Um den am 16. Februar 2003 verstorbenen serbisch-jüdischen Aleksandar Tišma, einen Schriftsteller von weltliterarischem Rang, ist es still geworden. Aber seine Romane und Erzählungen bleiben exemplarisch für die Conditio humana. Nun erscheint mit Erinnere dich ewig seine Autobiographie und bietet den Anlass für eine Wieder- und Neuentdeckung. Von Achim Engelberg
März/April 2022 – Kulturkorrespondenz östliches Europa № 1428
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Aleksandar Tišma. Foto: © Branko Lučić

Der Erzähler füttert seine Mama, schiebt einen Löffel Suppe nach dem anderen in den welken Mund der Greisin, deren Gedächtnis sich immer mehr verflüchtigt. Auf den Fernsehern des Pflegeheims flimmern Bilder vom Zerfall Jugoslawiens. Inwieweit die Mutter den neuen Krieg vor der Haustür mitbekommt, weiß der Sohn nicht, aber es scheint lichte Momente zu geben. So will sie einmal wissen, ob sie ihn in Ruhe lassen.  Das Sterben des Landes und das der Mutter, das öffentliche und das individuelle Leben verschränkt der Sohn, als er 1992 seine Autobiographie schreibt. Damals unternahm er immer häufiger seine »Ausflüge auf dem fliegenden Teppich« seiner übersetzten Bücher. Viele Kritiker erwarten von ihm den großen Wurf zum neuen Krieg. Er aber beteuert, sein Werk sei abgeschlossen und er repräsentiere es nur noch.

Die Autobiographie ähnelt einem Roman von Tišma. Als ich ihn in seinen letzten Lebensjahren persönlich kennenlernte, betonte er: »Am Anfang steht bei mir immer eine Figur in ihrer Nacktheit.« Aber diese müsse bei ihm eine komplexe Geschichte erzählen. Sein Wissen über Auschwitz wollte er nicht erklären, sondern konnte es erst erzählend umschließen als er die Figur eines Kapo gefunden hatte, der seine relative Macht sexuell ausnutzt und nach dem Überleben damit nicht fertig wird. Viele seiner Gestalten kommen aus dem Krieg und finden keinen Platz mehr im Leben. Tišma ist kein Kriegserzähler, sondern eher einer des Nachkrieges, der von keinen Staatsaktionen oder Schlachten berichtet, sondern von Traumatisierten, die den Krieg im Kopf im Frieden nicht loswerden.
In der Autobiographie Erinnere dich ewig heißt es passend: »Persönlichkeit ist das Gedächtnis«. Und er erzählt, wie erschüttert er nach der Lektüre von Proust ist, da ihm schon geschrieben schien, was ihm vorschwebte.

Die Mutter ist ihm hier „die nackte Gestalt“, um das extreme Jahrhundert mit seinen Verwerfungen zu erforschen. Bei aller Wärme für die Mama sind es schonungslose Erinnerungen. So prangert er seine Feigheit, sein Versagen an und lässt nur wenige seiner Bücher gelten – vor allem Das Buch Blam und Der Gebrauch des Menschen. Beide Werke brachten ihn in die Nähe des Nobelpreises, den andere aber dann erhielten. Als die Autobiographie im Jahre 2000 erschien, verschwand nach dem Kosovokrieg von 1999 der Balkan allmählich wieder aus den Weltnachrichten. Spätestens nach dem 11. September 2001 tickte die Welt anders. Außerdem beruhte Tišmas Ruhm auf der Annahme, dass die Werke von diesem Proust des Katastrophenzeitalters die Zerfalls- und Aufteilungskriege Jugoslawiens erklären. Doch nur in der damals noch nicht übersetzten Autobiographie gibt Tišma dafür in wenigen erklärenden Passagen einige Fingerzeige, die bedenkenswert sind.

