Jutta Braun. Foto: privat
Ob zur Geschichte des DDR-Fußballs, des Ministeriums für Gesundheitswesen der DDR oder zur Friedlichen Revolution 1989 – Jutta Braun, geboren 1967, hat sich mit vielen Forschungsprojekten zur Schnittstelle zwischen Sport und (DDR-)Geschichte hervorgetan. Sie studierte unter anderem Zeitgeschichte in München, 1999 folgte die Promotion zur politischen Justiz in der DDR. Bis 2011 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität Potsdam. Seit 2004 ist sie Vorstandsvorsitzende des Zentrums deutsche Sportgeschichte Berlin-Brandenburg. Am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam forscht sie aktuell zur Behördengeschichte in Demokratie und Diktatur. Sie wirktean zahlreichen historischen Ausstellungen mit und publizierte zur Sport-und Fußballgeschichte in Deutschland. Die Fragen stellte KK-Redakteur Markus Nowak.
Muss man Sport treiben, um Sportgeschichte zu betreiben?
Nein, das muss man nicht. Ich gebe aber zu, dass es häufig so ist. Der Weg vom Sportinteressierten zum Sporthistoriker ist manchmal kürzer als man denkt. Besonders interessant innerhalb der Szene der Sporthistorie ist, dass sich Menschen aus unterschiedlichen Fachrichtungen der Sportgeschichte widmen. Bei vielen internationalen Kongressen zur Sporthistorie trifft man auf Forscherinnen und Forscher, die eigentlich Kunstgeschichte, Slawistik oder Germanistik studiert haben – oder auch Zeithistorie, so wie ich. Es ist ein interdisziplinärer Austausch, und das ist auch das Besondere an diesem Fach.
Was vor hundert Jahren Weltrekorde waren, wird heute von Amateursportlern erreicht. Können die Menschenheute schneller laufen, höher und weiter springen als früher?
Ja, tatsächlich. Das hat ganz unterschiedliche Gründe. Zum einen verändert sich die Physiologie der Menschen generell, was wiederum regional unterschiedlich ist. Beispielsweise werden die Menschen in bestimmten Ländern, wie auch in Deutschland, immer größer, wodurch die Leistungsfähigkeit etwa im Hochsprung oder Laufen verbessert wird. Dann gibt es auch andere entscheidende Faktoren, die unabhängig von der Physiologie sind. Sie sind der Tatsache geschuldet, dass sich der Sport seit den sechziger Jahren verwissenschaftlicht hat. Es gibt mittlerweile eine eigene Trainings- und Bewegungswissenschaft, die sich nichts anderem widmet als den körperlichen Vorgängen im Hinblick darauf, die Leistungsfähigkeit zu optimieren. Auch gibt es eine Weiterentwicklung der Sportgeräte, die stetig perfektioniertwerden und dadurch bessere Leistungen ermöglichen. Die Dopinggeschichte im Leistungssport spielt natürlich ihre ganz eigene Rolle.
Früher waren angeblich mehr Amateure bei den Wettkämpfen dabei ...
Das mit den Amateuren ist immer so eine Sache. Angeblich gab es zu Zeiten des Kommunismus lauter »Staatsamateure« – aber wir wissen, dass sie faktisch Profisportler waren. Das hatte ideologische Gründe, weil man sich vom westlichen Profisport absetzen wollte. Mit dem Amateurbegriff ist viel Unsinn betrieben worden. Zu der Zeit, in der der Sport innerhalb des Wettkampfsystems noch nicht so professionalisiert war, kann man tatsächlich von »Amateuren« sprechen. Aber eine Professionalisierung von Leistungssport hat schon früh eingesetzt, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Sport ist heute mehr als nur Bewegung, es ist eine Industrie.
Diese Entwicklung setzte in dem Moment ein, als Sport zu einem Massenphänomen wurde. Man darf hier nicht nur den Leistungssport sehen, sondern eben auch den Breitensport. Die Beliebtheit von »Sport treiben« ist generell – auch bei Frauen – ein Ausdruck der Emanzipation, besonders sichtbar erstmals in der Kultur der zwanziger Jahre. Der Trend zielte auf Modernisierung und Individualisierung, beispielsweise im Hinblick auf Mode, Lebensstile und eben auch den damaligen Sport. In diesem Zuge wuchs auch das Interesse an Sportkleidung und erschwinglichen Sportgeräten, wodurch sich wiederum eine Industrie etablieren konnte.
