Radek Fridrich bewahrt die Stimmen der Toten
Erik Tabery
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Übersetzung aus dem Tschechischen: Tanja Krombach

Schon seit sechs Jahren fährt Radek Fridrich aus Děčín (Tetschen-Bodenbach) immer wieder mit dem Fahrrad über die nordböhmischen Hügel, um hier die zerstörten Gräber der Sudetendeutschen zu dokumentieren. Als sie vor 58 Jahren aus ihren Häusern vertrieben wurden, ließen sie nicht nur ihre Höfe und ihr Eigentum zurück, sondern auch ihre bestatteten Vorfahren. Während der kommunistischen Herrschaft kümmerte sich niemand um ihre Friedhöfe und so verschwanden einige gänzlich oder verloren sich halb verfallen unter Sträuchern und Gräsern. Auch nach der Samtenen Revolution wurden sie nicht instand gesetzt. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann sie definitiv von der Erdoberfläche verschwinden. Der einzige Beweis ihrer Existenz wird dann vielleicht Fridrichs Datenbank sein.

Aus dem Haus herausgetragen

Aus dem Zweihundert-Seelen-Dorf Růžová (Rosendorf) windet sich ein kleiner enger Weg, bedeckt mit Laub aus dem vorigen Jahr. Nach einigen hundert Metern wird zwischen Bäumen eine halb verfallene Mauer sichtbar. Wer auf das Gelände hinter ihr gelangt, stößt nach einer Weile auf einige Steine. Erst bei genauerem Hinsehen bemerkt man, dass in sie etwas eingraviert ist. Lesbar sind nur zwei Wörter: »Hier« und »Kessler«. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass hier Herr oder Frau Kessler ihre letzte Ruhe fanden. Der Umriss des Grabes ist erst zu erkennen, nachdem man das Gras ausgerupft hat. Genau aus der Mitte wächst ein gewundener Baum heraus. »Das habe ich hier ganz zufällig gefunden«, erzählt Fridrich (34). »Ich bin hier mit dem Rad vorbeigefahren und zuerst ist mir noch nicht einmal in den Sinn gekommen, dass das eigentlich ein Friedhof ist. Jedes Mal wenn ich hierher zurückkehre, ist es noch ein bisschen schlimmer. Entweder es ist ein weiteres Stück der Mauer geborsten oder jemand gräbt hier einen der übrig gebliebenen, noch stehenden Grabsteine aus.«

Der Bohemist, der an der pädagogischen Fakultät in Ústí nad Labem (Aussig) lehrt, begann mit seiner Wanderung über solche Orte vor sechs Jahren. »Damals war ich mit meiner Familie im Urlaub in dem nordböhmischen Dorf Větrov (Schreckenwald). Dort habe ich ein kleines Denkmal für die Ortsbewohner, die im Ersten Weltkrieg umgekommen sind, entdeckt«, berichtet Fridrich. »Die Namen der Gefallenen konnte man kaum mehr entziffern und das hat mich gefesselt. Ich begann über ihr Schicksal und das spätere Vergessen nachzudenken.« Den fragmentarischen Erzählungen der Bewohner des Dorfes, in dem heute nur noch einige Bauernhäuser stehen, entnahm er dann, dass vor dem Krieg mehr als hundert Höfe in Větrov existierten. Der Volkszählung von 1921 nach lebten hier 380 Deutsche und fünf Tschechen. Fridrich entschied sich ganz spontan, die Namen der Gefallenen aufzuschreiben. Und bei Spaziergängen durch weitere Dörfer wurde ihm dann bewusst, dass es eine Menge deutsche Denkmäler und Friedhöfe gibt. Alle haben sie eines gemeinsam: ihre absolute Zerstörung.

