Gegenwart und Vergangenheit der Alltagssprache der Oberschlesier gehen Hand in Hand mit der Geschichte der Region. Die Grenzen änderten sich, die Sprache trägt ihre Spuren. Heute von Aktivisten standardisiert, war sie noch vor vi erzig Jahren verboten. Der Rückblick auf die Zeit damals ist der Sprung in eine andere Welt. Ein Essay über die Mundart der heutigen Oberschlesier. Von Evelyne A. Adenauer
November/Dezember 2021 – Kulturkorrespondenz östliches Europa № 1426
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Nickischschacht/Nikiszowiec ist eine historische Arbeitersiedlung in Kattowitz/Katowice und gilt oft als Filmkulisse für Produktionen über das oberschlesische Kohlerevier. ©Markus Nowak

Vor einiger Zeit stieß ich zufällig im Internet auf ein altes Klassenfoto aus meiner ersten Klasse. Das polnische Pendant zu Stayfriends oder Facebook zeigt das Foto als Symbol für die gesamte Schule in Groß Strehlitz/Strzelce Opolskie bei Oppeln/Opole, die ich rund drei Jahre lang von 1985 an besucht habe. Das gleiche schwarzweiße Foto klebt in meinem Album mit meiner Portraitaufnahme, und bis ich es im Internet wiederfand, erschien es mir wie das Zeugnis einer unglaublich fernen Welt, eines Oberschlesien, das es nicht mehr gibt. Keines der Kinder von damals hatte für mich noch einen Namen, und ich wusste nur zu berichten, welches Mädchen meine Freundin gewesen war. Sie hatte damals in den achtziger Jahren viele Sachen aus Deutschland, ein schönes Stiftemäppchen beispielsweise, das ihr bald geklaut wurde.
Obwohl auch meine Familie Verwandtschaft in der Bundesrepublik hatte, besaß ich all das nicht, und obwohl Deutschland immer präsent war, blieb es für mich zugleich das große Unbekannte.

Meine Freundin war die erste aus der Klasse, die mit ihrer Familie Oberschlesien verließ. Meine aktuelle Internetrecherche ergab, dass ungefähr die Hälfe der damaligen Erstklässler nicht mehr in Schlesien lebt und es die meisten nach Deutschland verschlagen hat.

Kindheit mit Geheimsprache

Wir lernten damals schönstes Polnisch in der Schule und auf meinem Portraitfoto halte ich stolz das Lehrbuch Litery (»Buchstaben«) vor meinem Oberkörper. Bei meinen Großeltern gab es eine andere Sprache, von der es hieß, ich dürfe niemandem davon erzählen, eine Geheimsprache sozusagen. Manche Kinder in der Klasse hatten eine babcia (Oma), ich eine ōma. Jene aßen ziemniaki (Kartoffeln) und pomidory (Tomaten), bei ihr aber gab es kartŏfle und tõmaty. Die Sprache war derart geheim, dass mir niemand ihr Mysterium erklärte, nicht, woher sie kam, und auch nicht, warum sie bei uns zuhause gesprochen wurde. Ein Mysterium war auch, weshalb meine Großmutter deutsche Gedichte in mein Poesiealbum schrieb, dazu noch in der alten deutschen Schreibschrift, die ich nicht einmal lesen konnte. Ich wusste nicht, wie viele der anderen Kinder zu Hause diese Geheimsprache benutzten. Für mich jedenfalls war sie eine Alltäglichkeit und ich lernte sie wie das Atmen.

