Wie das Erbe von Moritz Gröbe auch heute weiterbesteht und getrunken wird. Von Renate Zöller
März/April 2021 – Kulturkorrespondenz östliches Europa № 1422
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Der Weinberg ist heute ein beliebter Ausflugsort für junge Prager. Foto: © Renate Zöller

Mitten im eng besiedelten, shabby-chicen Prager Hipster-Stadtteil Wrschowitz/Vršovice liegt an einem steilen Hang ein verwunschen-romantischer Park wie eine Kulisse aus einem Märchenfilm der Barrandov-Studios: die Havlíček-Gärten/Havlíčkovy sady. Dass das kleine Paradies vom deutschen Magnaten Moritz Gröbe erbaut wurde – und wer das eigentlich war –, ist allerdings nur wenigen bewusst. Ein Glas Rebensaft im Weinkeller Grébovka kann das ändern.

Im Havliček-Park wird eigentlich gebummelt, auf den Hund gewartet, an Blumen gerochen, den Vögeln gelauscht. Jeden Freitag gegen 14 Uhr aber strömt eine Handvoll Neugieriger zielstrebig zu einem flachen runden Gebäude, das sich wie ein Bunker zwischen die Terrassen mit Weinreben drückt.

Kühl ist es drinnen, auch optisch: eine schlauchartige Halle, zwei lange Tische, einfache Holzbänke, am Kopfende eine Bar und hinter Glasscheiben eine Winzeranlage.

Das ist die Experimentierstube von Pavel Bulánek. In der Woche schuftet Bulánek im 1,7 Hektar großen Weinberg des Parks. Und freitags lässt er Vinophile an seinen Kelter-Erfolgen teilhaben. Nur 45,– Kronen kostet ein Glas Wein, umgerechnet etwa 1,75 Euro. Denn Bulánek muss mit seinen Erzeugnissen kein Geld verdienen. Sein Auftrag lautet, das historische Erbe des Prager Weinbaus in die Zukunft zu tragen. Pavel Bulánek ist Großstadt-Winzer und Denkmalschützer in einem.

Weinanbau in der Biertrinker-Hochburg Prag, und dann mitten in der Stadt? Tatsächlich wurde schon unter Karl IV. in Prag Wein angebaut. 1358 erteilte er der Stadt das Privileg, Weinreben zu pflanzen, was mehr und mehr umgesetzt wurde. Noch heute zeugt der Name des Stadtteils Vinohrady von den Königlichen Weinbergen und davon, dass hier rund 400 Jahre lang Wein geerntet wurde. Einen ersten Rückschlag gab es durch den Dreißigjährigen Krieg. Danach wurden die zerstörten Weinreben teilweise durch Felder, Gärten und Gehöfte ersetzt. Der eigentliche Niedergang begann im 19. Jahrhundert, als die Reblausplage aus Amerika eingeschleppt wurde und in ganz Europa – auch in Prag – wütete. Sämtliche Reben mussten gekappt und ganz neu gepflanzt werden, was einen jahrelangen Ernteausfall bedeutete. Das war nicht nur für die genussfreudige Oberschicht, die auf ihren geliebten Wein verzichten musste, ein Desaster.

Für viele mittelgroße Winzer waren die notwendigen Investitionen zu groß und zu riskant: Sie sahen sich gezwungen, das Land billig zu verkaufen. Königliche Weinberge wurden zum begehrten Wohnort für eine bürgerliche Elite, der die Innenstadt zu eng geworden war. Innerhalb weniger Jahre wuchs die Zahl der Wohnhäuser rasant. Die Weinberge verschwanden, auch im daneben liegenden Wrschowitz/Vršovice. Vermutlich wäre auch der Havliček-Park heute eine weitere Hochhaussiedlung, hätte nicht der in Sachsen gebürtige Magnat Moritz Gröbe 1870 die Chance genutzt, am äußeren Rand des Bezirks an günstiges Land zu kommen und beschlossen, sich hier seinen Familiensitz bauen zu lassen.