Alexandar Tisma: Erinnere dich ewigEr ist vor allem ein Erzähler in anscheinend beiläufigen Episoden, da Tišmas Biographie und der Jahrhundertschritt der Geschichte zusammenfallen, die Epoche hindurchschimmert. Die kleinstädtisch geordnete Welt von Neusatz/Novi Sad ist eine vielsprachige. Es ist kein Sonderfall, wenn der Vater auf der Straße wie zu Hause stets Krawatte trägt, nie ein Buch in die Hand nimmt, höchstens Zeitungen liest, aber ohne die Hilfe eines Wörterbuchs einen korrekten Brief auf Serbisch, Ungarisch und Deutsch schreiben kann. Das führte zu einer „nationalen Unbestimmtheit“ nicht nur bei Tišma, in ganz »Novi Sad, einer Stadt mit vielen Religionen und vielen Nationalitäten, war eine solche unklare Haltung nicht ungewöhnlich.« Mischehen waren an der Tagesordnung. Der serbische Vater hatte sich aus Liebe an eine jüdische Frau gebunden, so entstand eine Verbindung, die sich infolge des Kriegs und der Okkupation für alle in der Familie als immer gefährlicher erwies. Der Sohn war orthodox getauft und ging ab und zu in die Synagoge.

Der ungarischsprachige Schriftsteller Lászlo Végel, der hochbetagt, aber noch rüstig in Neusatz lebt, sprach in seinem großen Tišma-Essay von „Europäischen Bastarden“ (Sinn und Form 5/2003). Solche trifft man an den Rändern Europas vielerorts. Die Film- und Theaterwissenschaftlerin Valentīna Freimane (1922-2018) beispielsweise erzählte gern, dass in ihrer Jugend in Riga jeder Kutscher in mindestens drei Sprachen fluchte. In Übergangsregionen, in denen oft große Mächte aufeinandertreffen, kommt es immer wieder zu nationalistischen Explosionen. In ihren beeindruckenden Erinnerungen als Shoah-Überlebende kann Valentīna Freimane davon erzählen; Aleksandar Tišma gründete auf der ungeheuren Gewalt, die seine Region erlebte, sein großes Werk.

Nach dem Einmarsch der Ungarn 1941 kam es zu einem Massaker, das auch die Familie des zweiten Autors von Weltrang in diesem Landstrich, Danilo Kiš (1935-89), betraf. Es ist in den Werken beider geschildert. Mittlerweile ist es mit Die Nacht im Bioskop von Clemens Meyer auch in der deutschen Literatur angekommen. Immerhin war es das Ende der deutsch-jüdischen Beziehungen. Es war ein fundamentales Erlebnis vieler; der Schriftsteller und Übersetzer Ivan Ivanji nähert sich ihm in seinem Roman Das Kinderfräulein. Wie Tišma lernte er durch ein deutsches Kindermädchen die Sprache, die viele Kaufleute und Unternehmer sprachen, in der Bücher von Gotthold Ephraim Lessing bis Stefan Zweig geschrieben waren, die viele im Regal hatten. Einige – wie Tišma – lasen sie auch und in einem Erinnerungssplitter Tišmas erkennen sich Gleichgesinnte durch die Erwähnung von Thomas Mann.

Die Härte und Haltbarkeit vieler Texte von Tišma – so auch bei Erinnere dich ewig – liegt an ihrer Vereinigung lebendiger Widersprüche: Sie feiern die religiöse, ethnische Buntheit von Neusatz und verschweigen nicht die Enge und Borniertheit der Provinz. Universalität fand er im engen kleinstädtischen Milieu, in dem das Geld immer knapp ist, wo die Frauen schnell altern auf der Rutschbahn von der jungen Geliebten zur verhärmten Mutter, wo Männer zerbrechen an der Nichtigkeit ihres Status und sie ihre Erniedrigungen in der Familie entladen, in Selbstmorden und Wahnsinnstaten. Wer hieraus aufsteigt, ist die Ausnahme, die die Regel der endlosen Dumpfheit und des hoffnungslosen Elends bestätigt. Ohne Protest lebt man vor sich hin; Geschichte ist, was Unglück bringt.

