Dialog – Deutsch-Polnisches Magazin № 74–75 • 01.07.2006
Die Veröffentlichung dieses Artikels erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Magazins Dialog
Vor einigen Monaten erschien in Deutschland ein Buch, das ich voller Neugier zur Hand nahm. Der Titel dieses Buches lautet "Literarischer Reiseführer Breslau". Einen Ort durch die Augen von Schriftstellern zu sehen, die diesen vor uns gesehen haben, finde ich sehr anregend. Der Blick des Schriftstellers ist durchdringend wie ein Laserstrahl. Er vermag die Gegenwart zu durchleuchten und bis in tief verborgene Schichten der Vergangenheit vorzudringen. Die Schriftsteller schauen auf den Raum wie auf einen Text. Alles ist für sie Text – Architektur, Landschaft, Gegenstände, Biographien von Menschen, vergangene Begebenheiten, die der Öffentlichkeit als historische Daten im Gedächtnis geblieben sind. Für die Augen der Schriftsteller ist die ganze Welt Lektüre. Für ihre Ohren ist die Wirklichkeit Polyphonie. Deshalb ist ein Buch, dessen Titel verspricht, dass frühere und heutige Schriftsteller uns durch Breslau führen, ein aufregendes Versprechen.
Ich wohne seit 1966 in Wrocław, also schon recht lange, und doch will mein Hunger, diese Stadt kennen zu lernen, keineswegs abnehmen. Ich weiß nicht, ob das normal ist und ob andere Einwohner dieser Stadt das Bedürfnis ebenfalls verspüren – vermutlich ja. Dafür spricht die Anzahl und Vielfalt der Neuerscheinungen, besonders in den letzten Jahren, die auf ein riesiges Leserinteresse gestoßen sind. Es ist daher wohl keine Übertreibung zu behaupten, dass Wrocław zu Beginn des 21. Jahrhunderts zum Lieblingshelden seiner Einwohner geworden ist.
Erster Spaziergang:
Der Held der kollektiven Vorstellung
Der Held der kollektiven Vorstellung ist ein künstlicher Entwurf, gleichgültig wie real er sein mag. Das gilt im selben Maße für die Bilder von Königen wie von Popstars, für die Bilder von Siegen im Gedächtnis eines Volkes wie von bedeutsamen Orten und schönen Städten.
Sehen wir uns das heutige Wrocław an. Ist es nicht schön? Spazieren wir über den Ring, der so farbenfroh und sauber ist wie wohl niemals zuvor. Unseren Blick erfreuen reich, aber geschmackvoll verzierte Renaissance- und Barockbauten. War er jemals so bunt und so gepflegt? Zweifel sind angebracht, denkt man an die zivilisatorischen und sanitären Standards vergangener Jahrhunderte. Unsere Füße bewegen sich über die neuen, glatten, in unauffällige Muster gesetzten Pflastersteine. Keine Spur von Staub, Schmutz oder Müll, ganz zu schweigen von den vor hundert Jahren noch üblichen Pferdeäpfeln. Die auch damals natürlich umgehend entfernt wurden.
Vom Ring aus können wir zum Beispiel in Richtung Dominsel gehen. Unterwegs passieren wir das alte jesuitische Gebäude der Universität, liebevoll restauriert und mit einem neuen Kupferblechdach gedeckt. Abends professionell beleuchtet, bezaubert es uns mit Farbgebung und Gliederung seiner harmonischen Fassade. Schon seit über dreihundert Jahren steht es hier, seine ruhige Beständigkeit kann uns nicht unberührt lassen. Von weitem sieht es aus wie ein großer, heller Sandsteinfelsen, und die wechselnden Strömungen der Epochen umspülen ihn wie die schwarzen Fluten der Oder. Bei diesem Anblick ist es schwierig, nicht sentimental zu werden und zu denken, dass es doch nicht ganz hoffnungslos um die Menschheit bestellt sein kann, wenn sie ihren Universitäten so viele Jahrhunderte treu geblieben ist.
Wir gehen weiter, vorbei an den Gebäuden des ehemaligen Kreuzfahrer-Klosters, jetzt Bibliothek des Ossolineums, in der die 1945 aus dem heute ukrainischen Lwiw (Lemberg) hierher verbrachten polnischen Kulturdenkmäler, vor allem Werke der Literatur, aufbewahrt werden. Hier wird die Reliquie unserer Nationalliteratur gehütet: die Handschrift von Adam Mickiewiczę Epos Pan Tadeusz. Seine Verse wurden in Paris verfasst von einem Dichter, aufgewachsen und ausgebildet in Wilna, der Hauptstadt Litauens, das früher mit Polen zusammen eine Doppelmonarchie gebildet hatte. Heute befindet sich diese symbolische Essenz des Polentums in Wrocław, der Hauptstadt Schlesiens. In diesem Schlesien schrieb im 13. Jahrhundert ein deutscher Zisterziensermönch im unweit von Wrocław gelegenen Henrykowo in einem lateinischen Buch einen Satz in der hiesigen Sprache. Dies ist der erste bekannte Satz, der in polnischer Sprache geschrieben wurde.
