gehalten am 29. November 2006 in Berlin
44 Millionen Menschen sind derzeit nach Schätzungen des Flüchtlingswerks der Vereinten Nationen weltweit auf der Flucht, die meisten in Asien und Afrika. Unter den Flüchtlingen sind viele, die gewaltsam vertrieben wurden. Flucht und Vertreibung, das ist eine alte Blutspur, die sich durch die Geschichte zieht – ein erschreckendes Zeichen dafür, was Menschen anderen Menschen antun können. Ausstoßung und Exil reichen bis in archaische Zeiten zurück. Und die modernen Vertreibungen sind oft nur die Steigerung früherer Formen der Ächtung und Verbannung, des Friedlos-Legens und der Vogelfreiheit, der Ausbürgerung, Verfolgung, Verjagung von einzelnen und Gruppen, von Minderheiten, ja von ganzen Völkern.
Aus dieser langen bedrückenden Geschichte greift Thomas Urban in seinem Buch Der Verlust ein jüngst vergangenes Kapitel heraus: die Vertreibung der Deutschen und Polen im 20. Jahrhundert. Das ist ein Vorgang, der immer noch die Gemüter erregt, in Deutschland wie in Polen – und in jüngster Zeit, so scheint es, fast noch mehr als in den vergangenen zwanzig, dreißig Jahren. Wenn Zeitgeschichte nach Barbara Tuchman Geschichte ist, »die noch qualmt«, so ist das gerade bei diesem Thema wörtlich zu nehmen. Von welcher Seite man sich den Dingen nähert, immer steigen dichte Rauchschwaden auf.
Oft sind die genauen Umrisse des Geschehenen nur schwer zu erkennen. Die Erinnerungen sind subjektiv und punktuell, nicht selten widersprechen sie einander je nach der Perspektive, dem Alter, der Gedächtnisstärke oder -schwäche der Beteiligten. Vieles ist emotional geladen, einer rationalen Prüfung schwer zugänglich. Manchmal stoßen die gefühlte und die geprüfte Geschichte heftig aufeinander. Es beginnt schon bei den Begriffen, die man verwendet: War es Vertreibung – oder nicht eher Abschiebung, Umsiedlung, Bevölkerungstransfer? Geschah es spontan oder vielmehr nach vorbedachtem Plan? Oder gar passiv, in Ausführung fremder Befehle?
Thomas Urban gelingt es in seinem 223 Seiten starken, knapp und schlüssig formulierten Werk, die historischen Ereignisse so sachkundig und objektiv zu berichten, dass eigentlich niemand seinen Feststellungen ernsthaft widersprechen kann. Das grenzt unter den gegebenen Umständen fast an ein Wunder. Wie schafft der Autor ein solches Kunststück? Durch drei ganz einfache Maßregeln, wie man leicht feststellen kann: Einmal bezieht er alle zugänglichen Quellen und Darstellungen ein, kein Tatbestand bleibt unbelegt, so dass sich das Buch auf jeder Seite auf der Höhe der zeitgeschichtlichen Forschung bewegt. Zweitens kennt er nicht die üblichen Tabus: Alle Fakten kommen auf den Tisch, nichts wird höfisch verschwiegen oder diplomatisch vertuscht. Endlich und am wichtigsten: Das Geschehene wird stets in seiner Duplizität und Parallelität dargestellt, so dass die Leser abwechselnd in einen deutschen und einen polnischen Spiegel blicken und vergleichen können. Nicht nur Deutsche, auch Polen sind ja vertrieben worden – von Deutschen, von Russen, oft lange vor dem 20. Jahrhundert. (Die Vertreibung der Polen aus ihren eigenen früheren Ostgebieten ist ein selbst in Polen noch unaufgearbeiteter Vorgang – hier wirken alte Tabus nach; man durfte im kommunistischen Polen nicht von Vertreibung sprechen, die Vertriebenen durften sich nicht organisieren usw.) Nicht immer sind die Bilder der Vertreibung einander gleich. Das kann auch niemand im Ernst erwarten. Aber auch die Darstellung der asymmetrischen Wahrnehmungen, der Widersprüche und Kontroversen ist lehrreich, sie hinterlässt Nachdenklichkeit beim Leser und regt zu weiteren Fragen und Nachforschungen an.
