Das Erdkundebuch 5 für die zehnte Klasse Gymnasium erschien innerhalb von zehn Jahren unter zwei verschiedenen Titeln: im Jahr 1964 hieß es Deutschland, in der Neuauflage von 1974 nannte es sich verheißungsvoll Mitteleuropa. Dazwischen lagen das Jahr 1968 und Willy Brandts berühmte Geste in Warschau. Die Bundesrepublik begann sich der Nazi-Vergangenheit zu stellen. Damit einher ging aber auch das Verschwinden ganzer Regionen von der mentalen Landkarte der Nation. Mitteleuropa wurde schließlich kleiner als Deutschland. Das Erdkundebuch Deutschland von 1964 beginnt mit der Nordsee- und der Ostseeküste, weitet dann den östlichen Raum bis nach Estland aus, indem es die erdgeschichtlichen Verwerfungen des Eiszeitalters darstellt, macht mit dem Kapitel »Die deutsche Ostsiedlung« einen Abstecher in die Kolonisationsgeschichte des 13. Jahrhunderts und beschreibt bestimmte Dorf- und Siedlungstypen. Die DDR wird noch SBZ genannt und die polnischen Gebiete östlich der Oder und Neiße heißen noch Pommern, Ostpreußen und Schlesien. Natürlich, denkt der aufmerksame, mit allen Wassern der Vergangenheitsbewältigung gewaschene Leser, das sind noch die Relikte der revanchistischen Atmosphäre, wie sie die Adenauer-Ära prägte, »Pommern heute«, »Ostpreußen heute«, »Schlesien heute«, das klingt ganz nach dem Ungeist, der noch agonal und unbewältigt vor sich hintrotzt. Der aufmerksame Leser hat recht und er hat gleichzeitig unrecht. Recht hat er insofern, als dass in den Beschreibungen der einst deutschen Regionen immer noch die deutsche Überheblichkeit Polen gegenüber vorhanden ist, so in der Vorstellung einer »Kulturgrenze«, die ein Kulturgefälle meint. Aber darin erschöpft sich die Darstellung dieser Gebiete nicht. Vielmehr erfährt der Leser neben historischen Einzelheiten einiges über die Kriegszerstörungen wichtiger Städte wie Breslau, Danzig und Königsberg, über die Vertreibungsbewegung von Ost nach West, Vertreibungen also nicht nur der Deutschen, sondern auch der Polen aus Ostpolen, er erfährt etwas über die polnische (und russische) Neubesiedlung des ehemaligen Ostdeutschland und über die heutige Wirtschaftslage – und er erfährt es zum größten Teil in neutralem Ton, unterstützt von aktuellen Fotos. Vor allem: er erfährt überhaupt etwas über diese Gebiete, die ja nicht von der Erdoberfläche verschwunden waren, in denen ja die Geschichte und das Leben weitergingen, wenn auch nicht unter dem Etikett Deutschland.
Zehn Jahre später heißt das gleiche Erdkundebuch Mitteleuropa. Das klingt vielversprechend. Die bundesrepublikanische Vergangenheitsbewältigung läßt es nicht zu, daß „Deutschland“ unbefangen ausgesprochen werden kann. Zu recht wird die Nation beargwöhnt. Zuviel Schindluder ist in ihrem Namen getrieben worden, als daß nicht Brüche und Verwerfungen selbstverständlich und Abgrenzungen notwendig wären. »Mitteleuropa« scheint eine gute Lösung zu sein, eine Bezeichnung, die viele Vorstellungen freisetzt, neben Bundesrepublik und DDR vor allem Polen, Tschechoslowakei, die Westukraine, Österreich, Ungarn und Nordostitalien mit den großen Städtenamen Berlin, Warschau, Krakau, Lemberg, Prag, Wien, Budapest und Triest.