Weil sich Fridrich auch dem Schreiben von Poesie widmet, waren die Wanderungen über verlassene und zerstörte Friedhöfe für ihn zunächst eher eine nostalgische Inspiration. Die Namen der Bestatteten riefen in ihm Vorstellungen hervor, die er dann in seinen Textsammlungen notierte. »Und dann stieß ich an die Grenzen der Lyrik. Es ist schwer zu erklären, aber beim Besuch solcher zerstörten Orte kommt es Ihnen in den Sinn, dass wertvoller als die Poesie einfach das Abschreiben der Namen sein könnte – von Grabsteinen, die vielleicht einen Monat später schon nicht mehr existieren. Poesie, die auf historischen Tatsachen beruht, schuf er vor allem in seinen zwei erfolgreichen Büchern Die Stimme der Toten (Řeč mrtvejch) und Erzherz. Im ersten der beiden stellte er kurze Begebenheiten zusammen, die die Mitglieder der bereits erwähnten Gemeinde Růžová in den dreißiger Jahren dem deutschen Holzschnitzer Walter Buh bei seinem Besuch im Dorf erzählten. »Sohn einer armen Familie. Mit neun Jahren verlor er den Vater. Mit 26 Jahren übernahm er das väterliche Haus und heiratete. Steuermann einer Fähre. Mit 55 Jahren brannte ihm das Haus ab, aus dem er bewusstlos hinausgetragen wurde«, steht bei dem Portrait eines gewissen Florian Kessler. Vielleicht ist das gerade der Kessler, dessen Name immer noch auf dem Grabstein des Friedhofs von Růžová lesbar ist.

Radek Fridrichs Großmutter ist eine Sudetendeutsche, die der Aussiedlung dank ihrer Ehe mit einem Tschechen entging. Heute lebt sie in Děčín, nur ein paar Meter von der Wohnung ihres Enkels entfernt. Über die Vertreibung und darüber, was ihr vorangegangen war, sprechen sie nicht viel miteinander. »Für sie ist es eine sehr schmerzhafte Erinnerung. Noch nicht einmal über meine Dokumentation der Friedhöfe unterhalten wir uns«, sagt der Bohemist. »Aber ich nehme an, dass sie sich darüber freut.«

Bis es mich fast umwirft

Das gelegentliche Abschreiben von den Grabsteinen wurde für Fridrich allmählich zu einer systematischen Arbeit. Mittlerweile geben ihm schon seine Bekannten Hinweise, wo sie bei ihren Reisen auf Friedhöfe mit deutschen Namen gestoßen sind. Manchmal ist die Nachforschung nach Friedhöfen wie ein Abenteuer. Vor einem Jahr zum Beispiel erhielt Fridrich einen Tipp bezüglich eines Friedhofs auf einem der Hügel in der Nähe von Děčín, aber bis jetzt ist es ihm noch nicht gelungen, ihn ausfindig zu machen. Ihre Gräber mussten die Deutschen mancherorts an die Tschechen abtreten. Die ursprünglichen Grabsteine wurden dann weggeworfen oder die neuen Interessenten an der Stätte gruben einfach die Knochen der Toten aus, fuhren sie auf die Müllhalde und auf den »gesäuberten« Grabsteinen erschien ein neuer Name. Die Verdrängung der Gräber der Deutschen ist zum Beispiel sehr gut in der Gemeinde Janov hinter Růžová nachzuvollziehen. Die Mitte des schön hergerichteten Friedhofes ist fast ausschließlich tschechisch, während sich in den abgelegenen Teilen noch ein paar zugewachsene deutsche Gräber befinden. Hinter der Friedhofsmauer liegen herausgerissene Grabsteine herum. Hier endete zum Beispiel auch die Familie Bienert, die an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert beerdigt wurde, oder Franz Uhmann, der im Winter 1934 starb.

Auch diese Namen befinden sich in Fridrichs Verzeichnis. Er hat schon einige Hefte vollgeschrieben, in denen Grundrisse der Friedhöfe sowie die Namen und Lebensdaten der Verstorbenen festgehalten sind. Er geht so ähnlich vor wie sein Landsmann Jaroslav Haidler, der die vergessenen letzten Ruhestätten der böhmischen Juden dokumentiert. »Natürlich kennen wir uns. Er ist aber verglichen mit mir ein ausgezeichneter Fachmann. Er widmet dieser Aufgabe viel mehr Zeit und hat einen besseren Überblick«, sagt Fridrich lächelnd. Die interessantesten Grabplatten bringt er durch die so genannte Frottagetechnik mit Tusche auf ein Blatt Papier. »Hier und dort passiert es, dass ich irgendeinen Ablageplatz finde, auf den Grabplatten geworfen wurden. Dann überkommt es mich und ich verstaue einen in meinem Rucksack, der mich fast umwirft. Ich nehme ihn mit nach Hause, wo ich ihn archiviere.« So beschreibt Fridrich seine unregelmäßige, aber interessante Arbeit. Seine Notizen und Verzeichnisse überträgt er dann in den Computer. »Ich weiß zwar nicht, ob das irgendwann jemandem dienlich sein wird, aber ich habe das Gefühl, dass ich das tun muss. Es ist, als würde ich Zeugnis über meine Heimat ablegen.«