Laudatio auf den Hermannstädter Bach-Chor
Dr. Ulrich A. Wien, Siebenbürgisch-Sächsischer Kulturrat, Gundelsheim/Neckar

Zur Verleihung des Ehrenpreises des Georg Dehio-Kulturpreises 2003 am 04.12.2003 im Deutschen Historischen Museum Berlin

Dr. Ulrich A. Wien während seiner Laudatio auf den Bachchor Hermannstadt. Foto: © Deutsches Kulturforum östliches Europa. M. MarxDr. Ulrich A. Wien während seiner Laudatio auf den Bachchor Hermannstadt. Foto: © Deutsches Kulturforum östliches Europa. M. Marx

Sehr geehrte Frau Staatsministerin Dr. Weiss,
sehr geehrter Herr Staatssekretär Gant,
sehr geehrte Frau Philippi,
sehr geehrter Herr Philippi,
sehr geehrte Frau Rhein (für den Vorstand),
Exzellenzen,
meine sehr verehrten Damen und Herren!

Mitten in der Krise – ein Kontrapunkt.
Gewissermaßen als Leitmotiv möchte ich meine Eindrücke im Blick auf den Hermannstädter Bach-Chor und seine bisherige Geschichte zusammenfassend in diese Formulierung kleiden.
Mitten in der Weltwirtschaftsdepression wurde 1931 der Bach-Chor in Hermannstadt begründet. In einer Stadt, die im ökonomisch hart gebeutelten Rumänien den traurigen Rekord der landesweit höchsten Arbeitslosenquote erreichte, wuchs der Mut zu einem Kontrapunkt: zur Gestaltung und Neuakzentuierung im Kultur- und Musikleben Hermannstadts, das an gewachsener bürgerlicher Musikkultur in vielfältiger Breite bekanntermaßen keinen Mangel kannte. Doch eine Facette fehlte. In einer Zeit, in der man die krisenhaften Momente sowohl in der siebenbürgisch-sächsischen Kultur und Politik als auch im gesamtrumänischen Rahmen auch als Sinnkrise wahrzunehmen verstand, gelang es auf Anhieb, ein profiliertes Gegengewicht zu setzen. Der in dieser Krisenzeit durch den jungen Hermannstädter Stadtkantor Franz Xaver Dressler erkannte Mangel eines großen Oratorienchors, der sich der Pflege der großen geistlichen Chorliteratur – zeittypisch zunächst mit dem Namen Bach und Händel verbunden – widmen sollte, und der damit in musikalischer Parallelität dem Gemeindeaufbaukonzept des Stadtpfarrers D. Friedrich Müller (»Volksmission«) entsprach, dieser Mangel wurde durch die Gründung des Bach-Chors überwunden.
Mitten in der Krise – ein Kontrapunkt.

