Beitrag über das Potsdamer Forum „Russlanddeutsche heute“

RADIOkultur (SFB/ORB), Journal, 28.02.2003, 17:05–18:00 Uhr, Ulrike Lückermann

... regelrechte Auswanderungswelle nach Russland. Im so genannten Einladungsmanifest versprach sie Privilegien wie Religionsfreiheit, Befreiung vom Militärdienst, Steuerfreiheit und Selbstverwaltung. Tausende Familien aus Hessen, Nord-Bayern, Nord-Baden und der Pfalz wanderten aus. Ihre Kinder und Kindeskinder lebten allerdings nicht lange in Frieden. Nationalismus, Unterdrückung von Minderheiten bis hin zu Deportationen von Deutschen innerhalb Russlands folgten, ein kurzes Hoch unter Lenin, ein tiefes Tief unter Stalin, Zwangskollektivierungen und schließlich Hitlers Einmarsch und die bösen Folgen von Zwangsverschleppungen und Zwangsarbeit. 1964 wurden die Russlanddeutschen offiziell von der Sowjetunion rehabilitiert und erst Gorbatschow ermöglichte in den späten 80er Jahren die erste Rückreisewelle. Und seit dem sind sie da – die Probleme zwischen Deutschen und Russlanddeutschen hier bei uns. Die Konflikte um Identität und Integration - Thema gestern Abend im Potsdamer Forum.

Ulrike Lückermann fasst die Debatte zusammen: Etwa 2,5 Mio Russlanddeutsche sind in den vergangenen 15 Jahren in die Bundesrepublik übergesiedelt. Viele ihrer Traditionen und Bräuche, die sie seit Jahrhunderten in einer fremden Kultur bewahrt haben, stoßen bei Einheimischen auf Verwunderung oder gar Ablehnung. Oskar Lafontaine möchte lieber Afrikaner als Zuwanderer und vom ehemaligen Arbeitsminister Norbert Blüm stammt der Satz: „Wir könnten nicht jeden Aussiedler, der mit einem deutschen Schäferhund aus Kasachstan komme, aus der Rentenkasse bedienen.“ Als was kommen die Menschen? Die Bundestagsabgeordnete Jelena Hoffmann, eine gebürtige Russin, findet keine Antwort.

Elena Hoffmann:
Wir sagen immer wieder Russlanddeutsche, also das sind Deutsche. Sehen wir sie als Deutsche? Sehen sie sich als Deutsche? Mit welchen Vorstellungen kommen sie hierher? Ich glaube, wir können hier in der Politik hier Gesetze über Gesetze machen, wir können auch Integrationsprogramme aufstellen und Tod und Teufel machen, aber für mich ist das die Frage!

Dagegen mag die Russlanddeutsche, die Übersetzerin Rita Pauls, die aus Kasachstan stammt und 1989 mit Ihrer Familie nach Deutschland gekommen ist, diese Frage nicht diskutieren. Viele Russlanddeutsche sind ihr zu rückständig, zu nationalistisch und zu wenig europäisch.

Rita Pauls:
Vielleicht sollte man anfangen, davon zu sprechen, was Russlanddeutsche machen müssen, um sich besser integrieren. Sie müssen offener werden. Sie müssen eben ihren Fundamentalismus ablegen. Mit Fundamentalismus meine ich natürlich, dass sie von sich denken, dass sie besser sind als die Türken zum Beispiel oder die anderen in Deutschland lebenden Bevölkerungsgruppen. Die Diskussion Deutschtum, es ist wirklich unmodern und gefährlich über Deutschtum zu sprechen. Wer ist Deutscher, wer darf als Deutscher bezeichnet werden, wer nicht? Wir sind Deutsche u.s.w., mag ich nicht, diese Diskussion mag ich nicht.

Einige Zuhörer im Publikum sind empört über diese Vorwürfe und rufen –Unverschämtheit-. Andere beklagen ihr schweres Schicksal, das sie in der Sowjetunion erleiden mussten, werde nicht zur Kenntnis genommen - das Verbot der deutschen Sprache in den Schulen, die Deportationen und Verfolgungen während der Stalin-Zeit. Hunderttausende die aus Kasachstan oder Russland gekommen sind, haben sich integriert, eine Arbeit und Freunde gefunden. Aber es gibt Tendenzen sich abzuschotten, denn die Welt, die sie hier vorfinden, entspricht nicht ihren Vorstellungen. Vor allem streng gläubige Baptisten und mennonitische Brüdergemeinden wollen mit dieser Gesellschaft, die in ihren Augen ein Sündenpfuhl ist, nichts zu tun haben. Ihre Integration ist schwierig, fürchtet der Historiker Stricker.

Gerd Stricker
Sie fallen auf durch einen starken Konservatismus, manche sprechen von Fundamentalismus und bilden wie in der zivilen Bevölkerung auch in der kirchlichen Gruppierung schwierige Gruppen. Bis dahin ist, also dass Integration mühsam ist, weil sie sich eben darüber sich aufregen, die Pfarrerin, der Pfarrer ist eine Frau. Gibt es nicht. Dass bestimmte ökumenische Kontakte gepflegt werden, das will man nicht. Sexualkunde im Unterricht das ist ja überhaupt nicht denkbar. Nicht, da kriegt also die Großmutter noch rote Ohren. Diese Gruppen werden dann mit Mühe in die kirchlichen Gemeinden, ob katholisch oder lutherisch oder mennonitisch integriert – oder aber manchmal geht es auch nicht, so dass sich Diese dann aus den Gemeinden wieder zurückziehen und eigene Gemeinden bilden.

Aus welchen Gründen ist Ihre Integration gescheitert. Solche Fragen wurden gestern Abend nicht diskutiert. Im Vordergrund stand, was die deutsche Öffentlichkeit tun kann. Wir müssen auf die Russlanddeutschen zugehen, mit ihnen in Dialog treten, fordert Ulla Lachauer, die in ihrem Buch „Ritas Leute“ die Geschichte einer russlanddeutschen Familie beschreibt.

Ulla Lachauer:
Ich denke, dass unsere Aufgabe, vielleicht als Einheimische darin besteht, dieses mit Geduld und Wohlwollen zu begleiten und hinsichtlich der Wege, die die Russlanddeutschen gehen nicht all zu viele Vorschriften zu machen. Vieles wird sich selber regeln. Wer die Sprache nicht lernt, wird nicht erfolgreich sein. Versuchen wir sie wirklich wahrzunehmen, in der Nachbarschaft, in den Schulen, wenn sie als Angler am Rhein sitzen und unsere wiedergewonnenen Lachse wegfischen.

Doch die streng gläubigen Gruppen lassen Außenstehende nicht an sich heran. Da ist ein Dialog kaum möglich. Die Diskussion blieb oberflächlich und die eigentlichen Probleme wurden nicht angesprochen. Wie etwa sollen Schulen mit Kindern umgehen, die den Unterricht verlassen, weil es in ihren Augen Sünde ist, über Verhütung zu reden oder Goethes „Faust“ zu lesen, weil darin ein Teufel vorkommt.