gehalten am 5. Oktober 2008 im Haus der Berliner Festspiele
Im Jahre 1951 besuchte ein sowjetischer Staatsbürger die Stadt Königsberg. »Was für eine Stadt«, schrieb er. »Die Straßenbahn führt uns durch buckelige und enge Gassen des ehemaligen Königsberg. Ehemalig deshalb, weil Königsberg tatsächlich eine ehemalige Stadt ist. Sie existiert nicht.« Was für Königsberg galt, sollte auch für Ostpreußen gelten. Ein Land, das schon 1945 aufs Schwerste durch Krieg und Verwüstungen gezeichnet war, wurde nach Kriegsende bewusst aus der Erinnerung Europas gelöscht. Von seiner anmutigen Hauptstadt Königsberg, der Geburtsstadt Immanuel Kants, blieb nur eine groteske Ruine übrig. Ostpreußen – nunmehr als Kriegsbeute politisch geteilt – verschwand von der Landkarte. Im polnischen Warmia i Masury, im sowjetrussischen Kaliningradskaja Oblast und im Litauischen Memelland wurden die Polonisierung, die Sowjetisierung, die Litauisierung rasch vorangetrieben. Von der deutschen Siedlungsgeschichte und von der kulturellen Vielfalt des Landes zwischen Weichsel und Memel durfte nichts übrig bleiben.
Durch diesen Ausradierungsprozess erhielt das Schicksal der Menschen Ostpreußens eine existentielle Tiefendimension. Kaum ein anderer Teil des einstigen Deutschen Reiches erlitt so hohe Menschenverluste wie Ostpreußen – bis zum Ende des Krieges war ein Fünftel seiner fast 2,5 Millionen Einwohner (darunter über 300.000 Zivilisten) schon gestorben. Mit dem Ende des Krieges fing jedoch ein neuer Überlebenskampf an. Das Massensterben – an Hunger, Typhus und Gewalt – ging weiter; dazu kamen die Schikanierungen durch neue Behörden, der systematische Abbau der kulturellen Infrastruktur, schließlich die etappenweise Verschleppung und Abtransportierung, die bis weit in die 1950er Jahre andauerte.
Nach dem Leiden kam das Schweigen. Im Nachkriegsdeutschland war die Erinnerung an Ostpreußen inopportun. In der DDR wurde das öffentliche Erinnern an die verlorene Heimat im Osten untersagt und als »Revanchismus« gebrandmarkt. In Ostberlin wurden sogar die Straßen, die an ostpreußische Orte wie Bartenstein, Allenstein und Goldap erinnerten, zugunsten kommunistischer Kämpfer umbenannt. Auch in der Bundesrepublik gehörte es zum guten Ton, von dem Verlust der Ostgebiete und dem Leiden der Vertriebenen wegzuschauen. Damit wurde gewissermaßen die Aufgabe der Aufarbeitung dieses Traumas den Rechten überlassen. Die Erinnerung selbst wurde politisch anrüchig. Für die Vertriebenen, die im Nachkriegsdeutschland ihr Leben von Neuem anfangen mussten, erschwerte dieser Tatbestand die Bewältigung des Geschehen en ungemein. »Niemals«, bekannte Günther Grass selbstkritisch in seinem Roman im krebsgang, »hätte man über so viel Leid, nur weil die eigene Schuld übermächtig […] gewesen sei, schweigen, das gemiedene Thema den Rechtsgestrickten überlassen dürfen. Diese Versäumnis ist bodenlos.«
Andreas Kossert ist gewiß nicht der Erste, der es gewagt hat, dieses heikle Thema anzugehen. Sein Buch beleuchtet die Geschichte Ostpreußens jedoch aus einer vollends neuen Perspektive. Ihm geht es eben nicht um versunkenes »deutsches Erbe«, sondern um Ostpreußen als einen Raum der kulturellen und ethnischen Vielfalt, ein Land, dessen Geschichte von Hugenotten, reformierten Glaubensflüchtlingen aus Hessen-Nassau und dem Siegerland, Schweizern aus Neuchâtel, schottischen Kalvinisten, polnischen und Salzburger Protestanten, Litauen, Letten und russischen Philipponen geformt wurde. Denn Ostpreußen war mitnichten das »Bollwerk des Deutschtums im Osten« – dieses Klischee wird von Kossert mitsamt vieler anderer Mythen geschickt demoliert –, sondern eine Schnittstelle mehrerer Welten. Was sich aus diesem Ansatz ergibt, ist eine lebendige Kulturgeschichte, reich an Kontakten, Wahrnehmungen und Verflechtungen, aber auch an Mißverständnissen, Vorurteilen und Zusammenstößen.