Der Bach-Chor war Mitglied der »Neuen Bach-Gesellschaft zu Leipzig«, verfügte über internationale Kontakte und trat in den Folgejahren sowohl in Hermannstadt als auch landesweit auf.
Der Chorgründer und –leiter Franz Xaver Dressler, der aus dem böhmischen Aussig stammend vorwiegend in Leipzig ausgebildet worden war, verstand sich als Straube-Schüler. Während seines Studiums war der Sohn des katholischen Domorganisten Ferdinand Dressler zu Bach und zur evang. Kirche konvertiert. 1922 war er als frischgebackener Absolvent der Leipziger Musikhochschule (-Robert Schumann) Kantor und Organist der ev. Stadtpfarrkirche in Hermannstadt geworden und hatte nach dem Leipziger Vorbild der Thomaner einen Knabenchor am Brukenthal-Gymnasium: die Brukenthaler gegründet. Unter seiner Leitung erarbeitete sich der Knabenchor das gesamte Spektrum der a capella-Literatur, vornehmlich die Motetten bis hin zu zeitgenössischen Kompositionen.
Seiner Bach-Begeisterung folgend studierte Dressler darüber hinaus mit dem Bach-Chor die barocken Oratorien, Passionen, Kantaten und das häufig aufgeführte Weihnachtsoratorium ein und brachte diese Werke landesweit zu Gehör: eine Pionierleistung, die weit über das protestantische Milieu auf die Musikkultur des ganzen Landes ausstrahlte. Herausragend sind dabei Aufführungen in Bukarest zu nennen (Athenäum), die in der Musikwelt der Hauptstadt mit höchster Aufmerksamkeit und großem Enthusiasmus rezipiert worden waren. Um der historischen Gerechtigkeit willen sei erwähnt, dass mit dem Kronstädter Bach-Chor und dem Kantoren-Kollegen Viktor Bickerich ein gleichgerichtetes und ebenso beeindruckendes Parallelensemble musizierte, das an den anfänglichen Pioniertaten partizipierte.
Plattenqualität zu erreichen war nicht das Ziel Dresslers. Der Dirigent suchte mit seinen Ensembles aus stimmbildnerisch geschulten Laien die authentische Wiedergabe der Werke im Stil der Straube-Schule. Enthusiasmus und Charisma des Dirigenten mobilisierten in den Mitwirkenden höchste Hingabe und zielten damit auf eine die Werktreue ergänzende Dimension der Interpretation: die Loyalität gegenüber der geistlichen Tiefendimension, die dem Anliegen der Kompositionen entsprach, musikalische Verkündigung der christlichen Botschaft zu sein. D.h. die Authentizität der Aufführungen lag in der Kombination von musikalischer und theologischer Ästhetik begründet und bildete das emotional ansprechende Faszinosum. Damit war die Gründungsintention verwirklicht.
Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs sind die Solisten-Importe aus dem Deutschen Reich signifikant. Bemerkenswert sind die Aufführungen der Händel-Oratorien zu alttestamentlichen Stoffen trotz latenter antisemitischer Anfeindungen, wenngleich kritisch anzumerken ist, dass durch Titeländerungen und Textzensuren ideologische Zugeständnisse gemacht wurden.

Die Nachkriegszeit war hart: doch trotzdem gelang dem Bach-Chor ein alle Ausgehverbote missachtendes Proben und Auftreten: mitten in der Krise – ein Kontrapunkt.
Es sei nur an die Aufführung der Kantate von J.L. Bella »Wende dich zu uns, o Herr« erinnert, die auf der zweiten Chor-CD eingespielt worden ist, die angesichts aufwühlender Schuldfragen und vor dem Hintergrund von Deportation sowie bürgerlicher Entrechtung und Enteignung zu einer geistlichen Neubesinnung und –bestimmung anleitete. – Mitten in der Krise ein Kontrapunkt.
Die Erstaufführung der Hohen Messe (h-moll) von J.S. Bach im Jahr 1949 in Rumänien war nach der Installation der Volksrepublik Rumänien 1947 eine couragierte Demonstration, aber auch von dem Willen geprägt, die eigenen Ziele unbeirrt weiterzuverfolgen.
Dressler hat dies büßen müssen. Zur Zwangsarbeit an den Donau-Kanal deportiert und später nochmals monatelang inhaftiert wurde er jedes Mal schwerkrank entlassen. Die härteste Bewährungsprobe stand allerdings durch das drohende Verbot des Bach-Chors bevor. Nur die Eingliederung 1959 in die Staatsphilharmonie und als Teil der staatlichen Kulturpolitik erlaubte den Fortbestand. Durch Zugeständnisse an die ideologischen Vorgaben, z.T. durch Gegenseitigkeitsgeschäfte konnte der Chor überleben und dank der nationalen wie internationalen Reputation des Dirigenten auch seine ureigenen Ziele verwirklichen. Gegen die menschenverachtende Diktatur, gegen Versuche der Entwürdigung durch Bevormundung, gegen die Unterdrückung geistiger Freiheit gelang den Choristen unter Dressler, immer wieder kontrapunktisch zu musizieren. Zum Abschied 1978 – nach 47 Jahren – wurde sogar Mozarts Requiem aufgeführt.
Eine Ära ging zuende, doch der Bach-Chor setzte den musikalischen Kontrapunkt fort. Nach verschiedenen Wechseln der Dirigenten – unter ihnen auch schon Kurt Philippi, dirigiert derselbe seit 1985 ununterbrochen den Chor.

