Rede zur Verleihung des Georg Dehio-Kulturpreises am 4. Dezember 2003 in Berlin
Staatsministerin Dr. Christina Weiss, Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien
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Staatsministerin Dr. Christina Weiss während ihrer Rede zur Verleihung des Georg Dehio-Kulturpreises an Prof. Andrzej Tomaszewski (li.) und den Bachchor Hermannstadt

Der erstmalig vergebene Preis des Deutschen Kulturforums östliches Europa wurde an Professor Tomaszewski verliehen. Kulturstaatsministerin Weiss würdigt den Preisträger und betont die Bedeutung der Kultur für das zusammenwachsende Europa, 04.12.2003

(Es gilt das gesprochene Wort)

Anrede

»Wir konservieren ein Denkmal nicht, weil wir es für schön halten, sondern weil es ein Stück unseres nationalen Daseins ist. Denkmäler schützen heißt nicht Genuss suchen, sondern Pietät üben.« – Mit dieser Definition hat der aus Reval (Tallin) stammende deutsche Kunsthistoriker Georg Dehio vor gut einhundert Jahren einen Kulturauftrag umrissen, der längst noch nicht erfüllt ist, im Gegenteil. Während Georg Dehio vor allem für den Erhalt des baulichen Erbes stritt und durch sein unübertroffenes Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler eine breite Leserschaft sensibilisierte, ist unser Blick durch zwei mörderische und einen kalten Krieg nicht nur verändert, sondern neu geprägt. Einerseits inhaltlich, wenn wir neben einem Bauwerk längst auch ein Musikstück, einen Film, einen Dialekt oder einen philosophischen Gedanken als unschätzbares Element unseres kulturellen Daseins begreifen. Andererseits politisch, wenn wir anerkennen, das unser nationales Dasein nur als Teil eines europäischen Daseins verstanden werden kann. Und was hier so plausibel wie alltäglich klingt, ist vielleicht doch die größte Herausforderung unserer Zeit, denn über Europa reden und europäisch denken – europäisch handeln gar –, das sind noch immer zwei ganz verschieden Dinge. Mit der Erweiterung – ich sage lieber: mit der Vervollständigung Europas – steht uns nach Jahrzehnten einer trügerischen Stabilität in Teilung ein Aufbruch in Einheit bevor, den wir nicht allein durch »Genuss«, sprich wirtschaftliche Prosperität, meistern werden. Die Zukunft Europas ist vielmehr ein Europa der Kultur. Die europäische Kultur ist die einzige Quelle, aus der die »alten« wie die »neuen« Mitgliedsstaaten der EU gleichermaßen schöpfen. Sie ist die Basis unserer Einheit, die man nur erhalten, die man nur dann neu entdecken kann, wenn – und hier komme ich nochmals auf Georg Dehio zurück – wenn uns im Umgang miteinander die Pietät als bestimmendes Prinzip erhalten bleibt.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

damit wir uns nicht missverstehen: Pietät – Respekt und Rücksichtnahme – vor den vielfältigen Errungenschaften unsere Kultur heißt nicht Konservierung eines beliebigen historischen Moments, heißt nicht Bewertung nach Bedeutung. Die Bewahrung des kulturellen Erbes darf und muss zugleich Aneignung und Fortentwicklung sein. Wenn wir mit dem Georg Dehio-Kulturpreis heute zum ersten mal Persönlichkeiten ehren, die sich um die deutsche Kultur im östlichen Europa verdient gemacht haben, dann reflektieren wir eben nicht die Protagonisten eines statischen oder gar rückwärtsgewandten Prozesses. Uns geht es im Gegenteil darum, die Bewahrung des Vergangenen im Jetzt zum Wohle einer gemeinsamen europäischen Zukunft voranzutreiben. So ist denn auch der Arbeitsauftrag des Kulturforums östliches Europa prinzipiell zu verstehen, und ich freue mich besonders darüber, dass in dieser von meinem Haus finanzierten Einrichtung die polnische und die tschechische Regierung unmittelbar mitwirken können. Denn nur der europäische Blickwinkel erlaubt es uns Deutschen, jene Verbindungen neu zu entdecken, die die deutsche Kultur über eintausend Jahre mit dem Osten Europas verband und die erst von einem verbrecherischen Krieg und seinen Folgen gekappt wurden. Diese Kultur, die uns Deutschen während der Teilung Europas so fremd geworden ist, ist ein Teil unserer Kultur, ein Teil unserer Geschichte. Unsere Geschichte jedoch ist auch ein Teil der Kultur Osteuropas, und wir tun gut daran, unsere Annäherung durch den wechselseitigen Blick von West nach Ost und von Ost nach West Schritt für Schritt neu zu üben, Schritt für Schritt weiter zu fassen. Wir werden dabei erleben, dass uns Deutschen das Deutsche im östlichen Europa längst fremd geworden ist, obwohl uns das Weichbild vieler Städte schnell vertraut vorkommt. Die Menschen aus Tallin/Reval dagegen, aus Königsberg, der Stadt Immanuels Kants, die heute Kaliningrad heißt, aus dem schlesischen Breslau in Westpolen oder aus dem siebenbürgischen Hermannstadt leben ganz unverkrampft in und mit der deutschen Kultur. Sie betrachten sie inzwischen sogar als Ferment für Austausch und Bereicherung.Und wir Deutsche dürfen dies durchaus als Angebot verstehen, näher zu treten. Dabei wird es wiederum nur die Pietät sein, die uns im Prozess des »Ent-Fremdens« vor jener Arroganz schützt, die ein Neuentdecken auf Dauer verhindert.