60.000 Pferdewagen-Ladungen Erde

Moritz GröbeHistorische Aufnahme von Moritz Gröbe. © Wikicommons

Gröbe war Mitbesitzer der Baufirma Lanna & Šebek in Prag, die riesige Aufträge in Schiffbau, Uferbefestigung, Schleusen und schließlich im Eisenbahnbau generierte. Er arbeitete zunächst als Prokurist für Adalbert von Lanna und kam mit diesem 1850 nach Prag. 1869 wurde er Teilhaber. Es lief gut in der Firma, sie war, wie der Prager Historiker Milan Hlavačka aus Geschäftspapieren ersehen kann, »solide und sehr fachkompetent«. Hlavačka beschäftigt sich seit Jahren mit dem wirtschaftlichen Aufstieg einer ganzen Unternehmerklasse in der Gründerzeit und hat auch die Geschichte der Firma Lanna & Šebek erforscht. Die drei Geschäftspartner waren eng miteinander befreundet, las er in den Tagebüchern von Adalbert von Lanna. Lanna und Jan Šebek ließen sich später sogar in einer gemeinsamen Gruft – die man eher als Grab-Schloss bezeichnen könnte, so prunkvoll ist sie – auf dem Wolschaner Friedhof (Olšany) begraben. Man ging sehr vertrauensvoll miteinander um. Das war auch nötig, glaubt Hlavačka, denn teilweise ging es um immense Investitionssummen. 1869 etwa gab es beim Bau einer Eisenbahnstrecke von Pilsen/Plzeň nach Eisenstein einen Erdrutsch, und die Firma musste selbst für den entstandenen Schaden aufkommen.

Geldsorgen hatte Gröbe offenbar trotzdem nicht, und auch sein Partner Lanna begann in dieser Zeit mit dem Bau einer Villa in Bubentsch/Bubeneč. Gröbe ließ rund 60.000 Pferdewagen-Ladungen Erde auf den felsigen Steilhang am Rande von Wrschowitz aufschütten. Die kamen direkt aus dem Prager Untergrund, wo er am Bau des Eisenbahntunnels vom Hauptbahnhof Richtung Wrschowitz beteiligt war. Dann machten sich die renommierten Architekten Viktor Barvitius und Josef Schulz sowie der Bildhauer Bohuslav Schnirch ans Werk. »Sie waren die Besten!«, sagt Hlavačka. Und sie errichteten ein kleines toskanisches Paradies.

Das steil abfallende Gelände wurde in Terrassen aufgeschüttet. Etwa in der Mitte wurde die monumentale Villa mit rund dreißig Zimmern, bemalten Decken und Marmortreppe gebaut. Von hier aus hat man einen besonders schönen Blick auf das Gelände und bis weit über den Stadtteil Wrschowitz. Im rund elf Hektar großen Park gibt es jede Menge zu entdecken. Er ist heute eine grüne Oase mitten in der Stadt. Rund 120 Arten von einheimischen und exotischen Pflanzen ließ Gröbe anpflanzen, teilweise in Gewächshäusern. Das lockte und lockt auch heute noch unzählige Vögel an. Gröbe konzipierte das Gelände teils im Stil der Neorenaissance, teils neoromanisch. Es wurde mit einer Mauer mit Türmchen und Ziegeldach eingegrenzt. Er ließ Pfade, versteckte Oasen und Teiche anlegen, teilweise mit Springbrunnen oder mit einer Holzbrücke. Im Gartenkaffeehaus gab es eine Kegelbahn. Am prunkvollsten ist der Neptun-Brunnen mit der romantischen Grotte aus künstlichen Vulkansteinen, in der es einen Bogengang, kleine Höhlen, Sitzecken aus Stein, eine große Restauranthalle, eine Aussichtsplattform und eine Triumphpforte gibt.

Der Wein war Gröbes Prestigeobjekt

Zu guter Letzt ließ Gröbe den alten Weinberg rekonstruieren. 1,7 Hektar – etwa so groß wie zwei Fußballfelder – widmete er seinem persönlichen Steckenpferd. Wirtschaftlich war das ganz sicher nicht sinnvoll, aber natürlich ging es bei dem Prachtbau vor allem um Prestige. »Wahrscheinlich wollte Gröbe einfach bei Festmahlen seinen eigenen Wein servieren. Und sicher auch zeigen, dass er sich diesen Luxus leisten konnte«, glaubt Milan Hlavačka. Mitten im Weinberg wurde ein Weinkeller angelegt – der heutige Sklep Grébovka. Das Dach war nur provisorisch, Gröbe überlegte offenbar, später noch mehrere Stockwerke daraufzubauen. Aber so weit kam es nicht.