Ślōnskŏ gŏdkã (geschrieben auch als ślońsko godka oder ślůnsko godka) durfte in der Volksrepublik Polen nicht gesprochen werden, denn es galt als Deutsch. Allerdings verstand und versteht niemand aus Deutschland die Sprache der Oberschlesier, die sie selbst als po na­szymu (»auf unsere Art«) bezeichnen, denn sie ist zu polnisch. In der Volksrepublik war sie der Beweis für eine andere Vergangenheit Oberschlesiens, die in der offiziellen Geschichtsschreibung nicht vorkommen durfte. Außer der Piasten-Dynastie und den Aufständen nach dem Ersten Weltkrieg gab es in unseren Schulbüchern nicht viel zu berichten, alles dazwischen war … geheim. Damals in der ersten Klasse kauften wir bei einer seltenen Bücherlieferung in der Buchhandlung einen Comic über die Piasten, der zweisprachig war, Polnisch und Deutsch, aber voller Glorie auf jene Zeit. Ich besitze ihn noch als ein Zeugnis der Vergangenheit. 1988 erschien auch ein Buch mit schlesischen Witzen, noch in einer Schreibweise, die dem Sprechen folgte, Śląskie beranie czyli humor Górnego Śląska (»Schlesische Schwänke und der Humor Oberschlesiens«). Überhaupt waren die ersten Bücher Sammlungen von Witzen, als ob die Oberschlesier immerzu lachen würden. Ich habe auch noch die Bücher der ersten Schuljahre, die ich für meine außerordentlich guten Noten erhielt, mit Widmung der Lehrer und Stempel. Mein Name, der darin eingetragen wurde, war bald ein anderer, denn auch die oberschlesischen Nachnamen, nach 1945 polonisiert, wurden mit der Ausreise nach Deutschland (beziehungsweise ab 1989 auch für die Verbleibenden) wieder die von früher.

KK 1426 04 07 Adenauer Schlesische Mundart Klasse KopieDie Autorin mit ihrer Fibel in der ersten Klasse. ©E.Adenauer

Heute darf jeder po naszymu sprechen, mehr noch: Aktivisten in Oberschlesien übersetzen inzwischen Literaturklassiker nach einer neuen Standardisierung ins Oberschlesische, sie schreiben neue Bücher po naszymu, geben Wörterbücher heraus. Es gibt Übersetzungen von Weltliteratur und bekannten Kinderbüchern. Vergangenes Jahr erschienen We muminkowyj dolinie (Die Mumins. Eine drollige Gesellschaft) und Przigody ôd Alicyje we Kraju Dziwōw (Alice im Wunderland).

Die Geschichte einer Grenzregion

Trotz aller Wörter- und Lehrbücher bleibt das Oberschlesische so divergierend wie die Region selbst. Was in Kattowitz/Katowice und Umgebung gesprochen wird, ist so anders als das, was die Menschen in Groß Strehlitz/Strzelce Opolskie sprechen. Und es genügt ein kleiner Ausflug ein paar Dörfer weiter, um wiederum andere Begriffe zu hören, über die teilweise nur der Kopf geschüttelt werden kann. Das Oberschlesische bleibt ein Signum für all das, was diese Region ausmacht, mit einer Vergangenheit, die keine beständigen Grenzen kannte und einer Gegenwart, die Oberschlesien zu oft auf das Industriegebiet reduziert.

Dabei haben die Kinder aus Groß Strehlitz eine andere Geschichte als die Kattowitzer Kinder, deren Stadt schon 1922 an Polen fiel. Sie, deren Familien aus der Region stammten, hatten Großeltern, die bis 1945 in einem deutschen Staat lebten, die aber den Nationalsozialisten suspekt waren, weil sie »Wasserpolnisch« sprachen. Sie hatten Großväter, die in der Wehrmacht Dienst leisten mussten und Urgroßväter, die im Ersten Weltkrieg für das Deutsche Reich gekämpft hatten. Sie sprachen po naszymu und wussten oft nicht, wie sie das benennen sollten. Manche sagten, zu Hause werde Polnisch gesprochen, bloß hätte sie ein Pole nicht verstanden.

Als die Bevölkerung der Region vor hundert Jahren in einer Abstimmung über die staatliche Zugehörigkeit entscheiden durfte, waren die Vorfahren dieser Kinder gespalten bis weit in die Familien hinein, denn sie fragten zum ersten Mal nach ihrer Identität – und fanden nur schwer eine Antwort. Schon damals zeigte sich, dass ihre Sprache keine nationale Konnotation hatte. Trotzdem wurden die Menschen ausschließlich in Deutsche oder Polen eingeteilt. Mirosław Syniawa hat diese schwierige Zeit sehr gut in einem Gedicht (aus dem Buch Cebulowŏ ksiynga umartych [»Zwiebelhaftes Totenbuch«], erschienen 2018 im Verlag Silesia Progress) zusammengefasst:

