Die deutsche Minderheit in Rumänien ist nach dem Fall des Ceaușescu-Regimes verschwindend klein geworden. Doch ihre Schulen können sich vor Interessenten kaum retten. Sie sind eine Erfolgsgeschichte, wäre da nicht der Mangel an deutschsprachigen Lehrerinnen und Lehrern, vor allem in den Fächern Mathe, Physik und Chemie.  Wer diese studiert hat, geht lieber in die Wirtschaft, wo man deutlich mehr Geld verdienen kann als an einer staatlichen Schule. Von Annett Müller-Heinze
September/Oktober 2021 – Kulturkorrespondenz östliches Europa № 1425
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Mathematikunterricht am Brukenthal-Gymnasium in Hermannstadt/Sibiu mit Martin Bottesch. Trotz seines Pensionsalters unterrichtet er weiterhin. © Annett Müller-Heinze

Caroline Aron würde gern Jura studieren. Sie könne damit eines Tages Richterin oder Rechtsanwältin für Menschenrechte werden, sagt die Gymnasiastin aus dem siebenbürgischen Hermannstadt/Sibiu: »Wohin die berufliche Reise geht, entscheide ich erst während meines Studiums.« Die junge Rumänin verbrachte die elfte Klasse mehrheitlich im Homeschooling in ihrem Zimmer, in dem sie vor der Videokamera sitzend gerade Pläne für ihre Zukunft in der großen, weiten Welt schmiedet. Aron hofft, in München studieren zu können: »Ich sehe meine Zukunft im Ausland und nicht hier.« Die 18-Jährige spricht fließend Deutsch, im kommenden Jahr will sie das Abitur am deutschsprachigen Samuel-von-Brukenthal-Gymnasium in Hermannstadt ablegen und das Deutsche Sprachdiplom in der Tasche haben, das sie für ein Studium an einer deutschen Universität braucht.

Im siebenbürgischen Hermannstadt wird seit über achthundert Jahren Deutsch gesprochen. Im 12. Jahrhundert wurde der Ort von deutschen Siedlern aus den linksrheinischen Ländern gegründet. Die Sachsen, wie man die deutschen Einwanderer nannte, entwickelten Hermannstadt zu ihrem wichtigsten politischen, wirtschaftlichen und religiösen Zentrum in Siebenbürgen. Diese Vergangenheit spürt man auch heute in der Architektur, in den Winkeln und Gassen der mittelalterlich anmutenden Innenstadt. Die evangelische Stadtpfarrkirche überragt als höchstes Bauwerk das Zentrum. Sie steht in enger Nachbarschaft zum Brukenthal-Gymnasium, das mit seiner über sechshundertjährigen Geschichte die älteste deutschsprachige Schule Rumäniens ist.

Zahlreiche deutschsprachige Unternehmen haben sich in den vergangenen Jahren hier niedergelassen, auch wenn die Zahl der Siebenbürger Sachsen inzwischen verschwindend gering ist. Ihr Bevölkerungsanteil in der rund 155 000 Einwohner zählenden Stadt liegt gerade mal bei einem Prozent. Doch die deutsche Minderheit macht von sich reden: Seit über zwei Jahrzehnten stellt sie das Stadtoberhaupt in Hermannstadt, in den Bildungseinrichtungen – angefangen vom Kindergarten über Grund- und Sekundarschule bis hin zum Gymnasium – boomt die deutsche Sprache. Schülerin Caroline Aron wollte »am Brukenthal« lernen, weil es zu den leistungsstärksten Gymnasien des Landes gehört, und weil man in der Lehranstalt jahrhundertealte Geschichte erleben kann. Vor der Corona-Pandemie gehörte die junge Rumänin zur Tanzgruppe der Schule, übte Volkstänze der Siebenbürger Sachsen ein, trat in Originaltrachten auf, die die Sachsen traditionell an Festtagen tragen. »Ein bisschen komisch habe ich mich in der Tracht schon gefühlt«, erzählt Aron, »doch ist das gelebte Toleranz, dass ich als Rumänin die Traditionen der deutschen Minderheit fortführe.«Das Brukenthal-Gymnasium in Hermannstadt. Rund 900 Schüler der Klassenstufen fünf bis zwölf werden hier im Schichtbetrieb am Vormittag und am Nachmittag unterrichtet, da die Räumlichkeiten nicht ausreichen. © Annett Müller-HeinzeDas Brukenthal-Gymnasium in Hermannstadt. Rund 900 Schüler der Klassenstufen fünf bis zwölf werden hier im Schichtbetrieb am Vormittag und am Nachmittag unterrichtet, da die Räumlichkeiten nicht ausreichen. Foto: © Annett Müller-Heinze

