Am verlängerten Wochenende vom 9. (Christi Himmelfahrt) bis 12. Mai 2013 führte das Deutsche Kulturforum östliches Europa eine Exkursion per Fahrrad durch, in der die Teilnehmerinnen und Teilnehmer Einblicke in die vielfältige Kultur- und Naturlandschaft der Warthemündung gewinnen konnten.
Die Gruppe von 12 Radlern traf sich am Donnerstag Nachmittag in Kostrzyn (Küstrin), dem Startpunkt der Exkursion. Nachdem die Fahrräder untergebracht waren und die Gruppe sich in einer kurzen Vorstellungsrunde untereinander bekannt gemacht hatte, brachen wir zu einem Erkundungsgang zu Fuß auf. Als kundigen Stadtführer hatten wir Klaus Ahrendt, der seit mehreren Jahren die Tourist-Information der Stadt betreibt, gewonnen.
Der Weg führte aus dem Zentrum Kostrzyns (der ehemaligen Küstriner Neustadt) über die Warthe-Brücke dorthin, wo früher die Küstriner Altstadt und die Festung waren. Von der einst schier uneinnehmbaren Festung – noch Napoleon Bonaparte nannte sie „fürchterlich“ – sind für den flüchtigen Blick des Durchreisenden nur noch die erhaltenenen Außenmauern zur Oderseite hin zu sehen. Über den Markgrafen Johann von Küstrin, dessen 500ster Geburtstag in diesem Jahr gefeiert wird und der die Stadt zu seiner Residenz erhob und zur Festung ausbaute, informierte uns unsere Mitfahrerin Alice Schumann.
Die über der Erde liegenden Teile der ehemaligen Festung, des Schlosses und der Altstadt sind nur zu erahnen. Dies macht auch den besonderen, etwas gespenstischen Reiz des Spaziergangs durch die Küstriner Altstadt aus: Der Weg führt durch die alten Straßen und Gassen der Altstadt, wobei die ehemaligen Häuserviertel heute von dichtbewachsenen und durch Vögel (und Mücken …) bevölkerte Grünflächen eingenommen werden.
Klaus Ahrendt erläuterte sehr kenntnisreich die Geschichte der Stadt. Sein Vortrag wurde durch das Leitmotiv der traurigen Geschichte vom Fluchtversuch des jungen Kronprinzen Friedrich, später Friedrich II., und der Hinrichtung seines Freundes Katte in der Festung Küstrin zusammengehalten. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, gut vorbereitet durch die Lektüre eines vom Kulturforum zusammengestellten Readers, beteiligten sich aktiv an der Erkundung, und beim abendlichen Zusammensitzen erläuterte unsere Mitfahrerin Melanie Schwanitz eingehend das Thema Flucht, Vertreibung und Aussiedlung am Ende des Zweiten Weltkriegs in dieser Region.
Am nächsten Morgen starteten wir bei leichtem Nieselregen und fuhren auf der relativ wenig von Autos befahrenen Straße Nr. 22 an der Warthe entlang Richtung Słonsk/Sonnenburg. In weiteren Kurzvorträgen stellten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sich gegenseitig die Sehenwürdigkeiten dieses kleinen sehr schön am Rande des „Naturschutzgebietes Warthemündung“ gelegenen Städtchens vor.
Das einst beeinduckende Renaissance-Schloss, von dem aus der Johanniter-Orden seine Ländereien in der Neumark verwaltete, ist leider im Jahr 1975 während der Restaurierungsarbeiten abgebrannt und bietet ein trauriges Bild. Einen Kontrast ist die schön renovierte gotische Schlosskirche mit ihren wunderbar ausgemalten Deckengewölben und dem von Friedrich Schinkel im 19. Jahrhundert errichteten Kirchturm.
In strömendem Regen besichtigten wir den Gebäudekomplex, in dem von 1933 bis 1945 im NS-Konzentrationslager Sonnenburg zahlreiche politische Häftlinge einsaßen und zum Teil umkamen – unser Mitfahrer Dmitriy Emelyashi informierte uns über die Geschichte dieses Ortes.