Doch der Leser sucht diese Länder, diese Städte im Erdkundebuch 5 Mitteleuropa vergeblich. Er findet darin nur Beschreibungen der Nordsee, des Rheinischen Schiefergebirges, des Ruhrgebiets, der Ville, des Hessischen Berglands, des Harzes, des Oberrheingrabens, des Schwäbisch-Fränkischen Stufenlandes, der Alpen und des Alpenvorlandes, und ganz zum Schluß noch ein bißchen DDR mit Thüringen und Sachsen und schließlich Berlin mit seinem Sonderstatus. Mit Fug und Recht könnte dieses Buch »Bundesrepublik Deutschland« heißen, aber da dieses ein politischer und kein geographischer Begriff ist, griffen die Herausgeber, indem sie Deutschland in einer verwegen-grotesken Volte ganz übersprangen, gleich auf Mitteleuropa aus, ohne daß Mitteleuropa darin vorkäme. Der Osten jenseits von Braunschweig, jedenfalls der Osten jenseits von Berlin ist tabu, nicht vorhanden, ein großer weißer Fleck.
Bloß zwei Karten werden an den Anfang des Buches gestellt, um dann, in etwas verschämter Weise, diese unliebsamen, lästigen Ostbezüge hinter sich lassen zu können: Eine Karte, die die Ostwanderung deutscher Siedler und ihre Dorf- , Kloster- und Stadtgründungen vom siebten bis zum vierzehnten Jahrhundert graphisch dokumentiert mittels Pfeilbündel von Westen nach Osten. Und sofort darauf folgt eine Karte, auf der die Pfeile von Osten nach Westen weisen und die mit einem Titel versehen ist, der in seiner zahnlosen Distanziertheit wie eine Mischung aus Völkerwanderung und Wandertag wirkt: Die Westwanderung nach dem 2. Weltkrieg. Der Kurzschluß liegt nahe und ist beabsichtigt: alle diejenigen, die im Mittelalter nach Osten gezogen waren, mußte nach 1945 den Osten wieder verlassen. Danach wurde der Osten abgespalten und mit Tabus belegt. Nicht einmal unter mitteleuropäischer Perspektive konnte er betrachtet werden. Im Gegenteil wuchs die Bundesrepublik zum Zentrum Mitteleuropas an, ja sie avancierte zum eigentlichen Mitteleuropa. Die Herkunft der Vetriebenen blieb im Dunkeln, sie kamen aus einem dubiosen Niemandsland, und nur ihre perfekte Integration in die bundesrepublikanischen Gesellschaft werden im Erdkundebuch 5 ausführlich erwähnt. Die kleine Bundesrepublik vollführte in den schiefen und ideologisch verminten Zeiten um 1974 eine antinationale Demutsgebärde und schwingt sich zugleich hochmütig zum Kern Mitteleuropas auf – Beschränkung und Etikettenschwindel zugleich, eine wirkungsmächtige Mischung. Denn die Erzeugung weißer Flecke auf der Landkarte geht immer auch einher mit der Erzeugung blinder Flecke im Gedächtnis eines Landes und im Gedächtnis des Einzelnen. Sie sind Bestandteile einer kollektiven deutschen Beschränktheit bis heute.
Aber nicht nur im Westen gab es Gedächtnislosigkeiten. Hinsichtlich Breslaus, der Stadt die hier im Mittelpunkt stehen soll, berschreibt der polnische Literaturkritker und Essayist Andrzej Zawada in seinem Essay »Bresław« – eine Mischung aus Breslau und Wrocław - die Jahrzehnte nach Kriegsende als eine Zeit der Gedächtnislosigkeit. Erst nach dem Ende des Sozialismus und der endgültigen Anerkennung der deutsch-polnischen Grenze könne seit den neunziger Jahren endlich in aller Offenheit und Freiheit von der »anstößigen Herkunft«, wie Zawada sie in Anführungszeichen nennt, der reichen böhmischen, österreichischen, deutschen, jüdischen Vergangenheit Breslaus gesprochen werden. Zawada entwirft ein Panorama des Breslauer Geistesleben und erklärt ausdrücklich zahlreiche deutsche Schriftsteller Breslaus zu seinen Vorgängern, zu den Zeugen einer kulturellen Tradition, die für ihn heute die geistige Aura der Stadt ausmachen: »Wrocław, Wratislavia, Breslau, Wrocław: Städte entwickeln sich oder gehen unter, sie wachsen oder halten inne, mitten in einer Epoche, wie wenn man mitten im Satz innehält. Im Allgemeinen verändern sie ihre Ausdehnung und ihre Architektur. In extremen Fällen ändern Städte ihre Namen, ihre Sprache, sogar ihre Bewohner. Dann kann man nur noch auf ihre nicht faßbare, dennoch unverwüstliche Aura vertrauen.«
Breslau blüht auf . Der Ring, dieser große städtische Innenraum, summt zu jeder Tageszeit von Passanten, Besuchern, Müßiggängern. Sie alle bewegen sich immer wieder in engeren oder weiteren Bögen um das Rathaus herum, dessen astronomische Uhr die Bewegung vorgibt: eine dicke goldene Sonne in der Mitte, die umkreist wird von Planeten und Monden, Sternen und Kometen, flüchtig und konstant zugleich. Wer den Breslauer Ring betritt, kann sich dem Sog nicht entziehen, wieder und wieder mitzukreisen, umgeben von kleinen und großen Wolken aus Gelächter, die aus den Biergärten aufsteigen.