Deutschsprachige Fachkräfte gesucht

Dass die Nachfrage nach deutschsprachigem Unterricht konstant bleiben würde, war nach dem Sturz des Ceauşescu-Regimes, als massenweise Rumäniendeutsche nach Deutschland aussiedelten, nicht absehbar. Zwei Drittel der Klassen mussten Anfang der neunziger Jahre aufgelöst werden, es traf vor allem die Dorfschulen, in denen es plötzlich kaum noch muttersprachliche Lehrkräfte gab. Anders verlief die Entwicklung in den Städten, wo die frisch gewonnene Reisefreiheit das Interesse an der deutschen Sprache stärkte. Inzwischen werden die rund achtzig deutschsprachigen Schulen im Land mehrheitlich von Schülern und Schülerinnen besucht, für die Deutsch nicht die Muttersprache, sondern eine Fremdsprache ist. Der Mangel an deutschsprachigen Fachlehrern und Fachlehrerinnen bleibt, denn nach ihrem Abschluss gehen Uni-Absolventen lieber in die Wirtschaft, wo sie das Doppelte oder Dreifache eines Lehrergehaltes verdienen können. Viele rumänische Eltern halten gerade die Gymnasien für Kaderschmieden, wo ihre Kinder neben einer guten Schulbildung auch die deutsche Sprache in möglichst vielen Fächern vermittelt bekommen sollen, etwa auch in Informatik, Mathematik oder Chemie. Im Unterricht geht es nicht um eine bloße Wissensvermittlung, sondern um das Verstehen von Zusammenhängen, um das Mitdenken, um selbstständiges Arbeiten. »Wir wollen unsere Schüler zu mündigen Bürgern erziehen, sie lernen hier Offenheit, Teamfähigkeit und europäische Werte«, sagt Brukenthal-Direktorin Monika Hay. Der Andrang ist riesig. Allein am Brukenthal-Gymnasium bewerben sich jährlich doppelt so viele Interessenten für die Gymnasialklassen, wie es Plätze gibt. Dass die deutschsprachigen Schulen oft völlig überfüllt sind, nehmen viele Eltern in Kauf. Für sie ist es die Bestätigung, dass die deutsche Sprache und Kultur gefragt sind.

Deutschlehrerin Maria Cristian aus München staunte nicht schlecht, als sie nach Hermannstadt zog, um am Brukenthal-Gymnasium zu lehren. Mit so vielen Schülern hatte sie nicht gerechnet. Neunhundert Lernende werden im Zwei-Schicht-System unterrichtet, andernfalls würden die Räume in der Schule nicht reichen. Auf jede Klasse kommen rund dreißig Schüler und Schülerinnen – eine Größe, bei der es für das Lehrpersonal schwierig wird, noch auf individuelle Lernbedürfnisse einzugehen. Strenge Verhaltensregeln sollen helfen, den Unterricht effizient zu gestalten. In den Klassenzimmern herrscht striktes Handy-Verbot. Wer zu spät kommt, wird abgemahnt. In der Schulordnung sind Pünktlichkeit, Respekt und Ehrlichkeit festgeschrieben, alles Attribute, die man in Rumänien gemeinhin der deutschen Minderheit nachsagt und die man wie ein »Gütesiegel« auch in ihren Bildungseinrichtungen erwartet.

»Freiraum zur Entfaltung«

Ein Jahr lang wollte Maria Cristian in Hermannstadt bleiben, inzwischen sind vier daraus geworden. »Ich fühle mich in meinem Beruf absolut erfüllt«, sagt die 29-jährige Deutschlehrerin. Sie schwärmt von ihren »motivierten Schülern« und dem »Freiraum zur Entfaltung«, den sie als junge Lehrkraft bekomme. Wäre da nicht die Gehaltsfrage: Rund vierhundert Euro netto im Monat verdienen Nachwuchskräfte an staatlichen Schulen. »Da trauen sich nur wenige, den Lehrerberuf zu ergreifen«, sagt Cristian. Gut bezahlte Jobangebote aus der Wirtschaft hat die Pädagogin bisher abgelehnt. »Ich habe das Glück«, sagt sie lächelnd, »dass mein Mann gut verdient.«

