hanse. Nach hansischem Recht musste ein Kaufmann nicht für die Schulden eines Dritten haften. Auch die Formen der Gerichtsbarkeit wurden geregelt. Vorher wurden beispielsweise Diebe nach Landesrecht verurteilt, in Eisen geschlagen oder hart körperlich bestraft. Jetzt wurden Rechtsstreitigkeiten, soweit möglich, innerhalb der Gruppe der Kaufleute gelöst. 

Wieso waren die Landesherren bereit, den Kaufleuten so weitreichende Privilegien zuzugestehen?

Die Landesherren hatten ein Interesse daran, Siedler wie auch fremde Kaufleute ins Land zu locken. Das lohnte sich offenbar für alle Beteiligten. Aus Sicht der Landesherren waren Städte so eine Art Großburg, die sich mit vielen Einwohnern und Stadtmauern viel besser verteidigen ließen. Das waren Herrschaftszentren mit administrativen und rechtlichen und kirchlichen Institutionen. Wenn die Städte wachsen sollten, mussten sie eine wirtschaftliche Funktion über die Region hinaus haben. Dazu brauchten sie ein Marktrecht, das Münzrecht oder eben auch, dass fremde Kaufleute aktiv eingeladen wurden.

Wie war die Hanse organisiert? 

Die wichtigste Institution war der Hansetag. Hier wurden Themen von gesamthansischer Bedeutung diskutiert. Die erste Versammlung ist im Zusammenhang mit Problemen im Flandernhandel belegt, 1356 in Lübeck. Dabei wurde vermutlich eine Gesandtschaft nach Flandern beschlossen, die unter anderem die Brügger Kontorsordnung bestätigte, nach der die nach Brügge kommenden Hansekaufleute drei Dritteln zugewiesen wurden, dem wendisch-sächsischen Drittel, dem westfälisch-preußischen Drittel und dem gotländisch-schwedisch-livländischen Drittel. Aus diesen Dritteln wurden die Vertreter des Kontors gewählt, zwei »Älterleute« und sechs Beisitzer aus jedem Drittel.

Welche Produkte wurden zwischen Ost und West gehandelt?

Aus dem Osten kamen Felle, Wachs für die Kerzen, Flachs aus Livland, Getreide aus Preußen und Polen. Man war damals im Westen, insbesondere in den Niederlanden und in Norwegen, von diesem Getreide abhängig. Auch Holz wurde zu den Häfen wie Danzig und Königsberg geflößt und dann in großen Schiffen nach Westeuropa gebracht, sowohl feines Holz für Bögen und Möbel, aber auch Balken für den Schiffsbau. Umgekehrt gingen Gewürze nach Osten, Salz oder Tuche aus Flandern oder England. 

Wie wichtig war der Weg über das Meer?

In ganz Europa entwickelte sich die Schifffahrt als Dienstleister für den Handel. Der Transport über See war langsamer, aber sogar sicherer. Über Land wusste man nie genau, ob die Privilegien eingehalten wurden, ob man eventuell inhaftiert oder überfallen wurde. Massenwaren, also etwa Holz oder Salz, konnten sowieso nicht über Land, sondern nur auf großen Schiffen, Koggen oder Holks, über das Meer transportiert werden. Problematisch war allerdings lange, dass man um Dänemark herumfahren musste. Die »Umlandfahrt« bei Skagerrak war sehr gefährlich, da gingen öfter Schiffe und ihre Fracht verloren. Seit dem Ende des 14. Jahrhunderts bot der Weg über Elbe und Stecknitzkanal (zwischen Lübeck und Lauenburg) eine Ausweichmöglichkeit, weitere Kanalbauten scheiterten. 

Wie lange dauerten diese Reisen?