Was macht heute die Aura einer Stadt aus, einer Stadt, deren Zivilisation ab 1933 zerstört und deren Substanz 1945 zu siebzig Prozent vernichtet worden ist, einer Stadt, deren deutsche Bevölkerung nach 1945 vertrieben wurde und deren neue polnische Bevölkerung zu Teilen wiederum aus Vertriebenen aus dem ehemals ostpolnischen Lemberger Gebiet bestand, einer Stadt, die während der sozialistischen Ära ideologischen Verrenkungen und Tabus auch bezüglich der deutschen Vergangenheit unterworfen war? Zunächst einmal erstrahlt diese Stadt heute in einem Glanz, der von der Freude der Bewohner über das wiedererstandene schöne Breslau kündet. Allerorten wird renoviert, ausgebessert, vergoldet, als wollte die Stadt wieder anknüpfen an ihren mittelalterlichen Beinamen »guldein Bistum«, das goldene Bistum. Seit 1990 kann Breslau in zunehmendem Maße als komplexes historisches Gebilde in der polnischen Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Der Prozeß der Akkulturation, also die kulturelle Anverwandlung der deutschen, preußischen, österreichischen und böhmischen Vergangenheit, ist in Breslau in vollem Gange – und nicht etwa, weil es erzwungen oder verordnet worden wäre, sondern aus einem genuinen Interesse der Bewohner an ihrer Stadt heraus. Dadurch knüpft Breslau wieder an eine Mentalität an, die die Stadt bis ins ausgehende 19. Jahrhundert, bis zu den Verengungen durch den Nationalismus, prägte: an die Mentalität der Vielfalt und Weltoffenheit, wie sie zu einer alten Handelsstadt gehört.
Was macht die Aura dieser Stadt aus? Läßt sie sich aus der Distanz wahrnehmen, in einem distanzierten Blick aus der Ferne, aus der Höhe, wie er sich in Stadtbeschreibungen von Gustav Freytag, Eichendorff, Gerhart Hauptmann findet? Vom hohen Turm der Elisabethkirche breitet sich Breslau zu unseren Füßen aus, ein reicher architektonischer Teppich, der an den Rändern mit der Landschaft verknüpft ist. Flach und grün ist die Landschaft um Breslau, nur der Zobten, einstmals der heilige Berg der Schlesier, erhebt sich im Südwesten, in der Barockzeit als »schlesischer Parnaß« besungen, auf dem viele große Namen der deutschen Literatur einen bleibenden Platz fanden, Martin Opitz, Andreas Gryphius, Christian Hofmann von Hofmannswaldau, Daniel Caspar von Lohenstein, Daniel Czepko von Reigersfeld und Angelus Silesius.