Dank der Quellenpublikationen und der intensiven zeitgeschichtlichen Forschung der letzten Jahrzehnte in Polen, Deutschland und den USA gibt es über die Fakten der Vertreibung heute kaum noch Streit. Die historischen Hergänge liegen so klar zutage, dass jeder Versuch der Beschönigung oder Ausblendung von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Hier hat sich der Austausch der Zeithistoriker über die nationalen Grenzen hinweg bewährt. Keine Wahrheit, mag sie auch unangenehm, ja provozierend sein, kann heute noch unterdrückt, verdrängt, verschwiegen werden. Die Archive sind geöffnet, Forschung vollzieht sich längst im internationalen Rahmen. Ein gemeinsamer Blick auf historische Taten und Leiden wird möglich. Davon macht Thomas Urban in seiner Darstellung auf jeder Seite Gebrauch.
Ich erinnere mich an die deutsch-polnischen Schulbuchverhandlungen in den siebziger Jahren, als das alles noch ganz anders war. Händeringend baten uns damals die polnischen Kollegen – unter dem Druck ihrer kommunistischen Regierung – darum, vom Hitler-Stalin- Pakt, von Katyn, von der Vertreibung der Polen aus ihren eigenen Ostgebieten nur ja nicht zu sprechen (das angestrebte Abkommen scheiterte zunächst daran). Offenkundige historische Tatsachen sollten in beiderseitigem Konsens wegerklärt, geschichtspolitisch »entsorgt« werden. Auf diesem Boden konnten Verständigung und Versöhnung natürlich nicht gedeihen. Daher darf man erleichtert feststellen, dass mit den Erklärungen von Jan Józef Lipski, Adam Michnik, Władysław Bartoszewski und mit der großen Vertreibungsdokumentation von Włodzimierz Borodziej und Hans Lemberg (2000/2003) diese Epoche wohl endgültig überwunden wurde. (Das hofft wenigstens der Optimist!)
Am meisten mutet Thomas Urban seinen Lesern, den Deutschen und den Polen, dort zu, wo er das Vertreibungsgeschehen in seinen Aktionen und Reaktionen, seinen Ausbrüchen und Zwangsläufigkeiten als Doppelgeschichte, als parallelen Vorgang anschaulich macht. (»Parallele Lebensläufe« – ein altes Historikerprinzip seit Plutarchs Zeiten!) Der Autor verwischt dabei die unterschiedlichen Dimensionen nicht: Bismarcks Äußerungen über die Polen, so böse sie sind, leiten kein Programm der ethnischen Vernichtung ein wie bei Hitler, Greiser, Globocnik – wie auch die unerfreuliche Behandlung der deutschen Minderheit im Polen der Zwischenkriegszeit weit entfernt ist von der organisierten Zwangsaussiedlung der Deutschen nach 1945. Doch wird erschreckend deutlich, wie sehr sich die europäische Politik seit dem Ende des Ersten Weltkriegs immer offener des Modells der »ethnischen Säuberung« bedient hat – oft sogar mit Deckung des Völkerbundes. Zu einem völkerrechtlichen Vertreibungs- und Verschleppungsverbot (wie in der Völkermordkonvention vom 9. Dezember 1948) war es noch weit.
Dieses Buch konnte nur ein Journalist schreiben, der – gelernter Romanist und Slawist – in langjähriger Arbeit in Moskau, Warschau und anderen Städten Mittel- und Osteuropa gründlich kennengelernt hat; der als Berichterstatter der Süddeutschen Zeitung in Warschau für Polen, die Ukraine und das Baltikum täglich alle Nachrichten prüfen, alle Worte auf die Goldwaage legen muss – und der in allem, was er schreibt, ein Gespür für Gerechtigkeit erkennen lässt. Das kommt vielleicht auch daher, dass er als Sohn vertriebener Deutscher aus Breslau mit einer polnischen Breslauerin verheiratet ist, deren Eltern im Krieg und nach dem Krieg ihre Heimat im früheren Ostpolen verloren haben – noch einmal die »parallelen Lebensläufe«! Man wünscht sich, dass das Buch seine Wirkung tut, dass es viele Leser findet – in Deutschland wie in Polen. Zu Recht wird es heute mit dem Ehrenpreis des Georg Dehio-Buchpreises ausgezeichnet. Ich gratuliere Thomas Urban herzlich dazu, und ich freue mich, dass er über seiner täglichen anstrengenden Berichtsarbeit immer wieder die Zeit zum Forschen und Bücher schreiben gefunden hat. Insofern ehrt der Preis einen wachen Journalisten und einen vorzüglichen Historiker in einer Person.