Vielleicht sollten wir keine metaphorischen Bedeutungen in diesen und ähnlichen Zusammenhängen suchen. So sind ganz einfach die Wege und Irrwege der Geschichte. Andererseits gehört die Suche nach dem Sinn zu den menschlichen Grundbedürfnissen. Man sollte sie sich nicht verbieten, sondern nur bedenken, dass bei einer Befriedigung dieses Bedürfnisses ein Maß notwendig ist. Das heißt gesunder Menschenverstand.
Zweiter Spaziergang:
Ein Entwurf namens Wrocław
1945 war Breslau ein Trümmerhaufen. Einfach ein Haufen Trümmer. Ebenso gut kann man sagen, dass infolge des zweiten Weltkrieges Breslau überhaupt aufgehört hat zu existieren.
Es blieb nur ein Ort und die Erinnerung daran, dass sich an diesem Ort bis vor kurzem eine in diesem Teil Europas bedeutende Stadt befunden hatte. Nun musste man diesen Ort enttrümmern und eine neue Stadt bauen. »Diese sanfte Gegend an einem großen Fluss / ist der einzige Platz für eine neue Hauptstadt Rom« schrieb ein tragischer Dichter, der in diesem besonderen Jahr 1945 zur Welt kam. In einem Jahr, das für die Stadt Ende und Anfang zugleich war.
Manchmal habe ich den Eindruck, dass wir das vergessen. Aber vielleicht sollte man es ja vergessen? Vielleicht fordert dies das Leben selbst? Obwohl kluge Menschen, zu denen auch die Schriftsteller zählen, behaupten, dass ein Mangel an Erinnerung tödlich ist. Früher oder später.
Wenn wir die sorgfältig restaurierten Gebäude des Ossolineums passiert haben und östlich davon die Sandbrücke erreichen, erblicken wir die Silhouette der Dominsel mit den markanten Türmen des Doms und dem schlanken Turm der Kreuzkirche. Gotik und Barock der Dominsel, ihre Grünanlagen und urigen Gassen, die abends von Gaslaternen beleuchtet werden, ihre Stille und das kaum wahrnehmbare Plätschern des sie umströmenden Wassers, machen aus dieser einstigen Insel die sanftmütigste Ecke der Stadt. Auch die Dominsel war noch nie so schön wie heute.
Die beruhigende Süße ihres Charmes rührt gewiss von der Liebe her, mit der dieser älteste Teil, das Herz der Stadt wieder aufgebaut wurde. Aber auch von der Überzeugung, dass dieser Ort in höchstem Maße ein Ort der Erinnerung ist. Wer hier entlang geht, spürt deutlich, dass gerade hier der Genius Loci zu Hause ist.
Ein solcher Genius vermag eine Stadt zu errichten, die es schon nicht mehr gab.
Dritter Spaziergang:
Genius Loci
Dieses Genius Loci wegen, aus dem Wunsch heraus, jenen Geist der Stadt zu erblicken, stürzte ich mich mit solch gespannter Erwartung auf das Buch mit dem Titel Literarischer Reiseführer Breslau.
Roswitha Schieb schlägt vor, dass wir die Stadt auf sieben Spaziergängen kennen lernen. Der erste Spaziergang führt um den Ring. Der zweite durch die Altstadt. Der dritte auf die Dominsel. Auf diesen Spaziergängen bewegen wir uns im ältesten Zentrum der Stadt, besichtigen ihren mittelalterlichen Kern und die im allgemeinen noch harmonisch auf dieses mittelalterliche Fundament gehäuften Schichten späterer Epochen. Das ist besonders auf der Dominsel zu sehen, die für den erwähnten literarischen Stadtführer »Breslaus katholische Welt« symbolisiert, wie der gleichnamige Untertitel des Kapitels lautet. Und so legt uns der architektonisch gestaltete Raum eine Interpretation der Geschichte nahe.
