Erfinden kann man so etwas nicht, nur bestaunen: Wie die slowakische Postzentrale in Banská Bystrica Ende April 2003 mitteilte, musste ihr »Austausch-Amt« allein in den ersten drei Monaten 2003 abgezählte 5.227 Postsendungen, darunter auch zahlreiche Pakete mit einem Gesamtgewicht von 249 Kilo, aus der Slowakei umdirigieren – nach Slowenien. Slowakei und Slowenien, Slavonien und Slovinzen, Moldau und Moldova, Russen und Belarus – bei solchen und ungezählten weiteren »Dubletten« nicht nur Klarheit einzubringen, vielmehr Kenntnis und »sinnliche« Erfahrung von Ländern, Völkern, Kulturen und Sprachen des europäischen Ostens zu verbreiten, ist die selbstgewählte Aufgabe des Potsdamer Deutschen Kulturforums östliches Europa. Und weil Reisen bekanntlich bildet, war die Slowakeireise vom 15. bis 22. August 2006 ein Highlight, das gewürdigt werden will.
Die kleine Slowakei (49.034 km²) scheint das einzige Land Europas zu sein, das um so schöner anmutet, je weiter man nach Osten kommt. So war es eine gute Idee, mit dem Nachtzug von Prag bis Košice durchzurauschen und die Reise ausgeruht in der ostslowakischen Metropole zu starten. Geplant war sie als Reise für Journalisten und andere Interessierte, konzipiert als Spurensuche nach den Resten der rund 150.000 Deutschen, die bis Ende des Zweiten Weltkriegs hier gelebt hatten. Heute sind von 5,3 Millionen Bürgern der Republik Slowakei ganze 0,1 Prozent Deutsche. Bis 1990 existierten sie offiziell überhaupt nicht, hatten also auch keine Möglichkeit zu muttersprachlicher Bildung und Artikulation. Das Ergebnis war, wie in ganz Ostmittel- und Südosteuropa, Angst der Deutschen, sich als solche zu bezeichen, und sprachliche Stagnation auf dem Niveau von familiärer Kommunikation und dörflichem Dialekt.
In der Slowakei war dies zuletzt bei der Volkszählung 2001 erkennbar: Ältere wollten sich nicht als Deutsche deklarieren, andere konnten es nicht. Die Kategorie »Deutsche« war auf den Fragebögen nicht vorgesehen, musste handschriftlich eingetragen werden. Weil das doch arg nach Diskriminierung roch, protestierte der im September 1990 gegründete Karpatendeutsche Verein in der Slowakei bei der Regierung – vergeblich! Am Ende wies die Volkszählung 5.405 Deutsche aus, was bestenfalls die Hälfte, eventuell auch nur ein Drittel der real existierenden Deutschen in der Slowakei sein dürfte. Fast so viele Deutsche wie offiziell registriert zählt der Karpatendeutsche Verein als Mitglieder – was gewiss kein Beleg für die Korrektheit der Zensus-Daten ist.
Diese (und ungezählte weitere) Dinge kennt am besten Dr. Ondrej Pöss, den unsere Reisegruppe am letzten Tag in Bratislava trifft. Der Deutsche und frühere Technik-Historiker bei der Slowakischen Akademie der Wissenschaften hat das 1994 gegründete Museum der Kultur der Karpatendeutschen aufgebaut und zu einem »Perlchen« geschliffen: über 5.000 Exponate, aus der ganzen Slowakei zusammengetragen, Publikationen, CDs, Ausstellungen, Kartensammlungen etc. Unser Besuch hätte ungelegener nicht kommen können, denn Pöss steckte mitten in Etatverhandlungen, deren Klippen man sich leicht ausmalen kann: Zwölf ethnische Minderheiten sind in der Slowakei offiziell anerkannt, von denen jede ihr eigenes Museum unterhält – alle unter dem Dach des Slowakischen Nationalmuseums und vom Finanzministerium ausgehalten. Zum zweiten stand der Karpatendeutsche Tag vor der Tür, der am 23. September ein Zeichen der besonderen Art setzen wollte, wie Pöss erläuterte: »Eine große Bronzetafel mit zwei Inschriften, slowakisch und deutsch, eine große Slowakei-Karte mit den deutschen Siedlungen. Also, das wird solche erste Tafel an einem öffentlichen Gebäude in der Slowakei sein.«
Natürlich haben wir die Tafel noch nicht sehen können, wussten aber, was auf ihr stehen könnte oder sollte. Ondrej Pöss hat es in seiner zweisprachigen Geschichte und Kultur der Karpatendeutschen beschrieben: »Wenn im 16. Jahrhundert ein deutscher Handwerksbursche von Pressburg nach Kaschau zu Fuß auf die Wanderschaft ging, konnte er auf seinem Weg durch die Slowakei jede Nacht in einer deutschen Siedlung verbringen. Heutzutage gehört das längst der Vergangenheit an. Heute könnte er Probleme haben, am Abend überhaupt eine deutsche Familie zu finden.« Wir pilgerten in umgekehrter Route, von Kaschau (Košice) nach Pressburg (Bratislava), und hatten dieselben melancholischen Eindrücke: deutsche Spuren allenthalben, Deutsche zumeist Fehlanzeige. Dennoch fällt die Geschichte der Slowakei-Deutschen in mehrfacher Hinsicht aus bekannten Rahmen.