Doch vor dem Zobten türmen sich Gebirge anderer Art auf, die weißgestaffelten Silhouetten der Satellitenstädte, die Breslau wie einen Cordon umgeben, Zeugnisse der Wohnungsnot einer sprunghaft anwachsenden Bevölkerung nach dem Krieg, vom heutigen Bürger Breslaus Tadeusz Różewicz als »Gebärunterschlupf für die Massen« bezeichnet. Weiter schweift unser Blick zum verzweigten Geäder der Oder, in der kleine grüne und große bunte Inseln schwimmen, Inseln, von denen Türme aufragen, stumpfe und spitze Kirchtürme, Domtürme, die uns auch heute noch verraten, daß sich hier die Keimzelle Breslaus befand, daß von hier aus der Teppich der Stadt geknüpft wurde, eine Kirchenstadt, das weltabgewandte Zentrum der katholischen Welt, vor Hitze flirrend im Sommer, entrückt durch das Odereis im Winter. Wir lassen unseren Blick über die Stadt kreisen. Unsichtbar bleibt die Glas-Beton-Konstruktion der Jahrhunderthalle im Osten, statt dessen aber verfolgen wir mit den Augen ein grünes Band, das die engere Stadt umgibt, die Stadtgrabenpromenade, ein Spazierweg unter hohen alten Bäumen, der die unter Napoleon geschleifte Stadtbefestigung anzeigt. Und innerhalb des grünen Bandes verläuft noch eine weitere ringförmige Anlage, die um den Stadtkern herumgelegt ist, heute eine breite, geschwungene Verkehrsader, im 19. Jahrhundert aber der Verlauf des Flüßchens Ohle, damals umbaut von finsteren, verwinkelten Häuserreihen, die Gustav Freytag in Dickensscher Schauermanier zu einem der Schauplätze seines Breslau-Romans »Soll und Haben« machte. Hier befand sich das traditionelle jüdische Breslau, von dem noch eine Synagoge zeugt und die alten Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof.
Wieder lassen wir unsern Blick über die Stadt kreisen, sehen die Universität mit dem astronomischen Turm und der Universitätskirche liegen, ein strahlendes Ensemble des österreichischen Jesuitenbarock, eine großartige Kulisse für die Feier der aufblühenden Stadt, für die Wissenschaften, die soeben ihr dreihundertjähriges Bestehen begehen. Und direkt unter uns schauen wir auf das Zentrum des Teppichs, den Stadtkern mit seiner schachbrettförmige Anlage der Straßen und den viereckigen Plätzen, wie sie allen schlesischen Kolonistenstädten des Mittelalters eignet, eine Anlage, die vom sachlichen Geschäftssinn ihrer Bürger zeugt, von den Nützlichkeitserwägungen der Märkte, und doch ist nicht allein die Nüchternheit bestimmend, sondern auch, wenn wir über die hohen, spitzen Dächer, die verschnörkelten Giebel, die dunkelroten Backsteinfassaden schauen, das undurchdringliche Dickicht der Vergangenheit voller komplizierter Gemengelagen.
Breslau mit seiner Architektur, mit seiner Literatur, mit allem Vorgefundene war den neuen polnischen Bewohnern nach 1945 fremd. Ebenso wurde Breslau seinen ehemaligen Bewohnern fremd. Hinsichtlich der Innen- und Außenwahrnehmung der Stadt, also der vertrauten Innenwahrnehmung der Erinnerung und der vollkommen davon abweichenden Außenwahrnehmung, spielt das Buch von Günther Anders »Besuch im Hades« eine zentrale Rolle. Günther Anders gehört zu den Intellektuellen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bzw. um 1900 in Breslau geboren wurden, die alle dem assimilierten jüdischen Bürgertum enstammen: neben dem Philosophen Günther Anders auch Ernst Cassirer, der Soziologe Norbert Elias, die Philosophin und Ordensfrau Edith Stein, der Schriftsteller Emil Ludwig, der Theaterkritiker Alfred Kerr und der Physiker und Nobelpreisträger Max Born. Günther Anders gelingt es, auf der Folie des zerstörten bzw. im Wiederaufbau begriffenen Breslau von 1966 seine Kindheits- und Jugenderinnerungen an das wilhelminische, jüdisch-assimilierte Breslau um 1910 auf reflektierte, aber oft zugleich durch die Erfahrung des Holocaust geprägte emotionale Weise zu beschreiben.