Vierter Spaziergang:
Jetzt Wrocław
Möglich ist auch eine Umkehrung dieser Reihenfolge: eine Interpretation von Geschichte kann auch konkrete architektonische Konzepte und Entscheidungen nach sich ziehen. Sehen wir uns beispielsweise in Wrocław das bekannteste an: der Wiederaufbau der Stadt begann damit, dass aus den Ruinen die Kirchen wieder erstanden, die den gotischen Baustil auf höchstem Niveau repräsentieren. Manchmal entschied man sich sogar für den Aufwand einer fast vollständigen Rekonstruktion. Ein auf den ersten Blick bemerkenswerter Vorgang: die Regierung eines sozialistischen Staates, für den die Säkularisierung der Gesellschaft eine politische Priorität ersten Ranges darstellt, scheute keine Anstrengungen, aus den Ruinen Breslaus zuerst die Prunkstücke der Sakralarchitektur in voller Pracht erstehen zu lassen.
Der Sinn dieses Vorgehens wird klar, wenn man sich vergegenwärtigt, dass diese schönen gotischen Kirchen aus dem Mittelalter, dem 13. und 14. Jahrhundert stammen, aus einer Zeit also, die in der offiziellen und stark propagierten Interpretation der Geschichte als Epoche der Piasten hingestellt wurde. Als slawische, eigentlich polnische Epoche also. Die liebevoll restaurierten gotischen Kirchen Wrocławs sollten für die Einwohner und für die Welt nachdrückliche belegen, dass diese Gebiete, die damals im vollen Bewusstsein der suggestiven Kraft der Sprache als die »wiedergewonnenen« bezeichnet wurden, ursprünglich polnisch gewesen seien.
Heute, nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und dem Verschwinden Volkspolens, ist es mir ein Leichtes, darüber ein Urteil zu fällen. Aber ich versuche zu verstehen, dass damals in jenem unvorstellbar schweren Jahr 1945 und den darauf folgenden Jahren, die heutige Interpretation vielleicht zu einfach wäre. Und unwahrhaftig. Und unmöglich.
Millionen vom Krieg ausgezehrter Menschen, die aus allen Himmelsrichtungen nach Niederschlesien, ins Lebuser Land und nach Pommern kamen, denen der Krieg ihre Heimat genommen hatte, nicht nur dort, wo heute Litauen, Weißrussland und die Ukraine sind, sondern auch in Kielce oder dem damals nicht mehr existenten Warschau, brauchten ein Zeichen des Friedens. Das möchte ich nicht ironisch verstanden wissen. Denn diesen Menschen gebührt eine außerordentliche Hochachtung. Ihr Schicksal kann ich nur vergleichen mit dem ihrer mythischen Urahnen, die die biblische Sintflut überlebten. Die apokalyptische Welle des Krieges hatte sie auf unbekanntes, fremdes Land verschlagen, auf dem sie nur Ruinen, Brandstätten und überall sichtbare provisorische Gräber vorfanden. Auf diesem Friedhof sollten sie sich Heimat schaffen. Das musste man ihnen irgendwie erleichtern. Man musste ihnen sagen: seht, irgendwann sind wir schon hier gewesen. In alten Zeiten haben hier unsere Vorfahren gelebt. Sie waren es, die diese schönen Kirchen gebaut haben, welche jetzt in Trümmern liegen. Ihr könnt hier bleiben. Ihr habt das Recht dazu.
Deshalb spüre ich, dass das heutige Wrocław nicht das wiederaufgebaute frühere Breslau ist.
Fünfter Spaziergang:
»Verwehte Spuren«
Wrocław ähnelt dem früheren Breslau, wie man aus der in vielen Quartieren erhalten gebliebenen Anlage der Straßen, den rekonstruierten Gebäuden, dem Interesse für die Vergangenheit der Stadt und der sichtbaren und von den Einwohnern geteilten Wertschätzung ihrer Geschichte ersehen kann. Aber diese Wertschätzung für die endlosen Mühen vergangener Generationen ist unabhängig von deren Nationalität oder Konfession.
In den vergangenen Jahren haben wir aus der historischen Vergessenheit und manchmal sogar Ignoranz bedeutende Teile der Geschichte Breslaus und Niederschlesiens zu Tage gefördert. In den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts verstärkte und erweiterte sich das natürliche Interesse an der Vergangenheit der Stadt und der sie umgebenden Region. In zahlreichen Arbeiten von Historikern und Publizisten wurden vor allem der multinationale Charakter der Stadt und ihre multikulturelle Identität hervorgehoben. Zahlreiche Beispiele dafür liefern monumentale Publikationen der letzten Jahre, wie zum Beispiel Encyklopedia Wrocławia (Breslauer Enzyklopädie) (2000), Die Blume Europas. Breslau, Wrocław, Vratislavia. Die Geschichte einer mittelalterlichen Stadt von Norman Davies und Roger Moorhouse (2002) und auch das hervorragende Werk Die fremde Stadt. Breslau 1945 von Gregor Thum (2003).