Deutsche schufen bis Kriegsende in fast ganz Ostmittel- und Südosteuropa identische Probleme, durch ihre große Zahl (ca. 10 Millionen), ihre kompakte Siedlungsweise (die Integration be- und verhinderte) und ihre obstruktive Selbsteinschätzung, als gestriges Habsburger »Herrenvolk« nun ethnische Minderheit in neuen Staaten zu sein. Alles das traf auf die Deutschen in der Slowakei nicht zu. Viele waren sie nie, ihre verstreute Siedlungsweise spiegelt sich bis heute in den 36 Ortsgruppen des Karpatendeutschen Vereins – Bratislava und Umgebung, mittelslowakisches Hauerland (weil acht von 24 deutschen Ortschaften auf -hau endeten) und ostslowakische Zips, geteilt in die Oberzips um Kežmarok, die Unterzips um das Bodvatal und Košice –, und vor einer privilegierten Stellung inmitten nichtdeutscher Nachbarn hat sie die Geschichte bewahrt.
Sie nennen sich bis heute Karpatendeutsche, ein Begriff, den der Historiker Raimund Friedrich Kaindl (1866–1930) um 1900 prägte und auf alle Deutschen von der Slowakei über Transsilvanien bis nach Bessarabien am Schwarzen Meer anwendete. Wie recht er damit hatte, verraten bis heute die vier Slovenské král’ovské mestá (Slowakischen Königsstädte) – Bardejov, Levoča, Stará L’ubovňa und Kežmarok –, die unsere Reisegruppe natürlich erkundet. In der Geschichte waren sie eher unter ihren deutschen Namen bekannt – Bartfeld, Leutschau, Altlublau und Kesmark –, da sie im 13. Jahrhundert als Zwischenstationen des Zugs der »Sachsen« nach Siebenbürgen entstanden. Siebenbürgen wie die Slowakei gehörte damals zu Ungarn, und die deutschen »Gäste« wurden mit königlichen Privilegien bestens versehen, die in Siebenbürgen an die Volksgruppe, in der Slowakei an den Wohnort vergeben wurden.
