Bericht über eine Podiumsdiskussion mit Hans Christoph Buch, Jiří Gruša, Pavel Kohout und Hans Lemberg am 7. Mai 2003 in der Tschechischen Botschaft Berlin
Benjamin Schenk
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Die Europäische Union steht vor der größten Erweiterungsrunde in ihrer Geschichte. Zehn neue Mitglieder werden im kommenden Jahr der Staatengemeinschaft beitreten. Der bevorstehenden „Ost-Erweiterung“ widmet der Deutschlandfunk in diesem Jahr einen eigenen Programmschwerpunkt. Unter der Überschrift „10 plus – ein Europa. Nahaufnahmen aus den Beitrittsländern“ steht in jeder ersten Monatswoche eines der künftigen Neumitglieder im Mittelpunkt der Programmgestaltung. Vom 3. bis 9. Mai bildete Tschechien den Schwerpunkt der Sendereihe.

Im Rahmen dieses Schwerpunkts lud der Deutschlandfunk gemeinsam mit der Botschaft der Tschechischen Republik und der Europäischen Kommission am 7. Mai 2003 zu einer Podiumsdiskussion zum Thema „Krieg, Flucht und Vertreibung in Europa: das unterschiedliche Erinnern und die Lehren für die Zukunft“. Über die Unterschiede im Umgang mit den traumatischen Ereignissen der neueren europäischen Geschichte diskutierten unter der Leitung von Dr. Günter Müchler, Programmdirektor des Deutschlandfunks, Dr. Jiří Gruša, Schriftsteller und Botschafter der Tschechischen Republik in Österreich, die Schriftsteller Pavel Kohout und Dr. Hans Christoph Buch sowie der Historiker Prof. Dr. Hans Lemberg, Mitglied der Deutsch-tschechischen Historikerkommission.

Hätte sich Václav Havel Anfang der neunziger Jahre um das Amt des deutschen Bundespräsidenten beworben, hätte er gute Chancen gehabt, gewählt zu werden. Kurz nach der „Wende“ in Ostmittel- und Osteuropa und dem Fall des Eisernen Vorhangs war der Schriftsteller, Dissident und Präsident in Deutschland beliebter als manch deutscher Politiker. Auch um die deutsch-tschechischen Beziehungen war es kurz nach 1989 gut bestellt. Heute bietet sich dem Betrachter ein anderes Bild. Anders als die guten Beziehungen zwischen Deutschland und Polen ist das deutsch-tschechische Verhältnis durch den schwierigen Dialog über die jüngere Vergangenheit beider Staaten belastet. Mit diesen Hinweisen erinnerte der Historiker Hans Lemberg daran, dass die kontroverse aktuelle Debatte um die so genannten Beneš-Dekrete nicht als Ausdruck eines seit langem verstimmten Tons zwischen den beiden Staaten interpretiert werden sollte. Er wies darauf hin, dass „Flucht und Vertreibung“ kein spezifisch „deutsch-tschechisches“ Thema sei, sondern ein Phänomen der Geschichte vieler europäischer Länder und Völker des 20. Jahrhunderts. Nach 1918, als sich nach dem Fall der großen Imperien der Nationalstaat als Ordnungsprinzip der europäischen Landkarte durchsetzte, sei die Idee der „ethnischen Homogenität“ und des „population exchange“ in vielen Ländern als Heilmittel für Minderheitenfragen gesehen worden. Allein der Völkerbund habe verhindert, dass es in Europa vor 1938­ mit Ausnahme des Völkermordes der Türken an den Armeniern 1915/16 ­zu massenhaften „ethnischen Säuberungen“ gekommen sei. Die Schwierigkeiten vieler Tschechen, sich kritisch mit der Geschichte der Vertreibung (bzw. dem „Abschub“ (tschech. odsun), wie man in Tschechien sagt) der Deutschen aus der Tschechoslowakei nach 1945 auseinander zu setzen, versuchte Lemberg im Vergleich mit der etwas anders gelagerten Situation in Polen zu erklären. Anders als Polen, das nach 1945 auf der politischen Landkarte nach Westen „verschoben“ wurde und selbst zahllose Vertreibungsopfer zu beklagen hat, sehen sich viele Tschechen heute im Dialog mit Sudetendeutschen in die Rolle der Täter gedrängt, während die andere Seite für sich die Rolle der Opfer reklamiere.