»Um der Behauptung, daß das hier die Hohenzollernstraße sein soll, Glauben zu schenken, dazu gehört wahrhaftig mehr als alltägliches Gottvertrauen. Schließlich hatte sich die Straße damals aus gutbürgerlichen, zum großen Teile sogar aus hoch- und höchstherrschaftlichen fünf- und sechsstöckigen Häusern zusammengesetzt, Stil Berlin-Kurfürstendamm, aus Häusern mit schweren schmiedeeisernen und pneumatischen Haustoren, die wir Kinder, wenn wir aus der Schule kamen, nur dadurch öffnen konnten, daß wir, die Ranzen als Puffer benutzend, unsere Körper mit ganzem Gewicht gegen sie anwarfen. Und aus den Häuserfronten waren damals Balkons gequollen, die, damit sie nicht in die Tiefe stürzten, von ungeheuren Muskelprotzen auf himmelwärts gedrehten Handtellern getragen wurden, von pseudobarocken Herkulessen. (..) Diese Herkulesse waren die genii loci, die Dämonen der Hohenzollernstraße gewesen, sie hatten der Straße ihren Charakter gegeben, in ihnen hatte ich sogar ursprünglich die ‚Hohenzollern’ gesehen, nach denen diese stolze Allee geheißen hatte. – Und das hier soll diese Straße sein? Das hier? Wo es nicht nur keine quellenden Balkons gibt, und nicht nur keine schmiedeeisernen pneumatischen Tore, und nicht nur keine Herkulesse aus dem Hohenzollerngeschlecht, sondern noch nicht einmal die geringsten Substrate dafür, noch nicht einmal das mindeste, was man als ein ‚Haus’, gar als ‚Häuser’ bezeichnen könnte? Sondern nur Baustellen, und hier und da eine Schaufelmaschine, die möglicherweise dazu bestimmt sein könnte, künftige Keller auszuheben! (..) Hohenzollernstraße 20. Sanft zieht der Juliwind durch das Portal des Hauses – denn ein Portal ist nicht da, und ein Haus ebensowenig. Warm strahlt die Julisonne durch den Schatten des Hausflurs – denn ein Schatten ist nicht da, und ein Hausflur ebensowenig. Statt dessen breitet sich vor mir dasjenige aus, was sich vermutlich ausgebreitet hatte, ehe das Intermezzo, das »Geschichte« geheißen hatte, angehoben hatte, also ehe es hier eine Stadt mit Straßen und Pflaster und Häusern und Aufzügen gegeben hatte: nämlich ein Feld mit Gras und Klee und Mohn. Wo ich mich 1915 mit dem Ranzen gegen das pneumatische Eisentor geworfen hatte, um dann auf teppichbelegten Stufen (‚nur für Herrschaften, Betteln und Hausieren verboten!’) zum zweiten Stock hinaufzusteigen, 1915, voll von unseren Siegen über viel Feind viel Ehr, in die Siebenzimmerwohnung mit Wasser, Gas, elektrischem Licht, zwei Balkons und allem Zubehör – an dieser Stelle bücke ich mich nun nach zwei Mohnblumen.«
Umgekehrt erzählt heute ein polnischer Germanist, ein Doktorand, der in Breslau aufgewachsen ist, daß er bis zu seinem sechzehnten, siebzehnten Lebensjahr ein ganz ungebrochenes, heimatliches Verhältnis zu seiner Stadt gehabt habe, daß ihm dann aber Breslau mit seiner Architektur und Geschichte plötzlich fremd geworden sei. Es habe des Oderhochwassers im Jahr 1997 bedurft, um im Kampf gegen die Wasserfluten mit Sandsäcken und Dämmen sich der Stadt, zumindestens Teilen derselben, durch den konkreten, materiellen, geradezu haptischen Kontakt anzunähern, sie sich zu eigen zu machen.