»Polska, Miymcy, wybiyrej, a jŏ tam – wybŏczcie / to, co powiym terŏzki – jeszcze jednã przidōm / na tyj szkartce ôpcyjõ: do rzici mi skoczcie!«
(»Polen, Deutschland, wähle, und ich – verzeiht/das, was ich nun sage – noch eins füge ich hinzu/die Option auf der Karte: Ihr könnt mich mal!«)

Fast alle Kinder von damals haben dank meiner Internetrecherche wieder einen Namen bekommen. Sie sind Erwachsene in Oberschlesien sowie verstreut über die Bundesrepublik und anderswo. Außer unserer kleinen Vergangenheit eint uns nichts mehr, ganz unabhängig davon, in welchem Land wir heute leben. Die Welt, in der jedes Paket aus der Bundesrepublik wie ein Weihnachtsfest anmutete, dessen gebrauchte Kleidung einen Geruch hatte, den kein Waschmittel des damaligen Polen herstellen konnte, eine Welt, in der sogar die Schokolade aus der DDR ein schöneres Papier hatte als die polnische – wenn es sie denn gab – und vor allem eine Welt voller Geheimnisse, die gibt es nicht mehr. Die Geheimsprache darf auf der Straße gesprochen werden, die polonisierten Namen klingen wieder wie früher, Ortsschilder sind mancherorts zweisprachig, die deutschen Relikte der Orte haben ihre Geschichte zurückbekommen. Die Oberschlesier sprechen po naszymu, viele lernen Deutsch und manche in Deutschland lebende haben das Polnische verlernt.

Manche suchen tiefer in der Vergangenheit und versuchen, ihren Ahnen auf die Spur zu kommen, was gar nicht so leicht ist, denn wenn die Vergangenheit spricht, ist schwer festzustellen, wer da spricht, wie Syniawa im Vorwort zu seinem Gedichtband schreibt: »jeźli były to głosy z tamtego świata abo die Stimmen des kollektiven Unbewussten – jedne i druge sōm przecã niy z tego świata« (»wenn das die Stimmen aus dieser Welt oder Stimmen des kollektiven Unbewussten waren – das eine wie das andere ist schließlich nicht von dieser Welt«). Denn nichts Schriftliches gibt es, das Zeugnis sein könnte, wie die Sprache der Oberschlesier vor Jahrhunderten geklungen hat. Sie arbeiteten, gingen sonntags zur Kirche, sie beteten, liebten und kämpften, wenn sie denn mussten, und waren stolz auf ihre körperliche Tätigkeit.

Es gäbe nur eines, das die Kinder von damals vereinen könnte, und das ist das Oberschlesische. Vielleicht können es heute nicht mehr alle sprechen, vielleicht schmunzeln einige bisweilen über so manchen Ausdruck, aber die Sprache bleibt Heimat. Und wenn Oberschlesier an Heiligabend (wilijŏ) kochen, dann kochen sie eine graue Hanfsuppe, die siymiyniŏtka genannt wird, und dann folgt der Karpfen mit Kartoffeln und Kraut, und natürlich mŏczka und makōwka. Der Duft dieser traditionellen Speisen aus Mohn und Trockenobst macht für alle Menschen, die aus Oberschlesien stammen, erst Weihnachten aus und es gibt dieses Weihnachten nicht ohne die Sprache, denn es existieren keine anderen Bezeichnungen für diese Speisen. Die Feinheiten in der Zubereitung sind dann so verschieden, wie die kleine Region es ist, und selten ist ein Rezept so gut, wie man es aus der eigenen Familie kennt.

Vielleicht essen die Kinder von damals auch heute diese Köstlichkeiten, die meisten jedenfalls, da bin ich mir sicher. Vielleicht tragen sie unsere schwarzweiße Vergangenheit bunt weiter und trauen sich zu sagen, dass sie aus diesem so schwer fassbaren Oberschlesien kommen, wo Vergangenheit und Gegenwart dann doch verschmelzen und in den oberschlesischen Herzen alles auf ganz eigene Art eindeutig ist.

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