Teilweise mehrere Wochen. Nach Nowgorod zum Beispiel fuhr man zunächst mit dem Schiff nach Gotland, von da aus nach Narwa, über die Newa zum Ladogasee – das waren beschwerliche Wege. Große Teile des Jahres waren die Handelswege nicht nutzbar. Deshalb pausierte die Schifffahrt von November bis Februar; in Nowgorod gab es die getrennten Gruppen Sommerfahrer und die Winterfahrer. Man blieb vor Ort, solange das Wetter schlecht war und betrieb Handel. Wenn die Wetter-Verhältnisse es dann wieder zuließen, reiste man ab. Zwischendurch stand das Kontor einige Zeit leer, bis die nächste Gruppe kam. 

Wie funktionierte der Austausch mit den einheimischen, russischen Händlern, wie überwand man Sprachbarrieren?

Vielleicht sprach der ein oder andere Russisch, aber meist lief die Kommunikation sicher über Dolmetscher. Es lag nicht im Interesse der Hanse, dass der Kontakt zu den Russen zu eng wurde. Sie versuchte mit verschiedenen Tricks, den russischen Direkthandel in Alt-Livland zu unterbinden. Dafür gab es beispielsweise Verordnungen gegen den Kauf auf Kredit. Die russischen Händler konnten es sich offenbar nicht leisten, die Ware vorab zu bezahlen und wurden mit diesem Trick aus dem Geschäft gedrängt. Narwa wäre gerne Hansestadt geworden, aber die livländischen Hansestädte wollten das nicht, wohl vor allem, weil sie die Konkurrenz fürchteten.

Warum kam es trotz des Erfolgs ab dem 15. Jahrhundert zum Niedergang der Hanse?

Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts versuchten die Landesherren, ihre Städte wieder unter Kontrolle zu bekommen. Nach und nach wurden etliche der Hansestädte unterworfen, dadurch kamen immer weniger zu den Hansetagen. Ab den 1550 Jahren begannen die übrig gebliebenen Städte, sich stärker zu organisieren, mit einer gemeinsamen Kasse, einem Hanse-Syndikus und konkreten Überlegungen, wer welche Kontingente zur Verteidigung stellen sollte. Zum letzten Hansetag 1669 kamen nur noch acht Städte, weitere Versammlungen kamen nicht zustande. 

Was geschah danach?

Es gab immer und überall Händler, die kooperierten; die Hanse war nur ein Beispiel für eine besonders erfolgreiche Zusammenarbeit im Handel. Das war nach dem letzten Hansetag keineswegs zu Ende. Lübeck, Hamburg und Bremen wurden beauftragt, für alle Hansestädte tätig zu sein. Man hatte damit immer noch eine diplomatische Vertretung und konnte auch über Privilegien verhandeln. Noch 1861 schlossen die drei im Namen der Hanse einen Handelsvertrag mit Frankreich. 1858 unterzeichneten sie sogar einen Handelsvertrag mit Thailand. 

Man erkennt die Hansestädte meist schon an ihrer besonderen Backstein-Architektur. Gibt es darüber hinaus eine Art »Erbe der Hanse« im östlichen Europa?

Auf jeden Fall. Das Interesse der baltischen Kollegen am Mittelalter ist sehr groß, sie fragen unter anderem nach den globalen Aspekten von Geschichte in ihren Ländern. Diese Region lässt sich eigentlich nur verstehen, wenn man sie in diesem Netz aus Einflüssen aus Russland, aber eben auch aus den Niederlanden, Deutschland, Skandinavien sieht. Das Baltikum war kein geschlossener Raum: Zunächst waren die deutsche und die baltische oder die finno-ugrische Bevölkerung segregiert, die Deutschen lebten in den Städten, die Einheimischen eher auf dem Land. Aber nach und nach kamen auch sie in die Städte, die Zentren eines wirtschaftlichen und kulturellen Austauschs waren, der über Nowgorod und Lemberg/Lviv sogar über Europa hinausging. Man kann sagen, die Hanse trug so im Mittelalter ihren Teil zu einer ersten Globalisierung bei. 

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KK – Kulturkorrespondenz östliches Europa
Ausgabe № 1434 | März 202
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mit dem Schwerpunktthema: 
Handel: Zwischen Hanse und Big Business

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