Der Schriftsteller und Botschafter der Tschechischen Republik in Österreich Jiří Gruša, betonte, dass ein offener und freundschaftlicher deutsch-tschechischer Dialog erst dann möglich sei, wenn beide Seiten lernten, die Opfer des Zweiten Weltkriegs und seiner Folgen als gemeinsame Verluste zu beklagen. Nur mit der Haltung „schenkender Tugend“ könnten alte Wunden geheilt und Ressentiments überwunden werden. Gruša erinnerte daran, dass es die Bundesregierung versäumt habe, mit einer symbolischen Geste – wie dem Kniefall Willy Brandts in Warschau 1970 – die Tschechen um Vergebung für erlittenes Leid in der Zeit des Nationalsozialismus zu bitten. Gleichzeitig betonte er, dass die Aufarbeitung der „dunklen Kapitel“ der tschechischen Geschichte in seinem Land Zeit brauche. Über vierzig Jahre habe ein „nationalistischer Sozialismus“ in der ČSSR die kritische Auseinandersetzung mit dem „Abschub“ der deutschen Landsleute nach 1945 behindert. Auch in Deutschland oder Frankreich habe sich die Fähigkeit, sich zu den dunklen Kapiteln der eigenen Geschichte zu bekennen, erst langsam entwickelt. In Tschechien werde sich bald ein Schriftsteller finden, der sich des heute noch tabuisierten Themas annehmen und einen Roman über die Vertreibung der Deutschen verfassen werde.

Auch der Schriftsteller Pavel Kohout erinnerte daran, dass die tschechische Debatte über die „Beneš-Dekrete“ erst zwölf Jahre alt sei. Während das Geschichtsverständnis vieler Sudetendeutscher erst mit dem Jahr 1945 beginne, könne man in Tschechien heute eine lebendige Debatte über die Fragen der Zeitgeschichte beobachten. Kohout räumte ein, dass sich viele Tschechen nach 1945 nicht als „edle Sieger“ verhalten und durch ihr brutales Verhaltenen gegenüber den deutschen Landsleuten Schuld auf sich geladen hätten. Auf der anderen Seite wies er jedoch darauf hin, dass die deutsche Seite die „Beneš-Dekrete“ – die die Grundlage für die tschechoslowakische Nachkriegsordnung bilden und von denen sich nur zwei von über 150 auf die „Ausbürgerung der Staatsbürger deutscher Nationalität“ beziehen – als „historisches Faktum“ akzeptieren müsse, das sich nicht mehr ändern lasse.

Enttäuscht von der tschechischen Weigerung, offen über die „Beneš-Dekrete“ zu sprechen, zeigte sich der Schriftsteller Hans Christoph Buch. Er warnte vor der Gefahr, kollektive Identität allein auf einen Opfermythos zu gründen. Wie Lemberg betonte er, dass die Vertreibung der Deutschen aus dem östlichen Europa nach 1945 im Kontext der Geschichte ethnischer Säuberungen im 20. Jahrhundert gesehen werden müsse. Gleichzeitig sei sie auch eine Folge der verbrecherischen NS-Politik. Die Renaissance der Debatte über das Thema „Vertreibung“ in der Bundesrepublik heute erklärte er zum einen mit der Gegenwart ethnischer Säuberungen in Südosteuropa in den neunziger Jahren, zum anderen mit der breiteren Diskussion über die Deutschen als Opfer im Zweiten Weltkrieg, etwa bei der Zerstörung deutscher Städte 1944/45 durch alliierte Luftschläge. Signalwirkung habe für viele linke Intellektuelle, die früher aus Angst vor „Beifall aus dem falschen Lager“ das Thema gemieden hätten, auch die Novelle Im Krebsgang von Günter Grass gehabt. Mit Blick auf die belasteten deutsch-tschechischen Beziehungen brachte Buch seine Enttäuschung zum Ausdruck, dass in den aktuellen Debatten die Idee eines zivilgesellschaftlich orientierten „Mitteleuropa“ völlig verschwunden sei. Die Idee, die in den achtziger Jahren viele Dissidenten in Ostmitteleuropa und Intellektuelle im Westen miteinander verbunden habe, könne auch heute helfen, Visionen für eine gemeinsame Zukunft zu entwickeln.