Dafür sind die Slowaken bis zur Gegenwart auf ganz unbefangene Weise dankbar, wie ich in zahlreichen Interviews heraushörte: Die Deutschen bekamen, bauten, importierten, begründeten etwas, und alle nichtdeutschen Nachbarn im betreffenden Ort hatten den gemeinsamen Nutzen davon! So potenzierten sich Multiethnizität, Multilingualität und Multikulturalität zu koexistenziellem Gemeinschaftsgefühl – die moderne Historikerdebatte um Abstufungen von Anderssein, »Alternität« versus »Alienität«, hätte am Beispiel der Deutschen in der Slowakei gar nicht aufkommen können, weil man hier jahrhundertelang die profitable Kollektivität pflegte. Als wir in Košice das Haus der ethnischen Minderheiten besuchten, erzählte uns jemand etwas über die Fernwirkung dieses Empfindens: »Als nach dem Krieg aus Košice und der ganzen Tschechoslowakei die meisten Deutschen und Ungarn vertrieben wurden, da haben sich bei Volkszählungen nur wenige als Deutsche oder Ungarn deklariert. […] 1970 gab es eine Probezählung, bei welcher einige Tausend anstelle von Deutscher oder Ungar angaben, sie seien Košicer Nationalität.«
Haben wir in Košice überhaupt Deutsche angetroffen? Ich meine nicht, kann’s aber nicht beschwören. Aber ich erinnere mich an einen fröhlichen Grillabend in Kežmarok, zu dem Vojtech Wagner, Regionalchef des Karpatendeutschen Vereins, eingeladen hatte. Nach zwei Stunden und fünf Bier kriege ich ihn dazu, mir das Heimatlied der Slowakei-Deutschen ins Mikrofon zu singen – dessen Text er erst in seinem Büro des Vereinshauses suchen musste. In der Zwischenzeit habe ich Gelegenheit, mit den jungen Vereinsmitgliedern – die zwar alle deutsch sprechen, aber nicht alle Deutsche sind – ein bisschen zu plauschen und eine Vorstellung von ihrer Identität zu bekommen. Da ist die junge Anka Lunavská, stolze Staatsbürgerin der Slowakei und bewusste Deutsche, »weil meine Vorfahren eben Deutsche waren«. Da ist Igor Kreuz, dessen Deutschtum in historischer Kontinuität steht, denn »die Karpatendeutschen haben eigentlich die ganze Zips gebaut, die haben hier die Kultur gebracht«, und der dieser Historie eine zeitgemäße Fortsetzung gibt, denn »ich arbeite in einer deutschen Firma und war schon oft in Deutschland«. Da ist die junge Lucia, die ihr vom Großvater »ererbtes« Deutsch (das ihre Eltern schon nicht mehr sprachen) jetzt in der Schule aufpoliert und auf Ferienaufenthalte bei den Partnerschulen in Rheinbach und Hude hofft; da sind junge Überflieger, Deutsche und Slowaken, die mit exzellentem Deutsch auf Berufschancen bei deutschen Firmen hoffen, oder die blonde Schönheit Gabriela, Slowakin mit deutschem Urgroßvater, die Deutsch als Karrierehelfer für ihre medizinische Ausbildung ansieht. Sind wir auf einer deutschen »Insel« oder in einem deutschen Kultur- und Sprachzentrum mit multiethnischer Ausstrahlung? Vermutlich letzteres – was uns auch recht sein kann.
An Kežmarok muß man nicht lange kratzen, um Kesmark wiederzufinden: Auf den Holzbänken der alten deutschen Kirche von 1717 sind noch deutsche Namensschildchen angebracht, über dem Altar der neuen deutschen Kirche steht »Ein feste Burg ist unser Gott« und in der alten Lyzealbibliothek von 1600, mit 150.000 Büchern die größte ihrer Art in Mitteleuropa, soll es (laut Prospekt) »44.000 germanische Schriftstücke« geben. Was immer das heißen mag – von Germanen gibt es außer ein paar Runen nichts Schriftliches –, mir will es, nach Inaugenscheinnahme ungezählter Buchrücken, als traumhafter Thesaurus deutschsprachigen Schrifttum aus über vier Jahrhunderten vorkommen. Und dieses Kulturjuwel devastierte 1945 sowjetische Soldateska – die damit ungewollt eine Renaissance des Kežmaroker Bürgersinns provozierte, sagt die junge Bibliotheksleiterin, eine Slowakin, in (fast) fließendem Deutsch: »In solchem Zustand haben die Bücher hier 50 Jahre lang gelegen. Letzte 25 Jahre zurück haben die alte Leute, meistens Pfarrer, Archivare, Bibliothekare, Professoren, alte Rentner, diese Leute haben zuerst geheim, später ganz offiziell, sie haben die Bücher neu katalogisiert, neu signatiert, neu in Regale gesteckt. Die Russen haben uns ganze Dokumentation zerstört, vernichtet. Aber das war nur einziges System dieser vielen Leute nach Größe des Buches«. Jemand aus unserer Gruppe fragt nach Möglichkeiten für Praktika, bekommt eine ausweichende Antwort, aber die Idee ist wunderbar.