Erst kürzlich wurde die Geschichte des Hauses Dassler neu erforscht. Einen großen Aufschwung nahm das Unternehmen in der Zwischenkriegszeit. Der ganz große Erfolg der Sportmarken Adidas und Puma der beiden konkurrierenden Brüder Dassler stellte sich dann in der Bundesrepublik ein. Seit den 1970er Jahren tragen zudem nicht mehr nur Leistungs- und Breitensportler Turnschuhe. Sie sind zu einem Synonym für den modernen Lebensstil geworden. Und damit auch Ausdruck einer »Versportlichung« der Gesellschaft, in der Fitness eine immer größere Rolle spielt.
Wie kam es zur Entstehung von »Nationalsportarten«, etwa Fußball für die Deutschen?
Das hängt oft mit den geografischen Gegebenheiten zusammen. Dass die Sowjetunion eine Eishockey-Macht war, ist natürlich dadurch entstanden, dass es dort viel schneit und sehr viel Eis gibt. Das Gleiche gilt für Kanada und Schweden. Das sind ebenfalls starke Wintersportnationen. Es gibt aber auch andere Faktoren – und hier möchte ich noch mal auf den Kommunismus verweisen. Die kommunistische »Staatssportmaschinerie« hat immer darauf geachtet, bestimmte Sportarten gezielt besonders zu fördern, um dem Westen überlegen zu sein. So wurden etwa sogenannte medaillenintensive Sportarten bevorzugt, bei denen ein Sportler mehrere Auszeichnungen erringen konnte: Leichtathletik oder Schwimmen gehörten dazu. Aber auch Handball war so ein klassisches Aushängeschild vieler osteuropäischer Mannschaften – das gilt für die Sowjetunion und auch für die DDR. In Ungarn wiederum wurde von der kommunistischen Führung gezielt Wasserball gefördert, weil es nur wenige Nationen gab, die in dieser Sportart gut waren.
Wie wichtig ist das Nationale beim Sport im 21.Jahrhundert?
Das ist immer noch wichtig, weil es das traditionell strukturierende Element ist. Vor allem in der Zeit des Kalten Krieges war der Wettkampf zwischen sportlichen Antipoden als Bühne des Systemkonflikts politisch aufgeladen. Doch auch heute entfalten Nationalmannschaften große Wirkungskraft, da sie eine einfache Ebene der Identifikation anbieten. Die Frage ist nur, wie stark diese Wirkung noch ist, wenn der Fernseher ausgeschaltet ist. Die »Helden von Bern« bei der Weltmeisterschaft 1954 haben viele Menschen in der Bundesrepublik und in der DDR fasziniert, auch aus Gründen, die jenseits des Sports lagen. Ich würde in Abrede stellen wollen, dass ein Sieg oder Verlust einer WM heute noch so eine große gesellschaftliche Bedeutung hätte. So lang ist der WM-Sieg von Jogi Löw noch nicht her, aber es wird kaum noch davon gesprochen. Ich glaube auch nicht, dass die Menschen in Deutschland deswegen insgesamt glücklicher waren und die Maschinen schneller gelaufen sind. Ein Einschnitt war da schon eher die WM 2006: Deutschland hat sich als weltoffener, fröhlicher Gastgeber präsentiert – diese Stimmung bleibt bis heute in Erinnerung.
Wie sieht die Sache mit der Geschlechtergerechtigkeit im Sport aus?