Dass das Nähertreten lohnt, meine sehr verehrten Damen und Herren, liegt für Menschen, die sich mit Kultur beschäftigen, die mit und durch die Kultur leben, auf der Hand. Für die europäische Wertegemeinschaft ist es geradezu unerlässlich, die Geschichte – auch die Kulturgeschichte – eines jeden Volkes, zu kennen. Arthur Schopenhauer spricht sogar davon, dass sich ein Volk erst durch die Geschichte seiner selbst vollständig bewusst wird. Diese Geschichtserkenntnis indes darf nicht allein in Selbsterkenntnis münden. Und so schließe ich mich gern Tomás Halik an, der in »Kafka«, der »Zeitschrift für Mitteleuropa«, mahnte, dass eine europäische Integration ohne eine Reform der nationalen und konfessionellen Geschichtsschreibungen nicht zu haben sein wird. In Europa gehe es vielmehr um die Kunst, so Halik, »die eigene Geschichte auch aus der Perspektive des anderen zu lesen, was einen schmerzhaften Eingriff in die Grundpfeiler des eigenen Selbstbewusstseins, eine Infragestellung der eigenen Identität bedeuten« könne. Deshalb ist es meines Erachtens auch unmöglich, dass primär Staaten und Regierungen den Diskurs über Kultur und Geschichte führen. Das ist Sache der Menschen, die mit ihren Lebensgeschichten sich selbst und andere nach dem Woher und Wohin befragen. – Die Vergabe des Georg Dehio-Kulturpreises an Personen, die diese Fragen immer wieder neu gestellt und eigene Antworten entwickelt haben, die sich um Verständigung und Aussöhnung verdient gemacht und sich dabei als wahre Europäer bewiesen haben, verstehe ich in diesem Zusammenhang als würdiges wie auch verpflichtendes Signal.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

die Erkundung und Pflege einer kulturellen Hinterlassenschaft hat neben der Bewahrung bzw. der Entwicklung unserer Werte und Traditionen noch einen weiteren, nicht zu unterschätzenden Auftrag: Sie dient dem Erhalt, dem Ausbau und der Stärkung der kulturellen Vielfalt in Europa. Vor wenigen Tagen habe ich gemeinsam mit meinem französischen Kollegen Jean Jaques Aillagon und dem Bevollmächtigten der Bundesregierung für die kulturelle Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich, Herrn Ministerpräsidenten Peter Müller, in Saarbrücken eine Erklärung verabschiedet, die den Schutz der kulturellen Vielfalt als gemeinsamen Wert der europäischen Kultur definiert. Ohne kulturelle Vielfalt, ohne Pluralismus im Denken und Reden, ohne Pluralismus in den Medien und ohne Vielfalt in der Debatte – das ist uns allen klar – kann die europäische Einigung nicht gelingen. Sie ist die Quelle unserer Kreativität und Basis unserer Verständigung. Kulturelle Vielfalt gedeiht jedoch nur, wo Menschen in der Lage sind, den besonderen Wert ihrer Geschichte, ihrer Kultur oder ihrer Tradition anzuerkennen. Und hierzu gehört natürlich auch jene Vielfalt, die die deutsche Kultur im östlichen Europa entfaltete. Die Wiederentdeckung und Pflege wird also dazu beitragen, die kulturelle Vielfalt in Europa zu stärken, denn Vielfalt lebt auch durch Erinnerung.