Andere polnische Germanistikstudenten, die ein Seminar über Breslau als Literaturstadt abhielten, lasen eine Erzählung von Paul Barsch aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert, in denen die Gegend nordöstlich der Dominsel als furchteinflößende Verbrechergegend geschildert wird. Voller Freude waren sie über ihre Entdeckung, daß in diesem Viertel auch heute finster wirkende Gestalten herumstanden. Über diese nur an einen Stadtteil, an Straßenzüge, nicht aber an die Menschen gebundene Kontinuität, über diesen – wenngleich auch negativen – genius loci gerieten die Studenten geradezu in Begeisterung. An der nächsten Ecke jedoch wurden sie schon wieder mit der Fremdheit konfrontiert, als sie sich die Schule, auf die Edith Stein gegangen war, anschauten. Da riefen nämlich zwei Mädchen aus einem benachbarten Fenster »Niemcy, niemcy!«, also »Deutsche! Deutsche!« auf die polnische Gruppe herab, was bei den Studenten Lächeln und Irritation gleichermaßen auslöste, Irritation darüber, für deutsche Heimwehtouristen oder Stadtarchäologen, in jedem Falle aber in der eigenen Stadt von den eigenen Landsleuten für Fremde gehalten zu werden.
Auf dem Matthiasplatz angelangt stellte sich einer der Studenten auf ein Mäuerchen und rezitierte das Gedicht von Max Herrmann-Neiße, »Winternacht«, in dem dieser Platz Erwähnung findet. Der Student mochte das Gedicht. Er rezitierte das Gedicht in polnischer Übersetzung, klar und doch inbrünstig. Ein anderer flüsterte: »Das ist das beste Gedicht über Breslau.« Die Stimmung verdichtete sich und steckte voller Begeisterung. Wie Detektive eroberten sich die polnischen Germanistikstudenten ihre Stadt. Hier sprang mich genuines Interesse an, jenseits aller beschwörenden Sonntagsreden. Der Matthiasplatz jedenfalls ist mir nun nicht mehr fremd.
Und wieder treten wir auf der Suche nach der Aura der Stadt auf den Ring und kreisen mit all den anderen Passanten, Besuchern, Müßiggängern langsam um das Rathaus. Der Ring summt von den Stimmen der jungen Mädchen und der Burschen, der gesetzten Damen und der honorigen Mitteleuropäer, der Busgruppen, der Kinder und der Kleriker, ein angenehmes städtisches Summen. Und die kreisende Bewegung um das Rathaus hat nichts von der Hektik und Hetze unserer Einkaufszonen, sondern sie ist eine Bewegung, die sich selbst genügt, kraftvoll und meditativ zugleich. Jeder kann mitkreisen und sich präsentieren, jeder kann stehenbleiben und der Musik zuhören, die an vielen Stellen des Rings life gespielt wird, Jazz und Volksmusik, Operngesang und psychodelische Klänge, überall kann er sich setzen und schauen, wie sich die anderen Passanten zeigen, bewegen, lachen. Und er kann vor dem schönsten Haus am Ring stehenbleiben, vor dem »Haus zur Goldenen Sonne«, die ihm von der Gesimskante entgegenstrahlt, und in diesem Haus, in dem die Herrscher aus Böhmen und Habsburg nächtigten, wenn sie Breslau besuchten, und in dem sich der schönste Rokokosaal der Stadt befindet, ist heute nicht nur die Ossolineum-Buchhandlung untergebracht, die besonders Literatur über das ehemalige Ostpolen und Lemberg vertreibt, sondern auch das große Stadtmodell der Stadt Lemberg, das die von dort vertriebenen Polen nach Breslau mitbrachten als eine sichtbare eigene Wurzel. Mittlerweile sind die polnischen Breslauer im Begriff, sich das Fremde ihrer Stadt, die vorgefundene Kultur, die andere Geschichte mit ihren Verwerfungen, anzuverwandeln. Aber vielleicht ist es ja gerade die ostpolnische Unterströmung, die den Breslauer Ring mit einer besonders heiteren, leichten, schwebenden Atmosphäre erfüllt, eine Atmosphäre ähnlich der, die Józef Wittlin in seinen Erinnerungen an den Lemberger Flanierboulevard um 1922 beschwört: »und so ohne Unterlaß: voran und zurück, voran und zurück bis ins Unendliche, bis ans Ende aller Tage.«
- »Last & Lost«
Unterwegs durch ein verschwindendes Europa