Und weiter ging es in das Naturschutzgebiet. Der Sandweg führte auf einem Damm durch die weithin vom jahreszeitlichen Hochwasser der Warthe überschwemmte Bruchlandschaft. Ein unvergleichlicher Eindruck war der Blick in die Auenlandschaft und das vielfältige Konzert von Naturlauten. Zu den seltsamen Ortsnamen wie Malta, Jamaika oder Pennsylvania hatten wir bereits einiges erfahren, unsere Mitfahrerin Nina Werner ergänzte Einzelheiten aus ihrem Kurzvortrag.
Pumpwerke und vereinzelte Höfe zeugen von der mehr oder weniger behutsamen Tätigkeit der Bewohner, die hier seit Jahrhunderten dem Wasser der Warthe ein Stückchen Land zum Bewirtschaften und Bewohnen abringen. Schließlich erreichten wir die Warthebrücke bei Świerkocin (Fichtwerder), wo wir auf dem Bauernhof von Jolanta Urbańska-Czeszejko unsere durchnässte Kleidung trocknen und uns mit einem gehaltvollen Mittagsimbiss stärken konnten.
Nach einer kleinen Ruhepause (die zurückgelegten 45 Kilometer auf zum Teil sandigen Wegen hatte ein wenig ermüdet) fuhren wir auf einer schmalen Nebenstraße Richtung Witnica/Vietz. Der Besuch bei dem Lokalhistoriker Zbigniew Czarnuch (Georg Dehio-Kulturpreisträger 2009) und die Besichtigung seines Wegweiser-Parks (s. die polnische Website) waren Höhepunkte der Exkursion. Czarnuch zeigte uns seine Sammlung von Zeugnissen der europäischen Kulturgeschichte, unter denen die „Wegweiser“ nur den sozusagen symbolischen Angelpunkt bilden uind erläuterte uns sein Konzept, das aus seiner langjährigen pädagogischen Erfahrung als Lehrer gespeist ist.
Der Rückweg ins Nachtquartier in Świerkocin führte nochmals durch das Dorf Pyrzany, das nach 1945 von einer geschlossenen Dorfgemeinschaft von vertriebenen Ukrainern und Lemken besiedelt wurde, unsere Mitfahrerin Jeanette Bosche wusste außerdem detaillierte Informationen zur Kirche, dem großen Bild am Haus eines Künstlers sowie zum ehemaligen Flussverlauf beizutragen.
Am Samstag ging es nach dem Frühstück weiter – bei strahlendem Sonnenschein fuhren wir auf der Landstraße Nr. 132 Richtung Gorzów Wielkopolski, dem früheren Landsberg an der Warthe, unserer nächsten Station. Auf dem Weg dorthin passierten wir einen ehemaligen deutschen evangelischen Friedhof, ein heute völlig überwuchertes Gebiet, auf dessen Nutzung bis 1945 eine polnisch-deutsche Hinweistafel aufmerksam macht. Außerdem kamen wir an einer Kirche vorbei, hinter der der Grabstein für Professor Ernst Henseler steht. Der gebürtige Landsberger, der als Warthebruchmaler berühmt wurde, war 1940 in Berlin verstorben und auf beiden Seiten der Oder völlig in Vergessenheit geraten; nun kann man nicht nur seinen geretteten Grabstein an der Ortseinfahrt nach Gorzów sehen, sondern auch ein ihm gewidmetes Denkmal im Stadtzentrum.
Die Suche nach dem jüdischen Friedhof gestaltete sich langwieriger als geplant und gelang schließlich durch Konsultieren, Kartenlesen, Kombinieren – und Glück. Die beeindruckende Begräbnisstätte, auf Polnisch Kirkut genannt, wurde 1723 das erste Mal erwähnt und liegt in einem Hohlweg zwischen zwei Moränenhügeln. Zahlreiche weitere Informationen erhielten wir vor Ort durch unsere Mitfahrerin Annika Gruhlke, die sich auch mit der Symbolik auf den Grabsteinen beschäftigt hatte.
Durch das Stadtzentrum mit seinen vielen Statuen oder Stadtfiguren führte uns der Regionalhistoriker Robert Piotrowski. Neben dem bereits erwähnten Maler Henseler gibt es auch Denkmäler für auch polnische Größen wie das für den legendären Speedwayfahrer Edward Jancarz, der als zweimaliger polnischer Meister den Gorzówern in Erinnerung geblieben ist.