Die Grotte aus künstlichen Vulkansteinen mit dem Neptun-Brunnen auf einer historischen Postkarte zu Beginn des 20. Jahrhunderts. © Imago/ ArkiviDie Grotte aus künstlichen Vulkansteinen mit dem Neptun-Brunnen auf einer historischen Postkarte zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Foto: © Imago/ Arkivi

Gröbes Familiengeschichte stehe beinahe exemplarisch für das Schicksal vieler Geschäftsleute der Gründerzeit, sagt Hlavačka: »Sie waren unglaublich ehrgeizig, arbeiteten hart und wurden sehr reich. Aber sie bezahlten einen hohen Preis für diesen Reichtum.« Schon 1881 hatte Gröbe, 53-jährig, einen Schlaganfall erlitten und war seitdem an einen Rollstuhl gebunden. Hlavačka ist überzeugt: Zu beruflichem Stress und hohem finanziellen Einsatz kam das bedrückende Gefühl, dass sich die soziale und politische Situation in Böhmen massiv verschlechterte. Die Trennung zwischen Deutschen und Tschechen wurden immer harscher. Ab 1861 gab es keinen einzigen Deutschen mehr im Rathaus – obwohl noch rund 40.000 deutschsprachige, teils jüdische, Bürger in Prag lebten.

Der 1880 gewählte Bürgermeister Tomáš Černý erklärte Prag zur »slawischen Stadt«. Straßen- und Firmennamen wurden tschechisiert, die Amtssprache sollte selbst in rein deutschen Städten wie Reichenberg/Liberec oder Karlsbad/Karlovy Vary Tschechisch werden. Die großbürgerlichen Geschäftsleute der Stadt wollten mit den nationalistischen Strömungen nichts zu tun haben, sagt Hlavačka und hat auch eine logische Erklärung dafür: »Für das Großkapital ist eine nationale Spaltung ein Hemmnis, es braucht einen großen Markt, der nicht geteilt wird.« Lanna, Šebek und Gröbe hielten sich entsprechend von nationalistischen Vereinen und Organisationen fern. Trotzdem bedrohte es auch ihr Geschäftsmodell, wenn die tschechischen Nationalisten eine Formel erfanden, die dafür warb, nur mit jemandem aus der eigenen Volksgruppe zu handeln: Svůj k svému (sinngemäß etwa: »Jeder zu den Seinigen«)!

Späteres Kinderheim und Ausflugsziel

Gröbe starb 1891, zwei Jahre nachdem Haus und Park fertiggestellt waren. Die Familie geriet danach zusehends in finanzielle Schwierigkeiten. »Oft waren die Testamentseröffnungen in dieser Zeit ein Schock für die Familien«, weiß Hlavačka aus seinen Forschungen auch über andere Prager Magnaten. Die Männer hielten ihre Ehefrauen bei ihren Geschäften meist außen vor, sie fühlten sich niemandem Rechenschaft schuldig, wenn sie hohe finanzielle Risiken eingingen oder schlecht wirtschafteten.

Auch Gröbe hatte sich offenbar mit dem Bau der Villa finanziell übernommen. Zeitweilig versuchte seine Familie, ein wenig Geld einzuspielen, indem sie den Garten gegen Eintritt für die Öffentlichkeit zugänglich machte. Dann vermieteten sie die Villa an eine Enkelin von Kaiser Franz Joseph, aber nach drei Jahren stand sie wieder leer. Schließlich wurde überlegt, das Areal stückweise zu verkaufen.

Da beschloss der Gemeinderat der noch selbständigen Stadt Königliche Weinberge/Královské Vinohrady, den Gröbes 1905 das gesamte Grundstück abzukaufen. Rund 850.000,– Kronen zahlte die Stadt, weniger als die Hälfte dessen, was allein der Bau der Villa gekostet hatte. 1906 wurde der Park für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht und die Villa zu einem Kinderheim für Mädchen umgebaut. Möglichst wenig sollte an den großbürgerlichen Deutschen erinnern, dem man jetzt vorwarf, mit seinem Geld habe er nur deutsche Organisationen und Vereine unterstützt. Vor allem in der Ersten Republik nach 1918 wurden die Havlíčkovy sady zum beliebten Ausflugsziel für die Pragerinnen und Prager. Am Neptun-Brunnen wurde ein »Vivarium« mit exotischen Tieren eröffnet, es gab zwei Restaurants im Park. Die Weinberge verkamen. Unter den Kommunisten wurden sie aufgeteilt und als Schrebergärten genutzt.