Auch wenn wir sie kaum finden – es gibt in der Slowakei noch Deutsche, die heute eine in Jahrhunderten entstandene sprachliche »Mimikry« tarnt. In Bratislava treffe ich Zuzana Chudová, attraktive Moderatorin der slowakischen TV-Nachrichten, die mich auf eine Besonderheit der Hauptstadt aufmerksam macht: »Besonders im Zentrum von Bratislava leben noch viele Familien der traditionellen Prešporker Art, die noch ungarisch, deutsch und slowakisch sprechen – vielleicht fühlen sie sich nicht einmal als Slowaken, aber gewiss als Alt-Bürger der Stadt«. Bratislava heißt die Stadt erst seit 1919, davor war sie Pressburg (oder slowakisiert Prešpork) und eine »überwiegend deutsche Stadt« (wie die Stadthistoriker heute einräumen), deren Bürger mit dem Prešporkisch eine eigene Sprachkonvention pflegten. Noch exotischer ist es im Süden der Zips, wo die mantakische Mundart gesprochen wird, eine Art Karpaten-Esperanto, das die meisten Karpatendeutschen nicht verstehen, das aber der Heimatdialekt von Rudolf Schuster (*1934) ist, einem Deutschen, der lange Oberbürgermeister von Košice und von 1999 bis 2004 slowakischer Staatspräsident war.
Aus der kulturologischen Transferforschung wissen wir, dass der Bergbau das erste »Einfallstor« für Deutsche und Deutsches in Ostmittel- und Südosteuropa war. Wofür auch die gegenwärtige Slowakei noch ein Lehrbuchbeispiel ist, ausweislich ihrer nicht wenigen Orte, die ein Banská (Bergbau) im Stadtnamen führen. Noch eindeutiger waren die inoffiziellen deutschen Bennennungen der »sieben oberungarischen Bergbaustädte«: »goldenes Kremnitz« (Kremnica), »silbernes Schemnitz« (Banská Štiavnica), »kupfernes Neusohl« (Banská Bystrica) etc. Es muss ein sehr umweltschonender Bergbau gewesen sein, denn alle diese Städte waren und sind wunderschön. Und es war ein Bergbau auf fachlichem Höchstniveau, das vor allem die 1762 in Banská Štiavnica gegründete erste Montanhochschule der Welt sicherte.
Heute gibt es kaum noch Bergbau in der Slowakei, aber aus den Erinnerungen an die bergtechnische Vergangenheit ergäbe sich mühelos eine Geschichte deutsch-slawischer Nähe, die sprachlich ja immer noch klingt: Ein slowakisches Steiger-Pilz im Restaurant Berggericht getrunken, dabei das altdeutsche Glockenspiel vom benachbarten Kirchenturm gehört – und du verstehst, warum die Slowaken heute noch sagen: »Im Leben in Banská Bystrica, danach im Himmel!« Von einem Plattenverkäufer lasse ich mir diesen Spruch ins Mikrofon sagen, was er auch lokalstolz tut. Er ist erfreut, dass ich, ein Ausländer, dieses Kompliment für seine Stadt kenne.
Seit dem 1. Mai 2004 ist die Slowakei EU-Mitglied und damit ein noch engerer Partner Deutschlands. Wie wirkt sich das auf deutsche Sprachpräsenz und auf die Lage der Deutschen im Lande aus? Direkt überhaupt nicht, indirekt um so mehr – erklärt Ondrej Pöss am Beispiel des Sprachenunterrichts: »Mit den Schulen ist es ziemlich schwierig. Wir hatten schon keine Möglichkeit, eine Klasse, wo alle Schüler Deutsch als Muttersprache hätten, das geht nicht. Aber wir bieten an sieben Schulen verbreiteten Deutschunterricht, unsere Bestrebung ist eine Bilingualität. Große Probleme haben wir mit Lehrbüchern. Einige Universitäten haben sich anerkannt als Ausbildung der Minderheiten, vor allem in Nitra – Neutra. Es dient vor allem den Ungarn, aber auch da studieren schon einzelne Personen die deutsche Sprache, Germanistik, und wir hoffen nur, dass die kommen also in unsere Schulen. Es ist, ich denke, Interesse für die deutsche Sprache in der Slowakei allgemein ganz gut. Zwar Englisch ist an der ersten Stelle, aber gleich nachher ist schon die deutsche Sprache«.
Deutsche Kultur und Geschichte in der Slowakei
Reise in die Zips und nach Bratislava/Pressburg