Ehemalige Schüler des Brukenthal-Gymnasiums finden oft eine Anstellung in der Wirtschaft, wie hier beim Automobilzulieferer Marquardt Schaltsysteme in Hermannstadt/Sibiu. ©Annett Müller-HeinzeEhemalige Schüler des Brukenthal-Gymnasiums finden oft eine Anstellung in der Wirtschaft, wie hier beim Automobilzulieferer Marquardt Schaltsysteme in Hermannstadt/Sibiu. ©Annett Müller-Heinze Der Lehrermangel hinterlässt längst Spuren. Am Brukenthal-Gymnasium muss gut die Hälfte der Fächer inzwischen auf Rumänisch unterrichtet werden, weil sich mit den staatlichen Gehältern nicht genügend deutschsprachige Fachlehrer finden lassen. Prominentester Weggang: Klaus Johannis. Der Siebenbürger Sachse, selbst Brukenthal-Alumnus, unterrichtete Anfang der neunziger Jahre Physik an der Schule, später ging er in die Politik. Seit 2014 ist er Staatspräsident. Einen deutschsprachigen Physiklehrer hat die Schule seither nicht mehr gefunden. Direktorin Monika Hay will dennoch nicht klagen. Die 47-Jährige weiß, wie unerbittlich der Wettstreit um qualifizierte Kräfte ist: »Wer vom Brukenthal kommt, kann praktisch alles werden. Lehrerin an der US-Uni Harvard, Forscher in Deutschland oder eben Präsident des Landes. Sie machen uns alle stolz.«

Größter Mitbewerber um die Absolventen und Absolventinnen der Schulen sind die Tausenden deutschen Firmen im Land, darunter viele mittelständische Unternehmen, aber auch Siemens, Continental, Bosch. »Ich bin immer wieder überrascht, wie viele deutsche Firmen darauf bestehen, dass in ihrer Niederlassung im Land Deutsch gesprochen wird«, sagt Peter Hochmuth vom Deutschsprachigen Wirtschaftsclub Banat in Temeswar/Timișoara. Seit zwanzig Jahren berät er in der westrumänischen Stadt deutsche Firmen, die im Land expandieren oder sich erst ansiedeln wollen. Sie alle treibe die Suche nach Fachpersonal um, »die sie wie rohe Eier behandeln, wenn sie sie erst einmal gefunden haben und sie mit guten Gehältern, Karrierechancen und Work-Life-Balance halten«.

Dass bei diesem Tauziehen um deutschsprachige Arbeitskräfte die Schulen gar nicht mithalten können, bereitet Hochmuth große Sorgen: »Der rumänische Staat muss bei den Lehrergehältern dringend nachbessern, schließlich legt nur gutes Lehrpersonal den Grundstein für eine gute Bildung.«

Weil die deutschsprachigen Schulen seit 2013 gut ein Viertel ihres Fachpersonals verloren haben, versucht inzwischen auch Deutschland gegenzusteuern. Pädagogen und Pädagoginnen, die in Rumänien die deutsche Sprache und Kultur in Kindergärten und Schulen lebendig halten, erhalten einen Zuschuss von gut hundert Euro pro Monat. Für Nachwuchskräfte ist das ein Viertel ihres Nettogehaltes. Der Vorsitzende des Demokratischen Forums der Deutschen in Siebenbürgen, Martin Bottesch, nennt die Gelder aus Deutschland eine wichtige Hilfe, »viele sehen im Zuschuss eine Anerkennung und Wertschätzung ihrer Arbeit«.

Bottesch unterrichtet Mathematik am Brukenthal, auch wenn er mit 68 Jahren längst seine Rente genießen könnte. Dass er in die Verlängerung gegangen ist, liegt am fehlenden Ersatz für ihn. Doch muss Mathe unbedingt auf Deutsch unterrichtet werden, wo es doch mehr um Zahlen als um Worte geht? Bottesch macht eine Rechnung auf: Je mehr Fächer auf Deutsch unterrichtet würden, desto stärker werde die Sprachkompetenz der Gymnasiasten. »Die Lehrer sind oft die einzige Person, mit denen sich die Schüler auf Deutsch unterhalten können, zuhause hören sie es nicht«, sagt er. Spätestens mit siebzig Jahren will er aufhören, noch ist also etwas Zeit, um einen deutschsprachigen Mathelehrer oder eine Mathelehrerin fürs Brukenthal zu finden. Bottesch jedenfalls hat die Hoffnung nicht aufgegeben.

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