Doch zur Jahreswende 1989/90 löste der politische Umbruch in Rumänien die fluchtartige Auswanderung der meisten Siebenbürger Sachsen aus. Der Bach-Chor wurde sehr beeinträchtigt und schrumpfte mengenmäßig stark.
Wie sollte dieser existenziellen Krise begegnet werden?
Gegen die Untergangsstimmung setzte das Ehepaar Philippi einen beherzten, aber bis heute vitalen und überzeugenden Gegenton/Kontrapunkt. Der von Frau Philippi geleitete Kirchenchor fusionierte mit dem nun wieder unabhängigen Bach-Chor. Unter alten Namen, mit den ursprünglichen Zielen, aber mit z.T. völlig neuen Gesichtern wurden Grenzen überschritten. Singfähigen und Musikbegeisterten aus allen Konfessionen und Ethnien steht der Chor offen, und ist zu einer Integrationsinstanz in der sich wandelnden Gesellschaft geworden.

Das ist das Verdienst der beiden Musiker Ursula und Kurt Philippi.

Ursula Philippi ist eine stilsichere Künstlerin, eine eminent virtuose und beeindruckend vielfältige Organistin in Hermannstadt und Professorin für künstlerisches Orgelspiel an der Musikakademie in Klausenburg. Ihr Ziel ist es, die klassische wie modern-zeitgenössische Orgelliteratur in der rumänischen Kulturlandschaft zu pflegen, bekannt zu machen und Nachwuchsorganisten als künftige Multiplikatoren auszubilden und zu fördern. Neben ihrer primären Tätigkeit konzertiert sie im In- und Ausland und hat höchst bemerkenswerte CDs eingespielt; die Doppel-CD »Orgellandschaft Siebenbürgen« erhielt den Preis der Deutschen Schallplattenkritik. Mit ihrer Kunst bereichert sie die Auftritte des Bach-Chors und ist Woche für Woche bei den Chor-Proben die unentbehrliche korrepetitorische Stütze, die den Probenfortschritt der Choristen beschleunigt.

Mich beeindruckt immer wieder, mit welcher Energie, Kreativität und unternehmerischer Initiative das Ehepaar Philippi Ideen entwickelt und umsetzt, die vor Jahren der Orgelrenovierung zugute kamen und von denen der Chor heute profitiert.

Kurt Philippi als Dirigent des Hermannstädter Bach-Chors ist die prägende Gestalt des heutigen Chores. Er fordert viel, aber er fördert damit, weil er immer neue, aber realistische Herausforderungen dem Chor zumutet. Kurt Philippi hat Mut, seine Meinung wird geradlinig artikuliert und seine Äußerungen – auch seine Kritik an den Probenleistungen – sind offen und schnörkellos. Jede und jeder weiß, woran sie oder er ist. Mit Humor und Strenge ist er ein vorbildlicher Chorerzieher. Er schätzt die Möglichkeiten und die gelieferte Qualität nüchtern ein und ist sich selbst sein schärfster Kritiker.

Ich selbst habe bei monatelangen Archivstudien in Hermannstadt einmal in der Woche den Kopf aus dem Staub gehoben und an den Proben sowie an einem Passionskonzert aktiv teilgenommen. Auch wenn ich wie im Frühjahr anlässlich eines Besuchs es ermöglichen kann, komme ich zum Mitproben. Denn es wird solide und seriös geprobt, es werden alle Gattungen gepflegt und bis hin zu Uraufführungen von Werken, die dem Chor gewidmet werden. Dabei faszinieren mich besonders die Bemühungen um die eigene Musiktradition: sei es Paul Richter sowie Bella – oder die auf archivalischen Fundstücken aus Archivbergungen verlassener oder verlöschender Dorfgemeinden basierenden Werkausgaben bzw. ﷓rekonstruktionen. Eine davon liegt auf der Weihnachts-CD vor, die bereits in zweiter Auflage erschienen ist, die ich Ihnen, verehrte Gäste, nur wärmstens empfehlen kann. Alljährlich höre ich in der Adventszeit diese CD mehrfach. Aber ein Aspekt muß noch zum Bach-Chor unbedingt genannt werden, das ist die menschliche Herzlichkeit unter dem Mitgliedern. Die Pausen könnten eigentlich die ganze Probenzeit füllen, weil es da so viele gern zu treffende Menschen gibt. Viele junge Leute kommen entweder aus den Schulen beziehungsweise Internaten oder Studierende unterschiedlicher Hochschulen.