Auch auf das Interieur und die Zimmeraufteilung der Villa wurde jahrzehntelang keine Rücksicht genommen. Zeitweilig diente sie der Hitlerjugend als Unterkunft, dann den sozialistischen Jungpionieren. Erst nach der Wende 1989 wurde sie in den Originalzustand zurückversetzt und ist heute der Hauptsitz des Instituts der Central and Eastern European Law Initiative (CEELI).

Nur eines blieb über all die Jahrzehnte erhalten: Für die Prager hießen die Havlíčkovy sady immer die »Grebovka«, nach Gröbe. Aber woher dieser Name eigentlich stammt, das wissen nur wenige der heutigen Prager, glaubt Hlavačka. Und er ist nicht der einzige, der das mit seinen Forschungen gerne ändern möchte. »Ich halte Gröbe für einen großen Visionär«, sagt der Winzer Pavel Bulánek. »Auf seine Weise war er ein echter Europäer, der nicht nur Prag zu einem regelrechten Schmuckstück gemacht hat, sondern großartige Ideen für ganz Europa hatte. Er war das Gegenteil der heutigen reichen Populisten wie Donald Trump.«

Von der Anhebung des Weinbergs lässt es sich gut auf ganz Prag blicken. Foto © Renate ZöllerVon der Anhebung des Weinbergs lässt es sich gut auf ganz Prag blicken. Foto © Renate Zöller

Gröbe habe als brillanter Entwickler um 1870 die alte Tradition des Weinbaus wieder aufgegriffen – so wie Buláneks Schwiegervater Antonín Tureček sie 1993 wiederum aufgriff. Damals wurde der Winzer vom 2. Prager Stadtteil Vinohrady-Vršovice beauftragt, den Weinberg nach Moritz Gröbes Entwurf zu restaurieren. Rund 1,6 Hektar traditionelle Reben pflanzte er neu an, dazwischen schmuggelte er aus Neugier ein paar ungewöhnlichere Sorten, wie »M15-86«, die »Modravina« (Blauwein) heißen sollte. Er starb im Jahr 2011, seither bewirtschaftet sein Schwiegersohn den Weinberg weiter.

Hibernal gedeiht in Prag am besten

Bulánek versteht seine Arbeit im Weinberg und natürlich auch den Ausschank im Weinkeller Grébovka durchaus als eine Art Denkmalpflege, um die Prager an die Geschichte der Deutschen in ihrer Stadt zu erinnern. Gleichzeitig will er das Erbe fortführen und weiterentwickeln – so wie es wohl auch Gröbe getan hätte. Derzeit baut er auf seinem Berg sowohl traditionelle Sorten an, wie Müller-Thurgau, Riesling, Grauburgunder und Spätburgunder. Aber er versteht sein historisches Erbe durchaus auch als Aufforderung, beispielsweise auf Nachhaltigkeit zu setzen. »Wir wollen den Weinberg gerne noch organischer führen«, sagt er: »Dazu versuchen wir den Einsatz von chemischen Mitteln wie Fungiziden zu minimieren, indem wir den Weinberg auf neue, resistentere Sorten umstellen.« Deshalb kann man im Experimentier-Weinkeller auch »pilzwiderstandsfähige Reben« wie Cabernet cortis oder einen Souvignier gris probieren. Und der Hibernal hat sich sozusagen zum Aushängeschild entwickelt, denn der gedeiht mitten in Prag offenbar am besten.

Das lässt sich auch als Gast im Weinkeller schnell feststellen. Die Anzahl der Fässer ist begrenzt. Das weiß auch die Fangemeinde. Eifrig werden die vier, maximal fünf Weine, die Bulánek ausschenkt, probiert, bewertet, lautstark diskutiert. Wenn der Weinkeller nach sieben Stunden seine Türen wieder schließt, sieht man die Gäste mit vollen Beuteln durch den Park Richtung Ausgang schlendern. Der leckerste Wein, oft ein Hibernal, ist dann meist ausverkauft. Bulánek sieht das gelassen. Das nächste Fass wartet schon darauf, angebrochen zu werden. Mal sehen, wie es diesmal schmeckt. Ist der Wein gut genug, können die Neugierigen ihn dann am darauffolgenden Freitag kosten.

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