Aufführung des Schauspielstudios Ústí nad Labem/Aussig im Rahmen des Prag-Berlin-Festivals am 16. Juni 2003 im Kesselhaus der Kulturbrauerei Berlin
Tanja Krombach
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»Der Wald der Wildsäue« •

In den »Wald der Wildsäue« kommen Siedler aus Sachsen, in den »Wald der Steinböcke« kommen Siedler aus Bayern, bebauen und zivilisieren die vorher leere Bühne, beschimpfen sich in verballhornten obersächsischen und bayrischen Dialekten und sind gegenüber den einheimischen Tschechen, deren Sprache sie nicht verstehen, »stumm« (němý), also němci (»Deutsche«). So beginnt die Geschichte der Deutschen in Böhmen in der Aufführung des Schauspielstudios (Činoherní studio) Ústí nad Labem (Aussig). Der »Wald der Wildsäue« ist eine alte Bezeichnung für die Sudeten, der »Wald der Steinböcke« für den Böhmerwald. Das Stück ist eine Dramatisierung des 1992 publizierten Romans Cejch (Zeichen) von Zděnek Šmíd, der im selben Jahr unter dem Titel Unterm Mittagsstein. Geschichte einer Familie auf Deutsch erschien. Šmíd war einer der ersten tschechischen Autoren, der mit seiner differenzierten Darstellung des jahrhundertelangen Zusammenlebens von Deutschen und Tschechen das unter dem kommunistischen Regime von einseitiger Propaganda beherrschte bzw. tabuisierte Thema literarisch verarbeitete. Unterm Mittagsstein ist die Chronik einer sudetendeutschen Familie von den Zeiten der Pest und des Dreißigjährigen Krieges bis zur Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg. Šmíd thematisiert in der Geschichte eines abgelegenen deutschen Dorfes auf der tschechischen Seite des Erzgebirges die durch den Nationalismus zerstörten Beziehungen zwischen Deutschen und Tschechen. Die Dramaturgin Lenka Havlíková verdichtete die Romanvorlage für das Theater auf einzelne Episoden und Momentaufnahmen, der Regisseur David Czesany brachte es im epischen Theaterstil auf die Bühne. Kommentiert wird die Handlung aus der Sicht des unglückseligen 20. Jahrhunderts vom Erzähler Josef, dem Sohn einer deutschen Mutter und eines tschechischen Vaters, der in seiner Kindheit die Besetzung, das Protektorat und schließlich die Vertreibung seiner deutschen Verwandten erlebt. Das Stück spielt mit tschechischen Klischees von den Deutschen – etwa wenn alle Dorfbewohner »Alle meine Entchen« singen oder alberne schuhplattelnde Volkstänze aufführen – und zeigt, dass es auf beiden Seiten Gut und Böse gab. Der tschechische Nazi-Kollaborateur mutiert zum Anführer der Revolutionsgarden, die 1945 willkürlich raubend und mordend durch die sudetendeutschen Dörfer zogen. Die Armbinde mit dem Hakenkreuz wird gewendet zum Abzeichen »RG« und so verwandeln sich dieselben Schauspieler von SS-Schergen in Revolutionsgardisten. Die historische Objektivität wird dabei jedoch gewahrt und im Mikrokosmos des Dorfes gespiegelt: Die meisten Einwohner wollen sich nicht als tschechoslowakische Bürger verstehen (eine der weiblichen Familienangehörigen fragt: »Tschechen? Ich habe hier noch nie einen Tschechen gesehen. Ihr vielleicht?«) und fühlen sich als Angehörige der zweitgrößten Volksgruppe vom Staat benachteiligt. Der im Ersten Weltkrieg versehrte Familienvater, der noch im Namen des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn gekämpft hat, möchte nur sicher sein, dass ihm auch die neue Regierung seine Pension zahlt, dann arrangiert er sich mit diesem gern. Der Sozialdemokrat versucht, zwischen den beiden Volksgruppen zu vermitteln. Deren Auseinandersetzungen wird durch eine Wirtshausschlägerei männlicher Dorfbewohner mit zwei tschechischen Wachmännern auf der Bühne ganz konkret. Zwischen den Stühlen sitzt das tschechisch-deutsche Paar mit seinem Sohn Josef, weder von der deutschen noch von der tschechischen Umgebung wirklich akzeptiert.

Auch wenn es die deutschen Medien zur Zeit kaum wahrnehmen, gibt es in Tschechien seit der Samtenen Revolution immer mehr Menschen, die sich ein differenziertes Bild von der gemeinsamen deutsch-tschechischen Geschichte in Böhmen und Mähren machen. Dies betrifft gerade Grenzregionen wie um Ústí nad Labem. Sie haben sich von der Vertreibung der Deutschen und der damit einhergehenden Zerstörung einer in Jahrhunderten aufgebauten Infrastruktur oft bis heute nicht erholt. Hier begeben sich zunehmend besonders jüngere Leute auf die Suche nach der Geschichte ihrer Heimat oder auch ihrer Vorfahren, die mit den ehemaligen deutschen Landsleuten untrennbar verbunden ist. Das Stück endet mit einem ins Publikum gesprochene Appell des tschechisch-deutschen Chronisten Josef an die Europäer, sich doch im »Wald der Wildsäue«, also in den nordböhmischen Grenzgebieten, anzusiedeln und hier Häuser zu bauen, um die durch die Vertreibung in Trümmern liegende Region wiederzubeleben.

Die Inszenierung ist fesselnd und die Leistung der Schauspieler, die sicher von Rolle zu Rolle und von Jahrhundert zu Jahrhundert wechseln, beeindruckend. Das Stück wurde bereits 1996 uraufgeführt und eröffnete das vom Schauspielstudio Ústí nad Labem 1997 veranstaltete gleichnamige Festival »Der Wald der Wildsäue«, dessen Hauptthema in jenem Jahr das Zusammenleben von Tschechen und Deutschen im Sudetenland war. Das Činoherní studio Ústí nahm sich auch früher schon politisch schwieriger Themen an. In den siebziger und achtziger Jahren war das Theater ein Refugium für bedeutende, bei der kommunistischen Regierung ungelittene Regisseure, Autoren, Übersetzer und Schauspieler, die in Prag nicht mehr wirken durften. Das Theatergebäude wurde 2002 von der Flut schwer beschädigt, weshalb das Ensemble zur Zeit unter Behelfsbedingungen arbeiten muss und vorwiegend bei Gastspielen auftritt. Dem Prag-Berlin-Festival und seinem Organisator Dusan Robert Parisek ist es zu verdanken, dass diese für das Verständnis zwischen Deutschen und Tschechen so wichtige Inszenierung dem Berliner Publikum vorgestellt wurde. Man hätte sich allerdings mehr deutsche Besucher gewünscht und auch eine größere Resonanz in den Medien, die sonst keine Gelegenheit auslassen, über die so genannten Beneš-Dekrete und die angeblich aufgrund der unbewältigten gemeinsamen Vergangenheit so krisenhaften Beziehungen zwischen Deutschland und Tschechien zu berichten.

  • »Wald der Wildsäue«

    Das Schauspielstudio Aussig/Činoherní studio Usti nad Labem gastiert beim Prag-Berlin-Festival