Roman
Thomas Schulz
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Dass die jüngste deutsche Vergangenheit im Denken und Fühlen der Menschen sehr lebendig ist, hat der überwältigende Erfolg von Günter Grass` „Im Krebsgang“ kürzlich bewiesen. Das Schicksal der Menschen, die in den ehemaligen deutschen Ostgebieten lebten, durch den Zusammenbruch Deutschlands 1945 ihre Heimat verloren und sich in neuen Verhältnissen zurechtfinden mussten, ist auch 50 Jahre später sehr präsent.

Auch in Polen ist das Thema höchst aktuell. Flucht und Vertreibung, „ethnische Säuberungen“ und Umsiedlungsbewegungen haben die Landschaften östlich der Oder politisch und mental geprägt, sie sind ein „durch die Kriegs- und Vertreibungsereignisse traumatisiertes Gelände“ (Karl Schlögel). In den letzten Jahren haben junge Autorinnen und Autoren ihre Spurensuche literarisch produktiv gemacht. Dabei ist ihnen gelungen, die Grenzregionen als besonderen Erfahrungsraum zu gestalten.

Die neueste „Grenzlandliteratur“ in Polen will nicht ausschließlich die bisher verschwiegene bi- oder multinationale Vergangenheit Pommerellens, Schlesiens oder Masurens rekonstruieren. Der Begriff „Grenzland“ meint in der zeitgenössischen polnischen Kultur nicht nur die historischen Grenzregionen im Osten und Westen Polens. Er ist eine Metapher für das Zusammentreffen verschiedener Kulturen. Die „Grenzlandliteratur“ erwächst sowohl aus dem Wunsch, die Vergangenheit der Region zu ergründen, als auch aus einer allgemeineren Reflexion über die multikulturelle Zukunft Europas.

Dass die jungen Autoren diesem immer noch durch historische Denkmuster und Vorurteile stark belasteten Thema neue literarische Aspekte abgewinnen können, dafür liefert Artur Daniel Liskowacki einen eindrucksvollen Beleg. Mit seinem Roman Sonate für S., der sich der schwierigen Geschichte von Polen und Deutschen widmet, verpasste er nur um eine Stimme den wichtigsten polnischen Literaturpreis Nike und erreichte bisher mehr als 40.000 Leser, für Polen eine Sensation.

Liskowacki erzählt die Geschichte der Stadt Stettin, die nicht länger deutsch, aber auch nicht wirklich polnisch ist. Er verwebt die Biographien „ganz normaler“ Menschen in einer „unnormalen Zeit“ zu einer literarischen Liebeserklärung an seine Heimatstadt. Liskowacki erzählt von Deutschen, die nach dem Krieg in Stettin, das jetzt auf polnisch Szczecin heisst, geblieben sind. Seine unspektakulären Helden halten auch unter widrigen Umständen an ihrer Identität fest. Da ist der Geiger Alfred Bonkowsky, der gleich nach Kriegsende in seine Stadt zurückkehrt, die er erst verlassen hatte, als sein Geigenspiel das Kriegsgrau nicht mehr aus den Gesichtern der Menschen hatte vertreiben können. Die historische Situation hat ihn und viele andere in einen Schwebezustand versetzt. Sieger und Besiegte versuchen nun, einen Faden ihres Lebens wieder aufzugreifen und ihre persönliche Geschichte weiterzuspinnen. Liskowacki erzählt vom Schicksal des kleinen Heini, der so schön singen konnte und der in den Wirren der Flucht seine Familie aus den Augen verlor. Von Willy Peters, den der Krieg aller Angehörigen beraubte, von August Kugel, der die deutsche Fußballmannschaft von Stettin gründete, und von Fritz Hummel, dem Leiter des deutschen Kulturhauses. Ihre Lebensspuren kreuzen sich am „Deutschen Kulturhaus der Polnisch-Deutschen Freundschaft“, das erst 1955 geschlossen wird. Ihre Vergangenheit wird genauso ausgeleuchtet wie ihre Vorlieben und Schwächen. Ihnen gemeinsam ist, dass sie in Zeiten der Entwurzelung auf einem Stück Heimat beharren – unabhängig von der richtigen oder falschen Gesinnung gestern und heute. Dabei enthält sich der Autor überbordender Gefühle, um Vorurteile nicht neu zu entfachen oder Schuldzuweisungen wieder aufleben zu lassen.

Der Roman Sonate für S., der in Polen unter dem Titel Eine kleine erschien, verteidigt das einzelne Leben gegen die Vereinnahmung durch wohlfeile Geschichtsbilder und wagt eine überraschende Perspektive auf die jüngste deutsche und polnische Vergangenheit. Die musikalische Form der Sonate für S. bestimmt den Rhythmus der historischen Ereignisse, beginnend am Anfang des Jahrhunderts und in den 50er Jahren endend. Liskowacki hat in Sonate für S. als erster das multinationale Stettin zu einer literarischen Stadt gemacht.

Artur Daniel Liskowacki wurde 1956 in Szczecin, dem ehemaligen Stettin, geboren. Er ist Dichter, Schriftsteller, Kinderbuchautor, Theaterkritiker und Journalist. Liskowacki studierte polnische Philologie an der Adam-Mickiewicz-Universität in Posen (Poznań). Nach dem Studium arbeitete er in der Redaktion der Wochenschrift Jantar. In den Jahren 1983-1990 publizierte er in Morze i Ziemia, seit 1990 ist er in der Redaktion der Tageszeitung Kurier Szczeciński (Stettiner Kurier) tätig. Von 1996 -99 war er Vorsitzender der Stettiner Sektion des Polnischen Schriftstellerverbandes. Sonate für S. ist seine erste Veröffentlichung in Deutschland.

Artur Daniel Liskowacki: Sonate für S. Roman. Aus dem Polnischen von Joanna Manc. Gebunden, 352 Seiten, 13,5 x 21,5 cm. München: Knaus, 2003. ISBN 3-8135-0212-0. € 21,90 [D]