Meine Damen und Herren,

gegen diese Vielfalt stehen all jene, die noch am Vorabend der EU-Erweiterung die Angst schüren, ein Staatenbündnis aus 25 Staaten ließe sich nicht auf EINEN Nenner bringen. Sie propagieren ein »Kerneuropa« und handeln dabei nicht nur fahrlässig. Sie setzen die Axt an die Wurzel unserer europäischen Identität, die nur durch kulturelle Vielfalt gedeihen kann. Kulturelle Identität und kulturelle Vielfalt sind die Schlüssel zum Verständnis und zur Zukunft Europas. Denn was macht Europa aus? Gemeinsame Werte und eine gemeinsame Kultur. Beide lassen sich nicht auf Kernstaaten begrenzen. Und so verpflichtet die zukünftige Verfassung des Vereinigten Europas eben auch all seine Mitglieder auf ein und die selben Grundwerte: »Schöpfend aus den kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen Europas« sollen wir unsere Wertegemeinschaft auf den Errungenschaften unserer Jahrtausende alten Zivilisation begründen: dem Humanismus und seinen Grundsätzen von »Gleichheit der Menschen, Freiheit und Vernunft«, – so heißt es in der Präambel des Vertragsentwurfs. Keine Einschränkung nach »alt« und »neu«, nach Ost oder West, nach Kern und Korona! Laut Artikel 1(2) steht die Union allen europäischen Staaten offen, die diese Werten achten und sich verpflichten, ihnen gemeinsam Geltung zu verschaffen. Und Art 3(3) schreibt gar den kulturpolitischen Auftrag fest, an dem die heutigen und sicher auch die zukünftigen Dehio-Preisträger erfolgreich arbeiten: »Die Union wahrt den Reichtum ihrer kulturellen und sprachlichen Vielfalt und sogt für den Schutz und die Entwicklung des kulturellen Erbes Europas«. — Und wenn Sie Europa unter diesem Blickwinkel sehen, wird Ihnen auffallen, dass wir noch viel zu stark fixiert sind auf wirtschaftliche Fragen und Prozesse, dass es uns zu oft nur interessierte, ob die künftigen EU-Länder rechtstaatliche Strukturen geschaffen und den Übergang zur Marktwirtschaft vollzogen haben. Die äußere Form allein reicht jedoch nicht aus, denn ohne Seele ist ein Lebewesen kein Ganzes, wie Aristoteles lehrt. Was ist die Kultur aber anderes als die Seele Europas?!

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

die Kultur ist Seele Europas, und Sie wissen so gut wie ich, das diese Seele tiefe Narben trägt. Die schlimmsten haben ihr die Kriegstreiber und Mörder aus Deutschland beigebracht, und wir Nachgeborenen tragen noch immer schwer daran. Wir glauben jedoch, dass es Versöhnung geben kann, weil wir erlebten und noch immer erleben, wohin Verdrängung führt. Deshalb wollen wir die Vielfalt der europäischen Kultur auch nicht ohne einen Selbstzweck durch Erinnerung und Bewahrung bereichern: Das östliche Europa ist noch immer vielen Deutschen fremd. Fremd auch, weil man die Diskussion über die deutsche Kultur in Osteuropa auf beiden Seiten des ehemaligen eisernen Vorhangs zu lange verschwiegen, instrumentalisiert oder einseitig den Vertriebenenverbänden und deren Partikularinteressen überlassen hat. Die diesjährige Debatte über die Einrichtung eines »Zentrums gegen Vertreibungen« in Berlin hat neuerlich gezeigt, wieviel Unverständnis, wieviel Fremdheit unserer eigenen Geschichte noch immer anhaftet. Und so bin ich sehr froh darüber, dass inzwischen jene Idee immer klarere Formen gewinnt, die ein »Zentrum gegen Vertreibungen« nicht als Ort, sondern als Prozess begreift. Wie könnte ein Länder übergreifendes Phänomen besser debattiert und aufgewertet werden als durch ein Länder übergreifendes Netzwerk, das überall in Europa Kongresse, Ausstellungen und Publikationen verantwortet? Vertreibung war überall. Schuld und Leid gehören – ob wir wollen oder nicht – zu unserer gemeinsamen europäischen Geschichte, und auch in diesem Fall kann es nur unserer gemeinsamen Kultur gelingen, Aufarbeitung und Aussöhnung voranzutreiben.

Zu dieser Aufarbeitung gehört zwingend, meine sehr verehrten Damen und Herren, dass wir unseren Blick auf den Akt der Vertreibung, auf Flucht, Exil und Deportation nach und nach erweitern, um uns jener Gemeinsamkeiten zu vergewissern, die die Menschen in Europa, allen voran in Osteuropa, vor dem schrecklichen Zivilisationsbruch der Naziherrschaft einte. Kultur und Tradition sind hier zwangsläufig die prägenden Parameter, und wir sollten uns nicht scheuen, in ihnen beides zu entdecken: einen Teil deutscher Geschichte in Osteuropa und einen Teil europäischer Zukunft. Für diese Entdeckungen ist die Arbeit der diesjährigen Dehio-Preisträger eine unverzichtbare Grundlage und hoffentlich ein Ansport für viele. Ich danke Ihnen, sehr geehrter Herr Professor Tomaszewski, und allen Mitgliedern des Bach-Chores Hermannstadt im Namen der Bundesregierung ausdrücklich, dass sie selbst in schwieriger Zeit die Kultur gegen die Ideologie und gegen die Ignoranz verteidigt habe. – Die Aufnahme der schlesischen »Friedenskirche« in Schweidtnitz in die Liste des UNESCO-Kulturerbes ist in diesem Prozess ja nur der augenfälligste Erfolg, der Deutsche wie Polen ehrt. – Ihre Arbeit leisteten Sie nicht allein für Ihr Land, für Polen oder Rumänien, und gewiss nicht nur für Deutschland. Sie haben, um mit Georg Dehio zu sprechen, nicht den Genuss gesucht, sondern Pietät geübt. Und vor allem damit haben Sie der kulturellen Vielfalt Europas einen unschätzbaren Dienst erwiesen. Vielen Dank!