Es ist heute eine Selbstverständlichkeit, dass im Bach-Chor Ethnie- oder Konfessionsgrenzen keine entscheidende Rolle spielen. Diese Voraussetzung garantiert auch die Integrationskraft des Ensembles für die Zukunft. Damit hat der Chor eine historische Tradition Siebenbürgens aufgegriffen, die ich in einem Aufsatz mit dem Begriff »Pionierregion der Religionsfreiheit« gekennzeichnet habe. Diese Tradition weitergeführt und für die moderne Zivilgesellschaft transformiert fruchtbar gemacht zu haben, spiegelt das Identitätsbewusstsein wider, das im Bach-Chor weiterentwickelt wird: durchaus traditionsbewusst in einer pluriethnischen und plurikonfessionellen Kulturlandschaft selbstbewusst, sensibel und offen die Multiplikatorenfunktion einer gewachsenen authentischen Musikkultur wahrzunehmen und darzustellen.
Konkret wird dies in der Probenarbeit, in der exemplarischen Konzerttätigkeit und in der Kooperation mit in- und ausländischen Ensembles (Inland: Bach-Chor Kronstadt, vox-humana-Chor Szepsiszentgyörgy, Staatsphilharmonie Sibiu; Ausland: Kantorei Oberschützen und (Württembergische) Johanneskantorei Künzelsau). Dabei gehört die klassische Oratorienchorliteratur wie Mendelssohns Paulus, Bachs Matthäuspassion oder Brahms’ Requiem sowie ein umfangreiches Motettenprogramm zum Repertoire. An den Proben sowie bei den Konzerten beeindruckt mich am meisten: der geistliche Gehalt der Musik – als Proprium – wird unaufdringlich und selbstverständlich erläutert und fließt in die Interpretation konsequent mit ein. Wie schon in den Anfangsjahren gelingt es dem Laienchor dabei immer wieder, seiner Ursprungsintention zu entsprechen: musikalische und theologische Ästhetik gleichermaßen wahrzunehmen, darin Maßstäbe zu setzen und in emotional ansprechender und unter die Haut gehender Weise die Hörerschaft zu packen.

Mit diesem Ensemble unterschiedlicher Faktoren entwickelt der Bach-Chor eine stilbildende Kraft der Vorbildfunktion:

  1. in der eigenen Konfession
  2. für die Ökumene
  3. für die eigene Ethnie sowie
  4. für die gesamte rumänische Gesellschaft

im Transformationsprozeß hin zur pluralistischen Zivilgesellschaft.

 

Insofern bin ich stolz auf die Mitarbeiter im Siebenbürgen-Institut in Gundelsheim, die mit zielsicherem Blick für die preiswürdige Qualifikation des Hermannstädter Bach-Chors diesen in Vorschlag gebracht haben für den Georg-Dehio-Ehrenpreis und mit plausiblen Argumenten die Entscheidung leicht gemacht haben.
Dem Bach-Chor und dem Ehepaar Philippi aber gratuliere ich aufs Herzlichste zum Ehrenpreis des Georg Dehio-Kulturpreises. Damit wird Ihre Initiativkraft wie Ihre Künstlerpersönlichkeit in angemessener Weise wahrgenommen, Ihre Vorbildfunktion – mitten in der Krise Kontrapunkte zu setzen – öffentlich dargestellt und die authentische Kulturvermittlung gewürdigt, die ihre Basis wie ihr Ziel als musikalische Verkündigung der christlichen Botschaft bestimmt.
Mitten in der Krise – ein Kontrapunkt.