Nach 1945 hadert Tišma, nicht aus Jugoslawien ausreisen zu können. Erst nach dem Bruch mit der Sowjetunion und der Implementierung eines liberalen Staatssozialismus mit Reisemöglichkeiten freundet er sich mit Titos Staat an, ohne sich über dessen Zukunft viele Illusionen zu machen. Er ist selbst überrascht, wie tief erschüttert er vom Zerfall Jugoslawiens ist und bekennt sich als »Produkt dieser Buntheit«. Schließlich gründete dieser serbisch-jüdische Autor „sein erfolgreichstes Buch auf dem Tagebuch einer Deutschen“. Es sei das echte Dokument des Dienstmädchens, das die Mutter beauftragte, ihn Deutsch zu lehren.

Sein Romanpanorama Der Gebrauch des Menschen stellt mit kräftigen Gestalten diesen Bruch und Untergang allgemeingültig dar. Er spricht von einem »verflochtenen Geäst«, das auseinandergerissen wird und literarisch wieder entsteht. Wie ein Baum ist dieses Werk geerdet in der steppenhaft platten, aber hochkultivierten Wojwodina mit einem Neusatz, dessen Straßen und Gassen, Häuser und Kirchen noch immer das Flair der k. u. k. Monarchie eigen ist. Es ist ein räumlich und zeitlich enger Kosmos, der wie in einer Nussschale die Welt erzählt.

Dabei hat er neben dem ethnischen und kulturellen Feinsinn auch einen für soziale Differenzen. Viele Partisanen der ersten Stunde waren einfache Bauern, da viele Gebildete sich angesichts der deutschen Übermacht aus den Kämpfen heraushielten. Sie lernten ihren »Marxismus« nicht im weltliterarischen Glanz der Schriften von Karl Marx, sondern durch die vulgäre Dogmatik einiger Agitatoren. Einerseits wartet Tišma auf die Partisanen und die sowjetischen Truppen, da dadurch die Deportation in ein Vernichtungslager verhindert wird, andererseits ist es das Versinken der bürgerlich-kaufmännischen Welt, der er entstammt. Er beobachtet scharf die Anzeichen des Verfalls; etwa das Abgleiten einer Familie, »der man ihr Geschäft abgenommen hatte, in eine Halbarmut, die uns alle erwartete.«

Schließlich erlebte die Mutter noch den Aufstieg des Sohns zu einem jugoslawischen Künstler und, beginnend mit den französischen Übersetzungen, zu einem europäischen Ereignis, dessen Lesungen in Paris wie in Berlin Säle füllten. Ilma Rakusa schreibt im profunden Nachwort über den für sie unerwarteten Tod. Zäh und wettergegerbt wie ein Bauer aus der Region erlebte auch ich ihn, der noch rüstig für lange Spaziergänge war.
Die deutsche Übersetzung seiner Autobiographie könnte Teil seiner Wiederentdeckung sein. Mittlerweile kümmert sich der Sohn Andrej Tišma mit einigen Literaturwissenschaftlern um den Nachlass seines Vaters, in dessen Wohnung eine Gedenkstätte eingerichtet wird. Namhafte Autoren wie Maxim Biller nennen ihn als eines ihrer Vorbilder. Der erste Preisträger des 2019 neu geschaffenen Aleksandar-Tišma-Literaturpreis ist der prägnante László Darvasi. Eine Neuentdeckung dieses Werk wäre eine fundamentale Erinnerung an das untergegangene Neusatz und des-sen Wiederauferstehung in großer Literatur.

Aleksandar Tišma: Erinnere dich ewig. Autobiographie. Aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann. Mit einem Nachwort von Ilma Rakusa, Frankfurt am Main 2021, S. 312, 24 €

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