Frauen waren lange Zeit verpönt im Fußball. Auch in der Leichtathletik hat man Frauen lange daran gehindert, beispielsweise Marathons zu laufen. Da gab es eine Mischung aus Vorbehalten gesundheitlicher Natur, etwa dass Sport die Gebärfähigkeit einschränken würde. Bis in die sechziger Jahre kann man in der Leichtathletik Restriktionen für Frauen im Sport feststellen. Auf der anderen Seite gab es aber auch da immer wieder Pionierinnen. Wir haben einmal eine Ausstellung – Vergessene Rekorde – über jüdische Sportlerinnen in der Weimarer Republik gemacht. Die zeigte deutlich, dass Sport in der damaligen Zeit eine Art körperliche Befreiung war, und zudem ging es um politische Emanzipation. Dieser emanzipative Impuls wurde jedoch seit 1933 wieder zunichte gemacht, als die jüdischen Sportler durch den »Arier-Paragrafen« aus den Vereinen ausgeschlossen wurden. Hier zeigt sich das durchaus ambivalente Potential: Sport ist häufig ein Instrument der Inklusion, das Pendel kann aber ganz schnell umschlagen und den Sport zu einem Instrument der Ausgrenzung und Diskriminierung werden lassen.
In diese Zeit fällt Olympia 1936 in Berlin, als die Politik den Sport für ihre Zwecke nutzte.
Die olympische Bewegung war früher sehr eng mit der Tradition der Weltausstellungen verknüpft. Diese sollten die Leistungsfähigkeit von Nationen hervorheben. Auch der Bau von großen Stadien hing damit zusammen. Das waren Prestigebauten, verbunden mit nationaler Repräsentation. Im Zeitalter der Ideologien kam eine zusätzliche Politisierung hinzu. Berlin 1936 ist ein sehr gutes Beispiel, wie eine ganze Stadt olympisch inszeniert wurde, um das Ansehen des Staates entsprechend zu stärken. Doch konnte die olympische Bewegung auch dazu dienen, Staaten zu »bestrafen«: So wurde die »Kriegsschuldfrage« mit der Teilnahme verknüpft, und Deutschland wurde zu den ersten Spielen nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg nicht zugelassen.
Der Sport war Teil des Kalten Krieges?
Leistungssport wurde zu einer Art Stellvertreterkrieg zwischen Ost und West, vor allem zwischen USA und UdSSR sowie Bundesrepublik und DDR. Die DDR gewann diesen Kampf seit 1968. Die DDR-Sportler sammelten bei allen Olympischen Spielen mehr Medaillen als die der Bundesrepublik, was angesichts eines so kleinen Landes erstaunlich war. Leider steht diese »Sportförderung« allerdings auch mit dem Dopingsystem in Zusammenhang.
Ganz eng zeigt sich der Konnex zwischen Sport und Politik bei den Sport-Boykotten. 1956 blieben einige Staaten aus Protest wegen des Ungarn-Aufstands den Spielen in Melbourne fern. Und 1980 boykottierten die USA, die Bundesrepublik und viele muslimische Staaten aufgrund des Einmarschs der Sowjetunion in Afghanistan die Olympischen Spiele in Moskau.
Große Sportevents wie Olympia und die Fußball-EM wurden 2020 verschoben. Was bedeutet Corona für die sportliche Entwicklung?
Bisher ist Olympia immer nur ausgefallen, wenn ein Weltkrieg herrschte. Die aktuelle Situation mit Corona ist ein Sonderfall. Die Pandemie hat gezeigt, dass sie immer wieder einen Verlauf nimmt, mit dem man nicht gerechnet hat. Ob Olympia stattfinden wird, hängt mit kommerziellen Interessen zusammen. Insofern haben Wettkämpfe heute weniger eine politische Bedeutung als zu Zeiten des Kalten Krieges. Da wirkten sie als ein direktes außenpolitisches und diplomatisches Machtinstrument und wurden auch als solches begriffen.
Heute hat der Sport eine größere ökonomische Dimension und einen höheren medialen Verbreitungs-und Unterhaltungsfaktor als früher. Auch die Bedeutung des Fußballs kann man daran ermessen, dass sehr früh Geisterspiele stattgefunden haben – zumindest hier in Deutschland. Daran erkennt man den hohen gesellschaftlichen und kommerziellen Stellenwert dieser Branche – auch für die Medien.
Wenn also im Sommer 2021 die Fußball-EM doch noch angepfiffen wird. Wo wird Deutschland mit Jogi Löw stehen?
Ich hoffe doch, dass er weiterkommt als beim letzten Turnier.