Reinhard Jirgl las am 8. Mai 2003 in der Berliner Buchhandlung am Nonnendamm aus seinem neuen Roman Die Unvollendeten
Tanja Krombach
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Passend zum Jahrestag der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands und damit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa veranstaltete die Siemensstädter Buchhandlung am Nonnendamm eine Lesung mit Reinhard Jirgl, der aus seinem viel beachteten neuen Roman Die Unvollendeten vortrug. Das Buch schildert die Erlebnisse von vier sudetendeutschen Frauen, letzte Mitglieder ihrer Familie nach 1945: die siebzigjährige Johanna, deren Töchter Hanna und Maria sowie die siebzehnjährige Enkelin Maria. Die Handlung setzt ein mit ihrer wilden Vertreibung durch die Tschechen aus der Kleinstadt Komotau/Chomutov und endet im Berlin der Gegenwart, wo Johannas Urenkel Reiner lebt. Dazwischen liegt das Leben der Frauen als Flüchtlinge in der sowjetischen Besatzungszone, in der DDR und im wiedervereinigten Deutschland. In konzentrierter Form und Sprache erzählt Jirgl in seinem Werk davon, wie die Erfahrungen des Heimatverlustes sich bis in das Denken und Fühlen Reiners, des Nachgeborenen, fortpflanzen, etwa in

„dieser ver!fluchten Bescheidenheit … die ich von diesen Flüchtlingen geerbt hatte wie nen seelischen Buckel.“

Die Ereignisse werden aus seiner Perspektive erzählt – im Stil der immer wieder gehörten, unmittelbar mitgeteilten Familiengeschichten. Die Erlebnisse der Frauen rücken dicht an den Leser heran. Dies erreicht Jirgl durch die Verwendung von Umgangssprache und den eigenwilligen Einsatz typographischer Elemente und Interpunktion, wodurch er dem Text eine geradezu körperliche Dimension und Expressivität verleiht:

„Später rückten Lautsprecherwagen in die Ortschaft ein, danach Miliz. Zuerst, u wie in Früherenzeiten vor der-Pest, drangen von-Überall-her die Warnschreie menschlicher Stimmen an : !Heutmorgen sind Viele schon erschlagen & erschossen worden –.– In der kleinen Stadt Komotau im Sudetenland wurden seit Stunden Straßen & Gassen mit immerdenselben Durchsagen in tschechischer Sprache beschallt.

30 MINUTEN ZEIT – MIT HÖCHSTENS 8 KILO GEPÄCK PRO PERSON – AM BAHNHOF SICH EINZUFINDEN – DIEJENIGEN, DIE GEGEN DIESEN BEFEHL VERSTOSSEN, WERDEN NACH DEN KRIEGSGESETZEN BESTRAFT –

Und war nach-Kriegsende der Beginn jener Wilden Vertreibungen.....

Die beiden Geschwister, Hanna u Maria mitsamt ihrer Mutter Johanna, gehörten zur deutschstämmigen Bevölkerung im ehemaligen Sudetengau; die Schallscherben von den Lautsprecherwagen galten an diesem Morgen auch für !sie.“

Den Erzähler und auch den impliziten Leser beschrieb Jirgl in seiner Einführung zur Lesung als „mitfühlenden und mitdenkenden Archivbesucher“, wobei es ihm auch auf die Reihenfolge der Adjektive ankam. Wichtig sei ihm die Mehrdeutigkeit, die „Zwielichtigkeit in der Atmosphäre“, wie er es nannte, eine andere Methode, die bessere Ergebnisse bringen könne als die sich ihrer selbst sicheren moralische Betrachtungsweise.

Das Thema Flucht und Vertreibung taucht schon in früheren Werken des mehrfach ausgezeichneten Schriftstellers wie im Mutter Vater Roman oder in Abschied von den Feinden auf. Es klingt immer dann an, wenn es um die Herkunftsbestimmung der Figuren geht. Jirgl selbst ist Nachkomme sudetendeutscher Flüchtlinge. In seinem Werk Die Unvollendeten macht er die ihm immer wieder mitgeteilten Familienerfahrungen nun erstmals zum Hauptthema.

Jirgl widersprach der allgemein gängigen Darstellung, bei den Themen Vertreibung und der Geschichte der Deutschen aus dem östlichen Europa habe es sich in der DDR um ein Tabu-Thema gehandelt. Es sei eher ein „ungelittenes Thema“ und dadurch noch versperrter gewesen als ein Tabu, das man als Zeichen des Widerstands hätte brechen können.

Während der jüngere Jörg Bernig, wie Jirgl in der DDR aufgewachsener Nachkomme sudetendeutscher Vertriebener, die Erzählungen seiner Familie in seinem Nachkriegsroman Niemandszeit zu einer deutsch-tschechischen Versöhnungsgeschichte verarbeitet, bleibt Die Unvollendeten in der sudetendeutschen Perspektive. Was den Vertreibungen voranging, scheint nur in einzelnen Passagen auf:

„Hitler war für sie [Hanna] Ein Verbrecher – ihm, dem Unerreichbaren Toten, die Schuld am Verlust ihrer Heimat: Noch den Leichnam hätt man vierteilen müssen –, aber: Er war immer=hin DIE-OBRIGKEIT..... Und Die setzt RECHT & ORDNUNG.“

Jirgl geht es nicht um eine Versöhnungsperspektive, ja er meint sogar, dass man sich vor „Versöhnung“ hüten solle, sie stelle nur die andere Seite der Aufrechnung dar.

Auf die Frage, warum er den Roman über Flucht und Vertreibung gerade jetzt veröffentlicht habe, erwähnte Jirgl sein Gespräch mit dem britischen Schriftsteller Nicholas Shakespeare, das für ihn als Auslöser gewirkt habe. Shakespeare habe ihn gefragt, warum es so wenige Familienromane deutscher Autoren aus Jirgls Generation gebe. Reinhard Jirgl beschloss daraufhin, aus seinem ursprünglich als Erzählung konzipierten Text einen Roman zu machen.

Jirgl reagierte abweisend auf die Frage, ob er denn Komotau schon einmal besucht habe. Während der Arbeit an seinem Roman habe er sich bewusst nicht mit dessen realen Schauplätzen oder den historischen Umständen befasst. Erst nach Vollendung seines Werks beschäftigte er sich ausgiebig mit der neueren geschichtswissenschaftlichen Literatur über die Sudetendeutschen. Abschließend gefragt nach seinem Interesse an der Herkunftsregion seiner eigenen Familie, grenzte Jirgl sich deutlich von anderen Nachkommen Sudetendeutscher ab, die sich demonstrativ auf Spurensuche in „ihre Heimat“ begeben.

Reinhard Jirgl: Die Unvollendeten. Geb., 256 S. München/Wien: Hanser, 2003. ISBN 3-446-20271-4.