Vor der Marienkirche, mit deren Geschichte und Ausstattung uns Piotrowski gemeinsam mit unserem Mitfahrer Johannes Hampel vertraut machen, steht der sogenannte Pauksch-Brunnen, den der Landsberger Industrielle Hermann Paucksch im Jahre 1897 stiftete. Seitdem galt er als das Wahrzeichen der Stadt. Während des Zweiten Weltkrieges wurde die Skulptur demontiert und 1945 höchstwahrscheinlich nach Russland verschleppt. Schließlich konnte 1997 dank der Bemühungen der Stadtverwaltung und der ehemaligen deutschen Einwohner der Stadt eine Kopie enthüllt werden.
Unweit der Marienkirche befand sich seit 1350 die erste Synagoge, bis im Jahr 1510 die Landsberger Juden zum ersten Mal aus der Stadt vertrieben wurden. Erst im 18. Jahrhundert siedelten sich wieder Juden in Landsberg an, und nachdem die Gottesdienste zunächst in Privathäusern abgehalten wurden, baute man im ehemaligen jüdischen Viertel Landsbergs 1752 wieder eine Synagoge. Bereits 1854 wurde sie durch einen größeren, im byzantischen Stil errichteten Tempel ersetzt. Am Eingang war eine Inschrift auf Hebräisch und Deutsch angebracht: "Mein Haus ist ein Ort für die Gebete aller Völker." Diese Synagoge fiel den Zerstörungen der Nazi-Pogrome am 9. November 1938 zum Opfer, die letzten Reste entfernte man in den 1950er Jahren.
Robert Piotrowski führte uns abschließend durch den „Park des Völkerfrühlings“ (früher Kaiser-Wilhelm-Park), eine der schönsten städtischen Grünanlagen, die mit dazu beitrug, dass manche polnische Remigranten, die nach dem Zweiten Weltkrieg über die Westgrenze nach Polen zurückkehrten, spontan hierblieben.
Auf der Warschauer Straße (ulica Warszawska) fuhren wir durch ein Viertel mit zahlreichen zum Teil villenartigen Bürgerhäusern der preußischen Zeit Richtung Santok (Zantoch). Dort angekommen, erhielten wir in einer Dia-Präsentation im Muzeum Lubuskie (Lebuser Museum) einen Einblick in den früheren Verlauf der Warthe und die Lage der verschiedenen Burganlagen Burgen, die die jeweilige Herrschaft hier errichtete – Santok war als Grenzfestung zwischen Pommern, Polen und der Mark Brandenburg ein ständig umkämpfter Standort.
Auf dem Schlossberg von Santok, auf dem sich früher die pommersche Burg befand, lebt heute in einem erst vor etwa 80 Jahren errichteten Turm der polnische Künstler Jerzy Gąsiorek, der vor allem Engel aus Holz und verschiedenen anderen Materialien gestaltet – und der auch die sympathische Bar "U Bartosza" in Gorzów eingerichtet hat. In Gorzów gibt es eine Galerie mit seinen Werken.
In der Abenddämmerung überquerten wir die Netze/Notec und kamen nach einigen Kilometern zu unserem letzten Schlafplatz, dem Reiterhof von Andrzej Helman in Nowe Polichno, einem abgelegenen Bauernhof. Beim Lagerfeuer erfuhren wir dann noch wertvolle historische Informationen über die Neumark in den Jahren unmittelbar nach 1945, als die deutschen Bewohner vertrieben wurden und sich polnische Siedler aus Zentral- und Ostpolen hier einrichten mussten – unsere Mitfahrerinnen Christiana Quast und Silke Orth legten anschaulich dar, welche Probleme diese Umsiedlung mit sich brachte, unter anderem die völlige Neu- und Umbenennung von Orten, Straßen, Landschaften.
Nach einem ausgiebigen Frühstück fuhren wir schließlich an zig bewohnten Storchennestern längs der Warthe zrück nach Gorzów, von wo aus wir unseren Zug nach Kostrzyn und weiter nach Westen nahmen.