Kosserts vortreffliches Buch weist die üblichen Kardinaltugenden der historischen Zunft auf – der Verfasser ist immer auf der Höhe der Forschung (auch der polnischen), die Materie ist straff gegliedert und einprägsam dargestellt, die Analysen sind klug, nuanciert und aufschlussreich. Was an diesem Buch den Leser am meisten besticht, sind jedoch andere Vorzüge, die gerade für dieses umkämpfte Thema besonders wichtig sind. Erstens versteht es Kossert, die Geschichte Ostpreußens nicht vorrangig als Ereigniskette darzustellen, sondern als Zusammenspiel der gegenseitigen Wahrnehmungen. Denn die Geschichte Ostpreußens ist nicht zuletzt die Geschichte seiner Mythen, ob sie deutscher, polnischer, russischer oder litauischer Inspiration entstammen. Durch die dialektische Verflechtung von Mythos und Geschichte gewinnt der Text nicht nur eine anregende Dynamik, sondern auch eine beachtliche Tiefe der Reflexion.
»Kossert nähert sich seinem Thema ohne Vorbehalte, ohne Apologetik, und ohne die süßliche Nostalgie, die für die Ostpreußenliteratur des späten 20. Jahrhunderts noch prägend war.«
Christopher Clark
Hinzu kommt Kosserts feines Gefühl für das Individuelle an den Menschen und Orten Ostpreußens. Denn es geht ihm nicht nur um den grand récit der Ostpreußischen Geschichte, sondern auch – in Theodor Fontanes Worten – um die »Belebung des Örtlichen«, um die endlose Vielfalt der Stimmen und Situationen. Sehr auffallend an diesem Buch – sowie auch an Kosserts vielbeachteter Studie zu Masuren – ist der innovative Gebrauch von Bildmaterial. Dieses wird nicht eingesetzt, wie bei den meisten Geschichtsbüchern, um den Text zu »illustrieren«, sondern bildet gewissermaßen einen begleitenden Metatext, in dem einerseits die sichtbaren Überbleibsel der Erinnerung und andererseits das spezifische Antlitz von verschollenen Lebenswelten den Lesenden vor Augen geführt werden. Besonders gefreut hat mich die Aufnahme eines bärtigen Kuren auf der Nehrung, der im Begriff ist, eine Krähe für die abendliche Mahlzeit durch einen Biss in den Hals zu töten. Dazu zitiert Kossert den weltbekannten zeitgenössischen Ornithologen Johannes Thienemann: »Nun gebe ich ohne weiteres zu, daß es ästhetischere Anblicke gibt als einen Krähen beißenden Nehrungsmenschen, aber diese eigenartige Sitte der Eingeborenen ist doch ein Stückchen Urwüchsigkeit, die der modernen Zeit leider immer mehr verloren geht…«. Kosserts Gefühl für das Ur wüchsige verleiht diesem Buch einen ganz besonderen Charme.
Schließlich fallen an dieser Darstellung – was für die Problematik der Ostgebiete besonders bedeutend ist – die Unbefangenheit des Blickes und die Gerechtigkeit des Urteils auf. Kossert nähert sich seinem Thema ohne Vorbehalte, ohne Apologetik, und ohne die süßliche Nostalgie, die für die Ostpreußenliteratur des späten 20. Jahrhunderts noch prägend war. Er spricht sowohl von dem Unrecht der »Germanisierung« und den Verbrechen des Nationalsozialismus wie auch von dem Leid der Verwaisten und Vertriebenen. Das sind Phänomene, die, wenn sie auch kausal verkettet sind, einander jedoch nicht ausgleichen. Nirgends ist die Humanität des Ansatzes deutlicher zu erkennen, als in Kosserts einfühlsamer Darstellung der jetzigen Bewohner Ostpreußens in ihrem Umgang mit der Geschichte des Landes. Denn auch für die Polen, Russen und Litauer, die heute dort wohnen, ist die Aufarbeitung der Geschichte Ostpreußens ein moralisches und menschliches Bedürfnis.
Zurecht wird Andreas Kossert heute mit dem Georg Dehio-Buchpreis ausgezeichnet. Ich gratuliere ihm herzlich dazu. Mit diesem wunderbaren Buch hat er nicht nur ein Stück erstklassiger Geschichtsschreibung geliefert, sondern ein großes Erinnerungswerk vollbracht.