Ich denke, dass eine solche Interpretation der Identität dieser Stadt als eines Produktes mehrerer Völker, die gemeinsam die komplexe Geschichte in diesem Teil Europas geschrieben haben, eher von Dauer sein wird als die vorübergehende Optik der politischen Korrektheit. Roswitha Schieb, die ausgiebig literarische Texte zitiert, vor allem Memoiren und Essays von Schriftstellern aus dem ehemaligen Breslau, führt vielfältige Meinungen und Beurteilungen an. Zum Beispiel schrieb der hier geborene und aufgewachsene berühmte Philosoph und Soziologe Norbert Elias 1984, das Breslau der Vorkriegszeit sei »ganz und gar« deutsch gewesen: »Ich habe dort nie ein polnisches Wort gehört.«
Willy Cohn wiederum, ebenfalls ein gebürtiger Breslauer, der 1941 von den Nationalsozialisten ermordet wurde, schrieb in seinem Tagebuch unter dem Titel Verwehte Spuren (1995) über die Stadt am Übergang zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert und betonte dabei den beträchtlichen und vielseitigen Beitrag der Breslauer Juden zu Kultur, Wissenschaft und Wohlstand der Stadt. Heute verbietet uns niemand mehr, die alten Breslauer Spuren zu suchen. Allerdings ist es nicht einfach, verwehten Spuren zu folgen. Günter Anders, ein weiterer Schriftsteller, Autor des im Literarischen Reiseführer Breslau oft zitierten Essays Besuch im Hades, stellte fest: »Das Feuer, das Breslau 1945 vernichtete, wurde 1938 gelegt: in der Kristallnacht.«
Sechster Spaziergang:
Ich sehe anders
Bei der Lektüre des Literarischen Reiseführers Breslau habe ich unter anderem über die Notwendigkeit nachgedacht, dieses Buch zu polonisieren. Polonisieren oder ins Polnische übersetzen? Die deutsche Version lesen oder eine eigene schaffen? Als Einwohner von Wrocław entkommt man einem solchen Zwiespalt nicht.
Der heutige Einwohner von Wrocław würde wohl einen eigenen, polnischen Stadtführer benötigen. Obwohl der deutsche Führer nicht nur durch die Vergangenheit führt, nicht nur das in Texten erhalten gebliebene Breslau zeigt, sondern auch das polnische literarische Schaffen nach dem Krieg berücksichtigt, ist seine Perspektive naturgemäß eine andere als unsere. Es ist die Perspektive der siebenhundertjährigen Beschreibung Breslaus in deutscher Sprache. Demgegenüber erscheint die jetzt nahezu sechzigjährige polnische Porträtierung von Wrocław – ans Ende der deutschen Perspektive gerückt – nach den Gesetzen der Optik und der Mathematik nur als kleine Episode.
Die polnische Perspektive ist optisch und psychologisch ebenso richtig. Und deshalb ist sie auch der deutschen entgegengesetzt. Im Vordergrund sehen wir diese über sechzig Jahre, die seit Ende des Zweiten Weltkrieges vergangen sind, welcher Europa stärker revolutioniert hat als irgendeine frühere Revolution. In weitem Abstand und beträchtlicher Verkleinerung tauchen aus dem Nebel der historischen Vergessenheit die Umrisse der deutschen Vergangenheit auf. Gerechterweise muss man sagen, dass die im Buch von Roswitha Schieb präsentierten literarischen Bilder dieser Vergangenheit überaus interessant und lehrreich sind. Die meisten sind dem polnischen Leser bekannt und sollten, wie ich finde, auch in einer polnischsprachigen Fassung erscheinen.
Denn möglicherweise hat Jan Fryderyk Biharowski, schlesischer Dichter der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und evangelischer Pfarrer in Lubscha und Brieg, Recht, wenn er in seinem Gedicht Ad Clarissimum et Doctissimum Authorem schreibt: »Der Deutsche und der Pole, sie sind sich wohlbekannt, / oft reichen sie einander ihr Geld und ihre Hand.«
Aus dem Polnischen von Ulrich Heiße
Der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Andrzej Zawada ist Professor an der Universität Breslau. In deutscher Sprache erschien 2005 im Dresdner Thelem Verlag sein Buch Niederschlesien, Land der Begegnung.
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